Der Gecko an der Wand

von Heiko Gärtner
13.02.2016 02:27 Uhr

10.01.2016

Vorsichtig schaute uns der kleine, braunweiß gefleckte Hund aus der Entfernung an. Er hockte auf der Straße und wir saßen auf der Türschwelle zur Kirche. Kurz zuvor hatten wir in einer kleinen Bergortschaft einen Pfarrer getroffen, der uns hier hergelotst hatte. Er musste noch seine Messe beenden und wollte dann nachkommen, um uns die Tür aufzuschließen. So lange mussten wir hier warten. Auch der Hund wartete, obwohl er kein wirkliches Ziel hatte, auf dass er warten konnte. Er schien schon oft verprügelt worden zu sein, denn er schaute nur ganz ängstlich zu uns herüber und traute sich keinen Schritt an uns heran. Heiko lockte ihn immer wieder und sprach ihm etwas Mut zu. Langsam fasste er vertrauen und vorsichtig schlich er mal ein paar Meter vor und dann wieder einige zurück. Schließlich kam er sogar in Streichelreichweite und begann unsere Hände abzuschlecken. Zuvor hatten wir kleine Cupcakes gegessen, die uns der Pfarrer mitgegeben hatte und unser kleiner, vierbeiniger Freund entpuppte sich als wahrer Zuckerjunkie. Er schnupperte so hektisch als hätte er einen Turkey und gab nicht eher auf, bis er die Papierhüllen gefunden hatte, in die die Küchlein eingewickelt waren. Sobald er sie erwischt hatte, verschlang er sie voller Leidenschaft. Wir versuchten ihn zu stoppen, doch er war schneller. Dann kuschelte er sich wieder an uns heran, schleckte weiter, ließ sich kraulen und streicheln. Innerhalb weniger Minuten hatte er all seine Furcht verloren und konnte sich uns vollkommen öffnen. Trotz seiner Traumata und seiner offensichtlichen Verhaltensstörungen hatte er sein Urvertrauen also noch immer nicht verloren.

Sein Urvertrauen hatte der Hund nicht verloren.

Sein Urvertrauen hatte der Hund nicht verloren.

Unter der Decke unseres Zimmers, oben in der Ecke neben dem Fenster saß ein Gecko. Er hatte sich wohl zum Überwintern hierher zurückgezogen in der Hoffnung, dass er es hier wärmer hatte als im Freien. Der Plan war nicht ganz aufgegangen, denn das Zimmer war eiskalt und so verharrte er regungslos an seinem Platz. Ob er sich das gut überlegt hatte?

Geckos unterkühlen doch eher schnell.

Geckos unterkühlen doch eher schnell.

Einer der Nachteile ein Kaltbüter zu sein besteht darin, dass man sich nicht mehr bewegen kann, wenn die Temperatur zu stark fällt. Vielleicht hatte er nie vorgehabt, sich dort hinzusetzen, sondern wollte nur kurz etwas nachsehen. Vielleicht hatte ja eine Fliege dort oben an der Wand gesessen, die so verführerisch und lecker ausgesehen hatte, dass er ihr nicht wiederstehen konnte. Und kurz bevor er dann zuschnappen konnte, war seine Temperatur soweit gesunken, dass er in die Kältestarre gefallen war. Seitdem saß er da oben und musste sich die fleckig weiße Decke anschauen. Der spannendste Überwinterungsplatz war es sicher nicht.

Doch heute hatte er Glück. Wir bekamen einen kleinen Heizer und konnten den Raum damit auf eine angenehme Zimmertemperatur bringen. Das machte auch unseren kleinen Mitbewohner wieder lebendig und als Heiko ihn fotografieren wollte, huschte er über die Wand und suchte sich einen neuen Platz. Dann jedoch fehlinterpretierte er Heikos Kamera als möglichen Fressfeind, bekam Angst und lief davon. So schnell er konnte quetschte er sich durch den Spalt unter dem Fenster nach draußen. Schlau war das nicht gerade, denn dort war es ja wieder kalt. Wir versuchten ihn zu überreden, doch zurück ins Warme zu kommen, doch entweder traute er sich nicht, oder er war schon wieder soweit unterkühlt, dass er nicht mehr zurrückgehen konnte.

11.01.

Nur weil die Berge insgesamt nun nicht mehr so hoch sind, heißt das nicht, dass wir deswegen weniger Höhenmeter am Tag machen. Die Dörfer liegen nun alle etwa auf 300 oder 400 Metern über dem Meer, aber dazwischen kommt jedes Mal ein tiefes Tal. Auf einer Strecke von nur 12 bis 16 Kilometern kann es also passieren, dass man drei oder vier Mal über einen Berg klettern muss. Heute trafen wir dabei einen älteren Herren aus Deutschland, der uns einen Schleichweg verriet. Er führte über eine Straße die wegen eines Erdrutsches für Autos gesperrt war. Gott können Straßen angenehm sein, wenn keine Autos fahren dürfen! Spannend war, dass uns der Mann erzählte, dass diese Straße schon gesperrt ist, solange er sich erinnern kann. "So ist das hier in Italien", meinte er, "vor zehn Jahren gab es einen Erdrutsch und seither ist die Straße gesperrt. Repariert wird nichts, aber stattdessen hat man eine neue auf der anderen Seite des Berges gebaut!"

In Montalto Uffugo wurden wir in ein Pfarrerskloster eingeladen, das wir zunächst für ein Altenheim für Pfarrer hielten. Hier lebten 10 weißhaarige Herren in schwarzer Pfarrersrobe, die alle schon etwas in die Tage gekommen waren. Daher die Vermutung mit dem Zentrum für pensionierte Geistliche. Doch der Grund für das hohe Durchschnittsalter lag wie immer vor allem darin, dass nur wenig junge nachkamen, die in einer solchen Gemeinschaft leben wollten. Sie waren alle Pfarrer für die Kirchen in der Umgebung, die jeweils zu winzigen Dörfern gehörten. Auf diese Weise waren die Priester nicht so einsam, was im Prinzip keine schlechte Idee ist.

Am Nachmittag zog ein Sturm auf, wie wir ihn erst selten gesehen haben. Unser Kloster stand auf der Spitze des höchsten Berges und unser Zimmer lag im Obergeschoss. Dass wir nicht mit samt des Gebäudes davongeweht sind, grenzte an ein Wunder. Eine Nacht im Zelt hätten wir bei diesen Witterungsverhältnissen wohl nicht überstanden. Der Wind heulte ums Haus und riss an den Fenstern. Es knarrte und klapperte. Da halfen auch die extra stabilen Fenster mit dem "Hörbaren Plus an Sicherheit" (wie es ihr Ettiket am Türrahmen so schön formulierte) nicht viel. Zumindest nicht, wenn sie ohne jede Dichtung in die Wand gesetzt wurden, wie es hier der Fall war. Mehrere Male flatterte die Kleidung, die wir im Raum zum Trocknen aufgehängt hatten wild nach oben. Man bekam sogar etwas Angst, dass der Wind die Fenster einfach nach innen drücken würde.

Bei manchen Klöstern weht der Wind ordentlich durch die Räume.

Bei manchen Klöstern weht der Wind ordentlich durch die Räume.

12.01.

Nach dem Frühstück wurden wir von einem der Pater noch auf eine Führung in den Dom eingeladen. Die Kirche war im 12. Jahrhundert gebaut worden und seitdem schon vier oder fünf Mal eingestürzt. So genau wusste es der Pfarrer selbst nicht mehr. Die Pater hatten seit der Gründung ihres Klosters begonnen, sie wieder zu restaurieren und neu aufzubauen, was ihnen zu großen Teilen auch schon gelungen war. Schade war nur, dass sie mit dem Innenausbau begonnen hatten, ohne zuvor das Dach zu reparieren. Dadurch lief nun überall das Wasser hinein. Ein wirklich talentierter Kirchenmaler hatte große und aufwändige Gemäle auf Holzplatten angefertigt, die unter die Decke gehängt wurden. Sie waren wirklich beeindruckend, doch durch das herunterlaufende Wasser waren die Holzplatten bereits aufgequollen und an vielen Stellen wellig geworden. Sie hingen nicht einmal sechs Monate an ihrem Platz und waren bereits wieder halb zerstört. Was musste der Maler wohl dabei denken und fühlen, wenn er sah, was mit seinen Werken hier passierte? Die Restaurierung der Kirche kostete sicher mehrere Millionen und die Pfarrer hatten alle Mühe, das Geld dafür zusammenzubekommen. Wäre es da nicht sinnvoll gewesen, darauf zu achten, dass man die Arbeit nicht doppelt und dreifach machen muss?

Die Figur von Padre Pio der ein Pilger war.

Die Figur von Padre Pio der ein Pilger war.

Noch etwas anderes fiel uns bei dem Rundgang auf. In der Kirche standen verschiedene Heiligenfiguren, von San Francesco di Paola, von Padre Pio, von Don Rocco und weiteren. All diese Heiligen, die von den Mönchen und Pfarrern noch immer als große Vorbilder für ein Leben als Gottesdiener angesehen werden, waren Pilger, die in ihrem Leben ausgesprochen viel gewandert waren. Da ist es doch erstaunlich, dass gerade die Mönche so wenig für das Wandern übrig haben, oftmals so skeptisch gegenüber Pilgern eingestellt sind und uns häufig verständnislos anschauen, wenn wir von unseren Wanderungen erzählen. Auch in diesem Kloster fiel uns auf, dass von seiten der Pater so gut wie kein Interesse an unserer Reise bestand. Es wurde mehrfach gefragt, woher wir kommen und wohin wir gehen, doch darüber hinaus entstand kein Informationsaustausch. Gerade, von Menschen, die ihr Leben der Verbindung zu Gott widmen sollte man doch eigentlich meinen, dass sie mehr Begeisterung zeigen, wenn sie von einem solchen Projekt erfahren. Es ist doch seltsam, dass die Kirchen voller Pilgerstatuen sind, sich aber niemand vorstellen kann, auch nur zehn Kilometer weit zu gehen.

Auf den Tag über wütete der Wind noch wie zuvor. Einige Male fegte es uns fast von der Straße. Gegen Mittag erreichten wir ein kleines Dörfchen, dessen Pfarrer von einem der Pater in der Früh über unsere Ankunft informiert wurde. Um vier Uhr will er sich mit uns treffen, um uns einen Platz zu geben. Jetzt ist es fünf nach vier. Es kann sich also nur noch im Stunden handeln.

Der Pfarrer kam um halb fünf, begüßte uns und bat uns dann noch ein bisschen zu warten, weil er eine Frühstückspension für uns organisieren wollte. Wieder saßen wir eine halbe Stunde in der Kälte, bis er zurückkehrte. Dann erklärte er uns, dass er ein Zimmer für uns hätte. Wir müssten allerdings noch einmal eine halbe Stunde warten, bis wir einziehen konnten, da er noch vorbereitet wurde. Gleich nach der Messe kämen wir dann aber ins Warme. So waren wir also ein weiteres Mal bei einer Messe anwesend, die wir eigentlich nicht besuchen wollten. Es war zum Glück eine sehr kurze Messe und der Pfarrer fror anscheinend ebenso sehr wie wir. Auf jeden Fall machte er den Eindruck, als wollte er alles möglichst schnell hinter sich bringen. Durch die lange Wartezeit war ich bereits so durchgefroren, dass ich zitterte. Die meiste Zeit der Messe verbrachte ich daher mit dem Versuch, verschiedene Wärmemeditationen zu machen, um nicht vollständig zu erfrieren. Es klappte sogar besser als erwartet. Heiko hingegen hielt sich damit warm, dass er sich über den grausamen Chor aufregte, der mit jedem Stück schräger und schräger sang, wobei er gleichzeitig versuchte, diese Tonverirrung dadurch auszugleichen, dass er immer lauter wurde. Kurz vor der Hostienvergabe kam ein kleiner, alkoholisierter Mann mit Mütze in die Kirche und setzte sich auf eine der Bänke neben uns. Er wartete geduldig, bis es nach vorne an den Altar ging, staubte eine Oblate ab und verschwand sofort wieder. Das war mal ein effektiver Kirchenbesuch, frei nach dem Motto: "Ein Leib Christi to go, bitte!"

Bei der Kälte in manchen Kirchen, helfen auch die Kerzen nicht viel.

Bei der Kälte in manchen Kirchen, helfen auch die Kerzen nicht viel.

Als er in der Früh von einem unserer Klosterfreunde angerufen wurde, was der Pfarrer recht skeptisch gewesen, was uns Fremdlinge anbelangte. Daher war er auch nur bereit, uns einen kalten Raum zu geben, wenn wir den halben Nachmittag vor der Kirche warteten. Als er uns dann jedoch sah und ihm bewusst wurde, dass wir keine Rumtreiber waren, wurde ihm die Sache sichtbar peinlich. Daher kam ihm dann auch plötzlich die Idee mit der Frühstückspension, der gleich noch eine Einladung in das einzige Restaurant des Ortes folgte. Später brachte er uns dann sogar noch eine Tüte mit allerlei Leckereien vorbei, in der sich unter anderem mit Walnüssen gefüllte Datteln befanden. Im Restaurant kam ein junger, glatzköpfiger Mann auf mich zu, den ich bereits zuvor in einer Bar getroffen hatte.

Er hatte einige Zeit in Deutschland gelebt und dort als Chemielaborant für eine große Firma in der Nähe von Köln gearbeitet. Vor einigen Jahren war er dann hier her zurückgekehrt. Nicht weil er es wollte oder weil er seine Heimat so sehr vermisst hatte. Er war berufsunfähig geworden, weil er und seine Kollegen zu viele giftige Dämpfe eingeatmet hatten. Im Nachhinein hatte er erfahren, dass er eigentlich immer eine Schutzmaske hätte tragen sollen. Doch daran hatte sich niemand gehalten und vielen, so auch ihm, war es nicht einmal bewusst gewesen. Dass solche Dinge überall auf der Welt alltäglich sind war nicht neu, doch es erschreckte uns ein bisschen, dass es auch in Deutschland nicht anders war.

Spruch des Tages: Ein Leib Christi to go bitte!

Höhenmeter: 490 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 13.734,27 km

Wetter: kalt, windig, Dauerregen

Etappenziel: Gemeindehaus der Stadt, 82025 Montefalcone di Val Fortore, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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