Tag 772: Tollpatschigkeit – Teil 2

von Heiko Gärtner
13.02.2016 02:19 Uhr

Fortsetzung von Tag 771:

Seit Jahren versuche ich über mich hinauszuwachsen, mich zu wandeln und mehr zu werden, als ich bin. Doch warum? Weil ich dies wirklich vom Herzen her will, oder weil ich glaube, dann endlich mehr Liebe und Anerkennung zu erhalten? Wenn ich schöner wäre, dann würden die Menschen mich mehr lieben. Wenn ich erfolgreicher und wohlhabender wäre, dann würde mich endlich jeder anerkennen! Das sind noch immer meine Gedanken dahinter. Es geht nicht um mich. Es geht darum, was ich glaube, was andere wollen. Doch so werde ich niemals vorankommen. Ich werde nicht glücklicher sein als jetzt, wenn ich irgendwie anders bin. So wie ich jetzt bin, bin ich vollkommen richtig für diesen Moment. Erst wenn ich das akzeptieren kann, kann ich mich selbst wieder Lieben und bin mit mir im Reinen. Doch auch wenn ich das theoretisch weiß, bin ich noch immer weit davon entfernt. Ich bin noch immer auf der Flucht. Ich hetze vor einer Existenzangst davon, von der ich glaube, dass sie mich verschlingt. Ich bin voller Hektik, voller Zeitdruck, voller Stress. Was immer ich tue, ich bin nicht bei der Sache. Ich bin in Gedanken schon zehn Schritte weiter. Das, was ich jetzt mache ist nur eine Nebensache. Ich muss sie schnell erledigen, damit ich dann das tun kann, was wirklich wichtig ist! Aber was ist wirklich wichtig? Die nächste Sache auch wieder nicht, denn nach ihr wartet schon die Übernächste. So kann ich mich auf nichts wirklich konzentrieren, bin bei nichts wirklich mit dem Herzen dabei, nehme mir für nichts richtig Zeit. Alles muss schnell gehen. Husch, husch, husch und dann weiter. Doch dadurch mache ich lauter Flüchtigkeitsfehler. Jetzt wo ich dies hier schreibe, habe ich schon wieder so viele Tippfehler verbessern müssen, dass ich gut doppelt so lange gebraucht habe, wie für den ersten Teil. Nur weil ich an das Thema Zeitmangel denke.

Ständig frage ich mich, warum ich nicht aufmerksam bin und andauernd Sachen übersehe oder vergesse. Aber wie sollte es anders sein, wenn ich gar nicht hier bin. Ich schaue ins Jetzt wie aus einer anderen Welt. Wie durch ein schmales Fenster, durch das ich nur einen Bruchteil dessen sehen kann, was es eigentlich zu sehen gibt. 90% meiner Aufmerksamkeit befindet sich in meinem Inneren, in Gedanken an die Zukunft und die Vergangenheit. In Gedanken darüber, was alles anders sein sollte, was am jetzt alles nicht stimmt. Was an mir nicht stimmt. Nur 10% verwende ich auf das, was jetzt im Moment passiert. Wie soll das funktionieren? Wie will ich so vorankommen?

Objektiv betrachtet, gibt es keinen Grund, warum ich nicht in vollkommener Glückseligkeit schwelgen sollte. Ich lebe mein Leben so, wie ich es mir gewünscht habe, erlebe täglich neue Abenteuer, habe einen großartigen Freund an meiner Seite und reise seit zwei Jahren um die Welt, ohne dafür auch nur einen Cent bezahlen zu müssen. Alles, was mich davon abhällt glücklich und zufrieden zu sein, sitzt also in meinem Kopf. Es sind nur meine Gedanken. Das Leben reicht mir eine Schale Kirschen und ich denke sie mir Madig. Was soll denn das?

[AFG_gallery id='397']

Jedes kleine Problem, jede kleine Panne führt sofort dazu, dass ich mir riesige Gedanken aufbaue. Ich beiße mich darin fest und schaue nicht nach links und rechts. Ich vertraue dem Leben nicht, dass es für alles immer viele Lösungen gibt und dass jedes Problem in Wahrheit nur ein Geschenk ist, um näher zu meinem Gottbewusstsein zu kommen. Ich weiß es und trotzdem werte ich es ab. Ich weiß, dass alles seine Richtigkeit hat und trotzdem urteile ich ständig in richtig und falsch in gut und böse. Ich rede mir ein, dass ich es nicht mache, doch ich mache es. Nicht bewusst, nicht aktiv, aber doch permanent und unterschwellig. Man sagt, dass die Ursache allen Leides im Vergleichen liegt. Wer sich mit anderen vergleicht, der muss dabei unglücklich werden. Doch auch was dieses Thema anbelangt, bin ich vollkommen mit dabei. Ich gestehe es mir nicht ein, doch ich bin auf jeden neidisch, der etwas kann, das ich nicht kann. Ich sehe nicht die Freude, die diese Gabe bringt, ich sehe meine eigene Unzulänglichkeit und missgönne es dem anderen. Dadurch fühle ich mich dann gleich noch schlechter. Und je mehr Missgunst ich für andere übrig habe, desto missmutiger werde ich auch mir selbst gegenüber.

Was also kann ich tun, um aus dieser Spirale auszubrechen? So lange Zeit glaubte ich, dass ich nur verschiedene Schritte gehen müsse, damit alles besser wird. Doch die Wahrheit ist viel einfacher und gleichzeitig viel schwerer. Dass ich mich lieben kann, wenn ich ein Held bin stellt niemand in Frage. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, mich jetzt zu lieben. Mich gerade in den Momenten zu lieben, in denen ich ein Trottel bin, in denen ich etwas kaputt mache, in denen ich andere aus versehen verärgere, in denen ich mich selbst verurteile oder bemittleide. Während ich das schreibe kommt mir schon wieder der Gedanke, dass dies die größte Herausforderung ist. Doch das Stimmt nicht. Es ist leicht. Es ist ein Kinderspiel. Nur meine Gedanken machen schon wieder ein Problem daraus. Und je mehr ich daran glaube, dass es schwer ist, desto schwerer wird es auch. Wenn wir im Fernsehen tollpatschige oder nerdige Figuren sehen, wie beispielsweise die Jungs aus Big Bang Theory, dann fällt es uns doch auch leicht, sie zu mögen, gerade weil sie so verplant sind. Sich selbst zu mögen, ist kein bisschen schwerer und doch tue ich mich so hart damit. Warum?

Ja ich habe eine riesige Versagensangst, die ich nicht begründen kann und doch liebe ich mich! Ja ich bin ständig in Gedanken und Tagträumen, so dass ich alles mögliche verplane und verpeile und uns manchmal sogar in ernste Gefahr bringe und doch liebe ich mich! Ja, ich habe keine Ahnung wer ich bin, wie ich jemals in meine Männlichkeit finden soll, wo ich hinwill und was meine Talente sind und doch liebe ich mich! Das ist doch nicht so schwer! Liebe ist unser Naturzustand, also ist alles, was ich tun muss, damit aufzuhören, mich selbst davon abzuhalten. Es ist an der Zeit, anzufangen, die Liebe wieder zu fühlen und dem Leben wieder zu vertrauen.

[AFG_gallery id='398']

09.01.

Der Plan war es eigentlich in Cosenza nach einem neuen Tauchsieder zu schauen, doch trotz der Größe der Stadt konnten wir nirgendwo einen Elektroladen entdecken, der auch nur annähernd etwas in der Richtung verkaufte. Mit der Schlafplatzsuche verlief es ähnlich wie in den meisten großen Städten. Wir wurden von einem Platz zum nächsten geschickt und bekamen am Ende gar nichts. Dafür schenkte man uns eine Kiste voller Pizzastücke. Erst als wir die große Stadt verließen und unser Glück in einem kleienn Nachbarsdorf versuchten, waren wir erfolgreich. Wir bekamen einen kleinen Raum im Kirchenzentrum. Vor unserer Tür findet gerade der Kommunionsunterricht statt. Wie üblich bedeutet dies, dass rund 15 Kinder wild durcheinander schreien, während vier hoffnungslos überforderte Lehrerinnen daneben stehen und sich die Ohren zuhalten. Eines der Kinder hat dieses Mal sogar eine Trillerpfeife mitgebracht. Nur schreien war auf Dauer wohl nicht laut genug. Obwohl wir solche Situationen inzwischen ja eigentlich lieber vermeiden, spürten wir deutlich, wie wieder unser altes Pädagogenherz angetickt wurde. Ein paar Mal hatten wir den Impuls, rauszugehen und laut zu rufen: "Ruhe jetzt! Der Kommunionsunterricht beginn! Ihr habt zehn Sekunden Zeit um einen Sitzkreis zu machen und komplett still zu sein. Wenn ihr es nicht schafft, dann müsst ihr alle zehn Liegestützen machen!" In unseren Erlebnispädagogikkursen hatte das immer gut geklappt. Wäre doch gelacht, wenn man die italienischen Kinder damit nicht auch bändigen könnte.

Spruch des Tages: Danke für die Wegweiser

Höhenmeter: 530 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 13.717,27 km

Wetter: wolkig, windig und kalt

Etappenziel: Pilgerherberge, 82020 Buonalbergo, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare