Tag 855: Baumwolleanbau in Europa

von Heiko Gärtner
06.05.2016 19:22 Uhr

19.04.2016 Gestern sahen wir zum ersten Mal die weißen Wattefetzen, die überall an den Sträuchern, Zäunen und teilweise auch an großen Anhängern baumelten. Erst waren wir uns nicht sicher, was es sein konnte, dann tippten wir auf Baumwolle, verwarfen diese Idee jedoch zunächst wieder. Baumwolle erschien uns viel zu exotisch, als das sie in Griechenland angebaut werden konnte. Doch genau das war es. Tatsächlich lebten die meisten Bauern hier von der Baumwolleproduktion. Jetzt im Frühjahr waren ihre Felder voll mit Weizen, aber sobald dieser geerntet wurde, traten die Baumwollpflanzen an ihre Stelle. Noch einmal wurde uns bewusst, dass die Armut in diesem Land nur küsntlich erzeugt sein konnte. Denn wenn man bereits im Frühjahr die gleiche Weißenernte einfahren konnte, für die man in Deutschland ein ganzes Jahr brauchte und dann anschließend noch die Kapazitäten für eine komplette Wolle- und Kleidungsindustrie hatte, dann dürfte es einem wirtschaftliche eigentlich nicht schlecht gehen. Wie gesagt: Eigentlich.

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Die Felder waren wieder einmal riesig. Unvorstellbar riesig und bereits nach wenigen Kilometern fühlten wir uns ebenso in einer Einöde gefangen wie damals in Spanien. Nur dass diese Einöde hier grün war. Dann aber bog unser Weg plötzlich in eine kleine Senke ab und sofort landeten wir mitten in einem versteckten Naturparadies. Ein kleiner Bachlauf schlengelte sich hier durch das Minital und lockte allerlei Tiere und Pflanzen an. Wir trafen eine Schildkröte, viele Frösche und sogar einige kleine Fische, die sich irgendwie in die Minitümpel verirrt hatten. Auch wir selbst mussten durch den Bachlauf waten und stoplerten anschließend sogar noch über eine kleine Schlangengrube. So interessant sie auch gewesen wäre, wir zogen es trotzdem vor weiter zu ziehen und nicht zu warten, bis die Schlangen zurückkamen, oder aus dem Loch hervor krochen. Die letzte Etappe zurück in die Zivilisation bestand aus einer Sandstraße. Hier wurde das Ziehen der Wagen ansträngender als, wenn wir einen steilen Berg hinauf gehen mussten. Es war, als würde der Sand die Reifen umklammern und festhalten. Für die Wüste müssen wir uns wohl noch einmal eine neue Taktik überlegen

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Kaum hatten wir die Straße erreicht, kehrten auch schon die Nebenwirkungen der Zivilisation zurück. Es ist seltsam, aber in dieser Region scheinen die Tiere, die der Kultur folgen komplett aus dem Ruder geraten zu sein. Sobald man in die Nähe einer Ortschaft oder auch nur einer größeren Straße kommt, wimmeln die Büsche vor Spatzen und Maisen, die einander Anbrüllen als hätten sie einen heftigen Ehestreit. Das Dorf, das wir kurze Zeit später erreichten, hatte einen kleinen Park, in dem die Vögel so ein Geschrei veranstallteten, das man es hier kaum noch aushalten konnte. Es waren Tausende und alle saßen zusammengequetscht in den Bäumen und schriehen einander direkt ins Gesicht. Das konnte keine natürliche Reaktion mehr sein, das was blanke Agression. So wie es aussah, spiegelten die Tiere hier die unbewussten Gefühle der Menschen. Dass die Hunde in Gegenwart der Zweibeiner austickten und wie geistesgestört herumschrien waren wir ja schon gewohnt. Aber dass es die Vögel genauso hielten war uns in der Intensität zuvor noch nicht aufgefallen. Natürlich waren alle Vögel in Stadtnähe lauter als in ihrer natürlichen Umgebung. Aber nicht in diesem Maße. Auch die Tauben und die Meisen stimmten im Vogelgesangskrieg mit ein. Woran mochte das liegen? Waren es die vielen Pestizide, die sie aufnahmen und durch die sie ähnliche Sympthome bekamen, wie unsere hyperaktiven Kinder? Oder war es wirklich einfach ein Spiegel, den sie uns vor die Nase hielten?

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Das Rathaus befand sich direkt in diesem Park und ganz offensichtlich hatten sich die Angestellten bereits damit arrangiert, dass eine Konzentration hier unmöglich war. Das einzige besetzte Büro hatte drei Schreibtische. Einer sah auf den ersten Blick aus, wie ein gewöhnlicher Büroschreibtisch mit Computer und allem was dazu gehörte. Der Computer war jedoch so alt und langsam, dass er mit jedem Arbeitsschritt überfordert war. Wenn man die Tastenkombination "Str." und "Tab" drückte um zwischen zwei Fenstern zu wechseln, stürzte er ab. Schrieb man eine Mail, konnte man nach dem ersten Satz gut 10 Minuten warten, bis der Text auch wirklich auf dem Bildschirm erschien. Die junge Frau, der der Schreibtisch gehörte, erklärte sich diese ungünstige Arbeitssituation mit der langsamen Internetverbindung hier auf dem Land. Der zweite Schreibtisch war sogar noch etwas beeindruckender. Hier stand ein Locher, ein leerer Stifthalter, eine Kerze und das Bild von den Kindern der Angestellten. Das war alles. Es gab keinen Computer, kein Papier, keine Aktenordner, keine Stifte. Nichts. Was die gute Frau den ganzen Tag machte, blieb uns ein Rätsel. Nicht einmal ein Telefon hatte sie. Der dritte Schreibtisch war komplett leer. Soweit wir es erkennen konnten, waren die Frauen in diesem Büro aber trotzdem nicht ganz ohne Aufgabe. Denn das Rathaus beteiligte sich an der Aktion, bei der Flaschendeckel für den Bau von Rollstühlen gesammelt wurden. Immer, wenn die Damen eine Wasserflasche leer getrunken hatten, knoteten Sie eine große Plastiktüte auf, warfen den Deckel der Flasche hinein und knoteten die Tüte wieder zu. Damit waren sie sehr erfolgreich, denn es hatten sich bereits viele Deckel in der Tüte angesammelt.

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Doch auch wenn die Frauen sonst keine allzu überragenden Aufgaben hatten, zeigten Sie sich Gästen im Allgemeinen und uns im Besonderen doch sehr aufgeschlossen und Hilfsbereit. Die junge Dame, die als einzige einen Computer und ein Telefon besaß, versuchte alles, was ihr in den Sinn kam und bot uns sogar an, in hier in diesem Büro zu übernachten. Gebraucht wurde es ja ohnehin nicht. Doch immer kam irgendjemand und hatte etwas dagegen. Am Ende war es der Pfarrer, der eine Lösung anbot. Wir durften in einer kleinen Kapelle außerhalb der Ortschfaft bleiben. Um unser Schlafquartier aufzubauen mussten wir nur die Stühle und die heilige Ikone beiseite schieben und uns dann unter die Heiligenmalerien legen. Zum Arbeiten setzte ich mich an den Altar. Es war definitiv einer der speziellsten Plätze die wir je hatten, aber er war nicht unangenehm. Spannend war auch, dass wir uns zum ersten Mal die aufwändigen Malereien an den Wänden genauer ansahen. Beim ersten Eintreten hatten wir geglaubt, dass es echte Kunstwerke waren, die ein Maler hier direkt auf die Wände aufgetragen hatte. Bei genauem Hinschauen stellte sich jedoch heraus, dass es eine Art Tapete mit fertigen Aufdrücken war. Die Orthodoxen hielten es also genau wie die Katholiken und bestellten ihre Kirchenkunst ebenfalls im Katalog.

Spruch des Tages: Wer hätte gedacht, dass hier Baumwolle angebaut wird?

Höhenmeter: 10 m Tagesetappe: 10 km Gesamtstrecke: 15.032,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm, Nachmittags Regen Etappenziel: Umkleide des Sportplatzes, 66100 Megalokampos, Griechenland

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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