Tag 749: Die Chaos-Oma – Teil 1

von Heiko Gärtner
21.01.2016 17:30 Uhr

Wenn wir geglaubt hatten, unsere Caritas-Station hätte bereits am höchsten Punkt der Stadt gelegen, dann hatten wir uns geschnitten. Die Straßen führten weiterhin fast genauso steil nach oben, wie am Vortag und der Ausweg aus der Stadt befand sich erst oberhalb des letzten Hauses. Dann aber ging es erst einmal ganz gemächlich weiter, bis wir die Stadt erreichten, die unser Tagesziel darstellte. Die Straße lag hier auf etwa 400 Höhenmetern und führte direkt an der Stadt vorbei. Die Stadt selbst lag jedoch rund 150m Höher, also direkt über unseren Köpfen. Um sie zu erreichen mussten wir fast senkrecht nach oben steigen und ich hatte mehr als einmal das Gefühl, dass ich einfach nach hinten überkippen würde.

Um wieder einigermaßen zu Atem zu kommen machten wir eine kleine Pause auf einem Platz namens „Piazza dell’Emigrante“ also Platz der Zugereisten. Irgendwie passend, fanden wir. Außer uns saß noch ein älteres Pärchen auf dem Platz, das sich leise unterhielt. Oberhalb an einem Geländer, das den Platz vom Fußweg abgrenzte, stand ein Mann in einer Bomberjacke, der versuchte, sich aufzuplustern wie ein Hahn zur Paarungszeit. Seine Aufgabe war es, von so vielen Menschen wie möglich gesehen zu werden. Etwa jeder dritte Autofahrer, der an ihm vorbeifuhr, hupte ihn an, worauf er mit lässigem Gesichtsausdruck zurückwinkte. Hin und wieder blieb sogar mal ein Wagen mitten auf der Straße stehen. Dann ging er zu ihm hinüber, tauschte mit dem Fahrer ein wenig Smalltalk aus und ging zurück in seine Ausgangsposition. Während des Gesprächs hupten dann natürlich alle anderen Autos, nicht zum Gruß, sondern weil sie weiterfahren wollten. Im Hintergrund bellten ein paar Hunde, eine Flex durchtrennte ein paar Stahlträger von irgendeinem Gebäude und ein Presslufthammer entfernte ein Stück Straße. Ein ganz normaler Platz also, an dem sich der typische Italiener die Wintersonne ins Gesicht scheinen lässt und mal wieder so richtig ausspannt.

Die Kirche war nur wenige Meter entfernt und ihr Eingang befand sich unglücklicherweise genau an dem Punkt, den wir als Hauptquelle der Störgeräusche ausmachen konnten. Der Pfarrer trieb sich irgendwo in der Weltgeschichte herum und da sein Gehilfe uns weder selbst helfen noch uns seine Nummer geben wollte, musste ich mich wieder auf eine längere Runde durch die Stadt machen.

Um dem Lärm zumindest ein bisschen entkommen zu können, zog sich Heiko solange in die Kirche zurück. Das Haus Gottes sollte neben Bibliotheken noch eine der letzten Ruheoasen sein, die man in so lauten Städten findet. Zumindest könnte man das meinen. Ganz so war es dann letztlich wohl doch nicht.

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Einige Minuten lag saß Heiko als einziger Gast auf einer der Kirchenbänke und las in einem seiner Bücher. Dann plötzlich flog hinter ihm die Tür auf und eine kleine, weißhaarige Frau stürmte herein. Sie musste so um die 80 sein, war knapp eineinhalb Meter groß und trug weißgraues Kleid sowie eine tiefblaue Stoffdecke, die sie sich um die Schultern gelegt hatte. Aus vollem Hals begann sie zu Beten, so als befürchte sie, dass die komplette himmlische Familie unter akuter Schwerhörigkeit leide. „Ave Maria, gebenedeit seiest du unter den Heiligen...“ oder so etwas in der Art, rief sie und breitete dabei die Arme aus, als wolle sie eine ganze Fangemeinde segnen.

Auf jeder Seite des Kirchenschiffes hingen Bilder von Jesus, Maria und anderen wichtigen Menschen aus der Kirchengeschichte. Dazwischen standen Statuen von San Francesco und weiteren Heiligen. Beide, sowohl die Bilder als auch die Statuen wurden nun Opfer der überschwänglichen Gotteszuneigung jener alten Dame. Laut betend ging sie von Bild zu Bild und von Statue zu Statue. Dabei bekreuzigte sie sich vor jedem und knutschte die wehrlosen Heiligen anschließend mit schmatzenden Küssen ab. Vor lauter Heiligkeit vergaß sie vollkommen ihre Füße zu heben und schlurfte daher über den Fußboden als wollte sie ihn wienern. Einen Moment lang überlegte Heiko, ob er vielleicht etwas sagen und die offensichtlich verwirrte Dame um Ruhe bitten sollte, doch er war von ihrem Schauspiel so fasziniert, dass er sich entschloss, die Show einfach zu genießen.

Die Dame hatte nun den vorderen Bereich der Kirche erreicht und befand sich in unmittelbarer Nähe zum Altar. Hier stand eine große hölzerne Statue der Maria mit einem langen Rosenkranz um den Hals. Auf sie hatte die Frau es ganz besonders abgesehen. Sie war so aufgeregt, der Maria nun endlich nahekommen zu können, dass sie nicht bemerkte, wie sich ihr Rock in einer langen Kerze verfing. Einen Moment lang leistete die Kerze Widerstand, dann brach sie ab und landete mit einem hallenden Poltern auf dem Boden. Erschrocken schaute die Dame auf das Ergebnis ihres Missgeschickes. Vor lauter Verlegenheit vergaß sie sogar einen Moment lang, ihre Gebete hinauszuposaunen. Dann fasste sie sich wieder, hob die Kerze auf, sah sich vorsichtig um, um sicher zu gehen, dass sie nicht beobachtet wurde und warf die Kerze hinter den Altar. Dabei verfing sich ihr Rock jedoch in einer weiteren Kerze. Dieses Mal aber war sie schlauer. Sie löste sich aus der Umklammerung der Kerze, trat einen Schritt zurück und hatte sich sofort ein drittes Mal verfangen. Heiko schaute sich noch einmal in der Kirche um. Bereits beim Eintreten hatte er sich gefragt, warum ein Großteil der Kerzen so schief hing und warum so viele von ihnen abgeknickt oder gebrochen waren. Dies schien wohl die Antwort zu sein.

Nachdem sich die Frau ein viertes Mal in einer Kerze verfangen und auch diese abgeknickt hatte, war sie nun endlich bereit, der Maria gegenüberzutreten. Sie umarmte sie, knutschte sie mehrmals ab und leckte ihr sogar über den Bauch. Dann wollte sie den Rosenkranz befühlen, der um den Hals der Heiligenfigur hing. Leider war sie etwas zu klein, so dass sie ihn nur mit den Fingerspitzen erreichte. Sie hüpfte wie ein kleines Känguru erwischte den Rosenkranz und umklammerte ihn fest mit der Hand. Sie musste sich nun auf die Zehenspitzen stellen, riss dabei aber so fest an der Kette, dass sie die Statue beinahe vom Sockel gezerrt hätte.

„Ave Maria salvate e spiritu santu...“ rief sie dabei aus vollem Hals. Dann wandte sie sich ab und ging weiter zum Altar. Oben auf dem Altar stand ein Kelch, der für die Zelebration des Leibes Christi benutzt wurde. Der Gerechtigkeit wegen musste natürlich auch dieser geknutscht und gesegnet werden, doch wieder stand das kleine Persönchen vor dem Problem, dass sie nicht an ihn heran kam. Doch als fromme Christin hatte sie für derartige Probleme natürlich eine Lösung parat. Kurzerhand krabbelte sie auf den Altar, zog den Kelch zu sich heran, küsste ihn und schleckte ihn ab. Jetzt wo sie schon einmal hier oben war, gab es natürlich noch mehr Reliquien, die geküsst werden wollten. Also riss sie als erstes das Kreuz aus der Verankerung, schwenkte es durch die Gegend, bis Jesus bereits ganz grün wurde, weil ihm so schwindelig war und schleckte es dann ab, als wäre es ein Eis am Stiel. Heiko schlug sich mit der Hand an den Kopf. Das konnte sie doch nicht machen! Rumschreien, die heilige Stille durchbrechen, die Marienstatue erwürgen und die Kerzen abbrechen war ja schon mehr als genug des Guten gewesen, doch nun auch noch den Altar zerstören? Die Frau war nun vom Schlecken zum Küssen übergegangen und versuchte dann das Kreuz notdürftig wieder in seine Halterung zu basteln.

Dann krabbelte sie wieder auf den Boden und leckte mit der Zunge über die steinerne Tischplatte des Altars. Dieser Teil ihrer Segnung war damit abgeschlossen, jetzt war es zeit, sich einen Platz zu suchen und von dort aus ihre Gebete zu sprechen.

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Abgesehen von Heiko und der seltsamen Frau war die Kirche vollkommen leer. Sie hätte sich also jeden beliebigen Platz auswählen können, um sich hinzusetzten. Doch das tat sie nicht. Sie ging zielstrebig auf die Sitzreihe zu, in der sich Heiko befand und setzte sich direkt neben ihn. Für einen Moment glaubte er, dass sich der Spuk damit erledigt hatte und wollte sich schon wieder seinem Buch zu wenden. Doch eher er auch nur eine Chance hatte den Blick zu senken, sprang die Frau wieder auf, breitete die Arme aus als sei sie Jesus am Kreuz höchst persönlich und begann erneut lauthals zu Beten und zu predigen.

„En nomi di padre, di filio e di spiritu santo...“ verkündete sie und schlug Heiko ihre ausgestreckte Hand dabei fast ins Gesicht. Langsam kam Heiko die Sache nun doch etwas übertrieben vor und er beschloss die Dame vorsichtig um Ruhe zu bitten.

„Pssst!“ machte er und hielt sich dabei den Finger an den Mund.

Doch die Frau blieb vollkommen ungerührt und machte einfach weiter.

„PSSSSSST!“ zischte Heiko erneut, dieses Mal jedoch ein bisschen lauter als zuvor.

Wieder wurde er ignoriert und die Frau verkündete ihre Botschaft an den Herren weiter in einer Lautstärke die er oben auf seiner Wolke sicherlich immer noch als unangenehm empfand.

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PSSSSSSSSSSSST!“ widerholte Heiko, dieses Mal bereits mit einem ärgerlichen Unterton und einem gewissen Nachdruck. Das Ergebnis blieb das gleiche.

„Kruzifix! Jetzt reicht’s aber mal!“ platzte es nun aus ihm heraus. Als er merkte, dass die Frau noch immer unbekümmert weiter machte, fügte er ein grimmiges „Silencio!“ hinzu.

Er kam sich langsam vor wie ein Bibliothekar, der eine Horde Grundschüler beaufsichtigen musste. Die Frau behandelte ihn als wäre er Luft. Einen Moment hielt er sich noch zurück, dann Platze ihm der Kragen und er schlug mit der flachen Hand auf die Kirchenbank.

„Gottverdammtnocheins, das hier ist eine Kirche! Da kann man doch wohl ein bisschen Ruhe erwarten!“ schrie er die Frau an. Doch sie nahm noch immer keine Notiz von ihm. Sein Zorn verwandelte sich allmählich in Erheiterung über die grandiose Ignoranz dieser Frau. Sie hatte nicht einmal gezuckt, als der Schlag durch die Kirchenhalle gedonnert war. Vorsichtig hob er die Hand und wedelte damit vor dem Gesicht der Frau herum, um herauszufinden, ob sie überhaupt irgendeine Art von Reaktion zeigte. Sie drehte kurz den Kopf in seine Richtung, schaute ihn mürrisch an und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Gebete.

Alles Klar!’ dachte sich Heiko im Stillen. ‚So komme ich hier nicht weiter! Ich schätze ich brauche einen Plan B.’

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Und da sagt man, die Kirche sei ein Ort der Stille...

Höhenmeter: 530 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 13.305,27 km

Wetter: kalt, teils wolkig, teils sonnig

Etappenziel: Privatwohnung von Vincenzo, 87010 Saracena, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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