Tag 781: Ängstlicher Bürger – Teil 2

von Heiko Gärtner
18.02.2016 19:48 Uhr

Fortsetzung von Tag 780:

Auf dem weiteren Weg aus der Stadt hinaus, kamen wir zufällig am Kloster der Nonnen vorbei. Und da standen wir nun. Vor uns lag die flache Ebene mit den vielen Lichtern der Autobahn und der vereinzelten Häuser. Hinter uns lag die Stadt. Die Temperatur war nun bereits unter den Nullpunkt gesunken und wir standen noch immer am Anfang. Was für ein Mann musste dieser Schlüsselward sein? Er nannte sich selbst einen Franziskaner, also ein Mitglied eines Ordens, der Gastfreundschaft als eine von drei Grundregeln in seinem Konzept verankert hatte. Er verfügte über ein leerstehendes Kloster, das geräumt worden und dem Verfall überlassen war. Es gab dort nichts, das man hätte stehlen oder zerstören können. Die Nacht würde die kälteste des ganzen bisherigen Winters werden und trotzdem lautete deine Antwort einer Klosterschwester gegenüber "Nein"? Ich versuchte wirklich, mich nicht über diesen Arsch aufzuregen, aber wie ihr euch vielleicht denken könnt, ist mir das nicht allzu gut gelungen. Sogar jetztnoch merke ich, dass ich bei der Erzählung sauer werde. Sonst hätte ich sicher nicht Arsch geschrieben. Aber "diesen Kerl" fühlte sich einfach nicht authentisch an. Ich meine, wie passen diese Aussagen zusammen? Am Telefon meldete er sich mit "Pace e Bene!" dem alten Gruß der Franziskaner, um zu demonstrieren, dass er wirklich ein treuer Anhänger des Ordens war. Und dann hat dieser Orden genau drei Grundsätze. Drei! Nicht hundert oder vierhundert, so dass man sagen könnte: "Ok, er hat eben einen vergessen, der ihm nicht so wichtig erschien". Nein, es gibt drei Grundsätze und einer davon lautet: "Gastfreundschaft". Wie kann ich mich also so stolz "Franziskaner" nennen, wohlwissend, dass der Gründer und Schutzheilige dieses Ordens ein leidenschaftlicher Pilger war und dann einem Pilger in der kältesten Nacht des Jahres die Tür verschließen, ohne auch nur einen Finger zu rühren? Wie kann man das mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren? Vor allem, wenn seine Bedenken daher rühren, dass er uns nicht kennt. Er wohnte irgendwo in dieser Stadt, also nicht weiter als ein paar Minuten entfernt. Es wäre kein Problem gewesen, kurz vorbeizuschauen, uns kennen zu lernen und dann zu entscheiden, ob wir vertrauenswürdige genug waren um in einer alten, wertlosen Ruine nächtigen zu dürfen oder nicht.

Unterhalb der Stadt gab es noch ein Hotel, dessen Portier sich weigerte seinen Chef anzurufen um ihn zu fragen ob er mit einem Bett-gegen-Werbung-Deal einverstanden war. Das Kloster, das sich direkt daneben befand war nur noch ein Museum und auch dort konnten wir nicht schlafen. Die Tatsache, dass dick und fett "Museum" und "Tickets hier" an der Tür stand, hinderte uns jedoch nicht daran, einmal nachzufragen.

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Wir verließen die Stadt also endgültig und machten uns nun auf die Suche nach einem Zeltplatz. Doch wenn wir geglaubt hatten, damit der Missgunst der Menschen entkommen zu sein, hatten wir uns geirrt. Zunächst einmal mussten wir einen Spießrutenlauf durch eine Hunde-Hölle hinlegen. Dabei ist das Wort Hunde-Hölle in doppeltem Sinn gemeint. Für die Hunde musste es hier die Hölle sein, wenn jeder einzelne von ihnen so verhaltensgestört war. Zäune gab es nur selten, die meisten liefen daher frei herum und soald die irgendwo eine Bewegung sahen, stürzten sie darauf zu, kläfften, was das Zeug hielt, fletschten ihre Zähne und drohten einen zu beißen. Dabei achteten sie aber genau darauf, einem nicht zu nahe zu kommen, wenn man sie im Auge hatte, denn ihre Angst vor Tritten oder Schlägen war größer als ihre Aggressivität. Dass sie jedem anderen damit das Leben ebenfalls zur Hölle machten, muss man wohl kaum extra erwähnen.

Schließlich fanden doch noch eine Wiese, die so geschützt lag, dass wir uns trauten, unser Zelt darauf zu errichten. Es war nun so kalt, dass unsere Hände fast an den Zeltstangen festfroren. Wasser hatten wir nur noch wenig und auch unser Abendessen sah eher mau aus. Also machte ich mich noch einmal auf den Weg, um nach Essen und Wasser zu fragen. Doch was ich dabei erlebte, übertraf alle Erfahrungen von diesem Tag noch einmal bei weitem. Nicht nur, dass mir niemand etwas geben wollte, ich musste mich ein weiteres Mal gegen eine Hundeattacke erwehren, wurde mehrfach beschimpft, verflucht oder mitten im Satz abgewürgt und am Ende hetzte man mir sogar noch die Polizei auf den Hals. Nur um die Situation noch einmal deutlich zu machen: Wir befanden uns nicht in einem Kriegsgebiet, nicht in einem Großstadtgettho, das für seine Kriminalität bekannt ist, sondern in einem kleinen Tal außerhalb einer Ortschaft, in dem seit dem zweiten Weltkrieg nichts spannendes mehr passiert ist. Es war ein Abend mit -3°C und ich wollte nichts weiter als etwas Brot, eine Flasche Wasser und vielleicht ein bisschen heißes Wasser für eine Wärmflasche. Vor einem knappen Jahr wurde ich in Slowenien mit einer ähnlichen Bitte ins Wohnzimmer eingeladen und hatte Mühe, am Ende überhaupt noch wieder in die Kälte entlassen zu werden. In Frankreich waren wir an solchen Abenden oft direkt zum Abendessen eingeladen worden oder hatten sogar noch ein Gästezimmer bekommen. Doch die Leute hier waren eben anders. Wenn es sich bei dem Polizeihetzer um eine alte, verängstigte Frau gehandelt hätte, dann hätte ich das ja vielleicht auch noch nachvollziehen können. Doch es war ein Polizist, der seine Kollegen auf mich ansetzte. An einer Haustür erklang die Stimme einer Frau über die Gegensprechanlage. Als ich ihr mein Anliegen erklärt hatte, bat sie mich einen Moment zu warten, denn ihr Mann sei Polizist und könne mir sicher helfen. Helfen wollte er aber nicht, sondern mich nur mit weiteren Fehlinformationen wieder abwimmeln: "Gehen sie einfach in die Stadt zur Kirche! Dort bekommen Sie Essen und einen Schlafplatz!"

Ich hatte jedoch genug von solchen Lügengeschichten für einen Tag und erwiedeterte: "Es ist in Ordnung, wenn Sie mir nicht helfen wollen. Dazu ist niemand verpflichtet! Aber die Kirche ist geschlossen, das weiß ich, weil ich gerade da war. Also sagen Sie bitte einfach dass sie mir nichts geben wollen und damit ist gut!"

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Irgendwie freute den Mann meine Aussage gar nicht und er begann damit zu drohen, dass mich auch gerne seine Kollegen abholen und mit auf die Wache nehmen könnten. Ich nahm das zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ernst, wünschte ihm daher einfach einen guten Abend und ging. Doch kurz darauf hielt wirklich ein Polizeiauto neben mir an. Der Polizist verlangte meinen Ausweis, wollte meinen Rucksack durchsuchen und fragte, ob ich irgendwelche Waffen dabei hätte. Als ich ihn fragte was das ganze Theater solle, antwortete er: "Wir haben einen Anruf bekommen, dass sich in dieser Gegend eine "suspekte Person" herumtreibe, die wahrscheinlich auf einen Einbruch aus sei." Es kostete mich eine gute halbe Stunde um zu erklären, dass ich weder Waffen besaß, noch Einbrüche plante, noch anderweitige, kriminelle Absichten hatte, sondern einfach nur auf der Suche nach etwas zum Essen sei. Dann kostete es mich weitere zehn Minuten, den Polizisten davon zu überzeugen, dass es jetzt auch nicht mehr der richtige Zeitpunkt war, um die Pfarrer aus den Nachbarsstädten anzurufen und jemanden zu finden, der uns mit dem Auto abholte und irgendwo hinbracht, wo wir essen und schlafen konnten. Nachts sei es nämlich zu gefährlich, zu Fuß unterwegs zu sein. Da könne weiß Gott was passieren. Am Ende musste ich dem Polizisten versprechen, dass ich nicht weiter nach Essen fragen und an keiner Tür mehr klingeln würde, dann durfte ich gehen. Vollkommen ausgefroren von der langen Wartezeit kam ich am Zelt an. Meine Bäute für gut eineinhalb Stunden Exkursion war erbärmlich. Ich hatte eine halbe Flasche Wasser und eine schreibe trockenes Brot mit einer Art Schnitzel darauf. Das war alles. Abgesehen von den vielen offenen Fragen, die mir noch immer im Kopf herumspukten. Wie konnte es sein, dass einem die Polizei nicht half, wenn man auf der Straße überfallen wurde, einem aber das Leben schwer machte, wenn man versuchte, in einer kalten Winternacht zurecht zu kommen? Was war mit den Menschen hier los, dass sie so eine Angst hatten? Eine Angst, die schon zerstörerisch wurde? Es konnte doch nicht normal sein, dass eine komplette Nation einen einfach verrecken ließ, wenn sie kein OK, vom Pfarrer hatte! Menschen sind von Natur aus gütige Wesen, denen es ein Bedürfnis ist, einander zu helfen und zum Leben anderer beizutragen. Was musste man mit diesem Menschen hier gemacht haben, wenn sie dieses Bedürfnis aus Angst so sehr ignorierten, dass sie für die einfachsten Gesten der Nächstenliebe nicht mehr im Stande waren? Jeder hatte hier vergitterte Fenster und sperrte sich jede Nacht in seinem Haus ein, in der Erwartung eines Tages vielleicht doch einmal überfallen zu werden. Und das in einer Gegend, in der es keine Werte gab. Wenn ich ein Dieb gewesen wäre, hätte ich zum einen nicht an der Tür gegklingelt und nach Brot gefragt. Ich wäre einfach mit einer Nagelfeile durchs Fenster eingestiegen, denn mehr wäre nicht nötig gewesen. Doch selbst der Aufwand hätte sich nicht gelohnt, da man auf zehn Meilen gegen den Wind sehen konnte, dass es hier nichts zu holen gab. Warum also die Angst? Wovor? Warum die Verschlossenheit? Ein bisschen Brot oder Wasser durch ein vergittertes Fenster zu reichen war nicht gefährlich, egal wer ich war. Und seien wir mal ehrlich. Mit meiner blauen Mütze, der dicken Brille und den angeschwollenen Pausbäckchen, die ich im Moment habe, sehe ich doch wohl wirklich nicht gefährlich aus!

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Eine Sache war jedoch auffällig, die mit den Menschen hier nichts zu tun hatte. Heute, an dem Tag an dem all diese Unannehmlichkeiten auftraten, war der Geburtstag meiner Mutter. Das konnte natürlich Zufall sein, doch etwas eigenartig war es schon. Beschäftigte mich die ganze Familiengeschichte doch noch immer so sehr, dass ich es schaffte, nur mit meinen unbewussten Gefühlen, so ein Chaos in mein Leben zu ziehen?

Spruch des Tages: So viel also zum Thema “Freund und Helfer”

Höhenmeter: 110 m

Tagesetappe: 7 km

Gesamtstrecke: 13.887,27 km

Wetter: windig, kalt und regnerisch

Etappenziel: Franziskanerkloster, 71013 San Giovanni Rotondo, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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