Tag 774: Verlaufen

von Heiko Gärtner
13.02.2016 02:39 Uhr

13.01.

Eigentlich hätte es heute eine kurze und entspannte Etappe werden sollen, doch irgendwo in der Mitte mussten wir falsch abgebogen sein und waren dadurch in einem langgezogenen Tal gelandet, in das wir nie hatten gelangen wollen. Theoretisch war das Tal zum Wandern natürlich angenehmer als die vielen Berge, doch man hatte sich wieder einmal alle Mühe gegeben, es so gut wie möglich zu verschandeln. Nebeneinander lagen hier die Zuglinie, die Autobahn und eine Schnellstraße. Letztere war gleichzeitig auch die einzige Straße, auf der man wandern konnte. Direkt neben der Autobahn lag eine kleine Betonkirche, die trotz ihrer guten Verkehrsanbindung aus irgendeinem Grund sehr stievmütterlich behandelt wurde. Daneben standen aber tatsächlich ein paar Häuser, von denen eines von Nonnen bewohnt wurde. Was um alles in der Welt die Nonnen und die anderen Anwohner dazu brachte, genau hier an diesem Ort zu leben, blieb uns ein Rätsel. Uns jedenfalls schaffte das Schicksal auf schnellstem Wege wieder von hier fort. Der Pfarrer, mit dem wir ein kurzes Telefongespräch führten, bat uns lediglich ein Kloster an, das 20km entfernt lag. Also zogen wir zurück in die Berge. Eine fiese Ladung Gegenwind und eine ordentliche Steigung später erreichten wir ein Nest namens Sartano. Hier gab es eine moderne Kirche, die gleich von zwei Pfarrern und einem Pfarrerslehrling betreut wurde. Letzterer studierte in London und machte hier gerade ein Praxisjahr. Er und sein Mentor organisierten uns einen Platz in einem verwahrlosten Raum, der normalerweise von Pfadfindern genutzt wurde. Zum Mittag- und Abendessen wurden wir von den beiden zu sich nach Hause eingeladen. Beide waren nette und freundliche Jungs, die jedoch ein bisschen lebensfremd zu sein schienen. Der Jüngere war ein Vollblut-Philosoph, der das Studieren über alles liebte, sich außerhalb der Uni jedoch nur schwer zurecht fand. Ein bisschen weniger Steifheit und ein bisschen mehr Humor hätten ihm sicher nicht geschadet. Sein columbianischer Kollege war da aus anderem Holz geschnitzt. Er war ein lässiger Zeitgenosse, der gerne mit seinen Kumpels abhing und sich das Leben so gemütlich wie möglich machte. Wie die beiden es auf so engem Raum miteinander aushielten, ohne aneinander zu verzweifeln, war beeindruckend. Beide waren von ihrem Bischof hierher versetzt worden und hatten selbst keinen Einfluss auf ihre Ortswahl gehabt. Ihre offizielle Aufgabe lautete Missionierungsarbeit zu tätigen. Doch das war in dieser Gegend nicht so einfach. Katholisch war ohnehin schon jeder, zumindest auf dem Papier. Um darüber hinaus den Geist des Christentums wieder in den Menschen zu erwecken brauchte man entweder einen eigenen, wirklich tiefen Glauben, aus dem heraus man handeln konnte, oder aber gute Marketingstrategien. Beides schien nicht ganz so ihr Ding zu sein. Piedro, der Jüngere, erzählte uns, dass heute nicht einmal mehr die Kinder zum Kommunionsunterricht erschienen. Die kleinen schon, aber die großen blieben meist fern. Erst heute hatten sie in der Schule einen Gastauftritt gehabt, um die Kinder zu motivieren, doch Piedro war skeptisch, was den Erfolg anbelangte.

Zum Mittagessen wurden wir vom columbianischen Pfarrer bekocht. Es gab Nudeln á la Carbonara und man musste sagen, dass der Mann den Dreh dafür vollkommen raus hatte. Es waren die besten Nudeln die wir hier in Italien überhaupt gegessen hatten. Und das von einem Columbianer...

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Bei unseren Erzählungen kamen wir irgendwann auch auf Medjugorje und erzählten von den Geschichten über den Exorzismus, die wir dort gehört oder später von anderen Pfarrern erzählt bekommen hatten. Beide erschraken zutiefst, als sie davon hörten, was sonderbar ist, wenn man bedenkt, wie sehr dieses Thema hier teilweise zur Normalität gehört. Beim Abendessen in einer Pizzeria erzählte uns der Pfarrer ein bisschen über die Lage in Columbien und die Macht der Drogenmafia, die dort regierte. Spannend war dabei, dass auch er der Meinung war, dass die offiziellen Zahlen über den Drogenexport weit nach unten gedrückt wurden. Jährlich mussten es Millionen von Tonnen sein, die hier in alle Welt verschifft wurden. Wenn eine Drogenrazia an der Grenze einmal ein paar hundert Kilo davon einkassieren konnte, dann war das im Verhältnis mehr als nur lächerlich. Später erzählte er dann noch von seiner Zeit, die er in Camerun verbracht hatte. Von den Einheimischen hatte er damals den Spitznamen "Le blanc" bekommen, was übersetzt "Der Weiße" heißt. Noch immer konnte er kaum begreifen, dass man ihn damals so genannt hatte, wo er als Columbianer alles andere als Hellhäutig war. Sogar seine Haare hatten sie damals Hell genannt und dass obwohl sie komplett schwarz waren. Doch alles ist eben relativ. Es kommt immer darauf an, mit wem man es vergleicht.

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14.01.

Noch ehe wir richtig wach waren, klopfte es schon an unsere Tür. Die beiden Pfarrer und zwei weitere Männer standen auf dem Platz und schauten mich erwahrtungsvoll an, als ich in langer Unterhose und mit verschlafenem Blick auf der Türschwelle erschien.

"Fünf Minuten?" fragte der Pfarrer und grinste.

Ich nickte und verschwand wieder im Inneren. Als wir einigermaßen zusammengepackt hatten, kamen sie herein und brachten uns drei riesige Tüten mit Essen und einen Sechserträger Wasser mit. Wir wussten nicht sorecht, wie wir damit umgehen sollten, denn es war mega lieb gemeint, aber auch vollkommen übertrieben. Was sollten wir mit neun Litern Wasser anfangen? Dazu mit jeweils fünf Kilo Mandarinen, Birnen und Kiwis? Oder mit den vier Packungen Keksen und Toastbrot? Wenn man alle Thunfischdosen zusammenrechnete, dann kamen wir bestimmt am Ende auf einen kompletten Thunfisch, den wir nun mit auf den Berg tragen sollten. Heiko entdeckte einen Kassenzettel in einer der Tüten, der verriet, dass alles in allem rund 60€ gekostet hatte. Mit dem Essen von gestern hatte der Pfarrer also bereits fast 100€ für uns ausgegeben. Als er sah, dass einer meiner Gurtspanner kaputt war, schickte er seinen Kumpel los, um uns einen neuen zu kaufen und ließ dabei gleich auch noch drei Gas-Katuschen für unseren Kocher mitbringen. Drei Stück! Eine wäre ja in Ordnung gewesen, aber gleich drei? Es war so unglaublich nett, von den Jungs, dass wir kaum etwas ablehnen konnten. Ein junger Pfarrer, den wir am Abend trafen beschrieb es recht treffend: "Die Menschen hier brauchen lange, bis sie auftauen, aber wenn es einmal soweit ist, dann schenken sie einem ihr Herz und machen alles für einen." Wenn sie doch nur ein bisschen Maß halten könnten. Trotz all dieser Geschenke bekamen wir am Ende dann sogar noch einen Umschlag, der fünfzig Euro enthielt. Noch reicher hätte ein Tag kaum beginnen können, ohne dass wir dabei zerplatzt wären.

Heiko büßte die Großzügigkeit unserer Gastgeber jedoch schon bald, denn es ging ununterbrochen bergauf und bergab. Der Wagen schob und zerrte unter der Last, vor allem, weil viele der Strecken ohnehin schon so steil waren, dass man sie auch ohne Gepäck kaum bewältigen konnte. Unsere Zielortschaft wurde schon früh sichtbar, wirkte aber unerreichbar. Sie thronte hoch über uns auf dem Gipfel eines Berges. Dahinter zeichnete sich das wirklich hohe Gebirge ab, dass wir in den kommenden Tagen durchqueren müssen. Auf den Gipfeln lag Schnee! Wir konnten es nicht glauben. Hier, am südlichsten Punkt in Italien lag die Schneegrenze wirklich bei unter hundert Metern, wärend in Deutschland und Südtirol nicht einmal ein Hauch von Puderzucker zu finden war.

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Zum Übernachten wurden wir wieder von einer Priesterschule aufgenommen. Rund zehn Schüler wurden hier ausgebildet, die alle mit uns gemeinsam zum Mittag aßen. Am Kopf des Tisches saß der Bischof, ein alter, grauhaariger Mann, der dem Treiben der Jungen weitgehend schweigend zuschaute. Irgendwie hätten wir erwartet, dass es disziplinierter zuging, wenn ein Bischof anwesend war, doch offensichtlich bedeutete das hier nicht allzu viel.

Spannend war jedoch, wie jung die Schüler ware, die hier zu Pfarrern ausgebildet wurden. Viele von ihnen waren noch Kinder oder zumindest junge Teenager, von denen man sich kaum vorstellen konnte, dass sie wirklich einmal Pfarrer werden sollten. Auffällig war, dass viele unter ihnen waren, die man als Nerds einsortieren würde, wenn man gezwungen wäre, sie nach einem kurzen Blick in eine beliebige Schublade zu stecken. Es waren die Jungs, die auf dem Schulhof von anderen geärgert wurden und denen es schwer fiel Freundschaften zu knüpfen.

Spruch des Tages: Es gibt nur drei Worte, die auf allen Sprachen gleich sind: Amen, Halleluja und Coca Cola. (Professor von Piedro im Priesterseminar)

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 13.752,27 km

Wetter: kalt, windig, regnerisch

Etappenziel: Gemeindehaus der Stadt, 71020 Faeto, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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