Tag 916: Frei lebende Hamster

von Heiko Gärtner
12.08.2016 03:51 Uhr

14.06.2016 Zum Arbeiten setzte ich mich am Nachmittag an den Stamm einer Rubinie. In meinem Rücken verlief ein kleiner Weg, der hin und wieder von Pferdekutschen genutzt wurde. Eine wurde von ein paar Kindern gesteuert, die ihr Pferd wie die irren antrieben und mit Highspeed über die Buckelpiste rasten. Als sie an mir vorrüberfuhren warfen sie mit Grünzeug nach mir, das relativ unsanft in meine Seite knallte. Bereits dies hätte ein erster Hinweis dafür sein können, dass es gilt achtsamer und vorsichtiger zu sein. Doch wieder einmal kam ich erst lange Zeit später dahinter. Als es zu regnen begann, wechselte ich meinen Standort in unser Vorzelt und achtete nicht darauf, dass in meiner Sitzmatte noch einige Rubinienzweige mit langen Dornen steckten. Diese Unachtsamkeit kam mir weit teurer zu stehen als die Aktion mit den Kindern, denn am Abend verwendete ich sie als Unterlage unter meiner Luftmattratze. Nachts wunderte ich mich dann, dass mein Bett immer unbequemer wurde, doch am Morgen war klar, dass es da eigentlich nichts zu wundern gab. Eine Luftmatratze mit einem dicken Dorn im Gewebe konnte einfach keine Luft halten. Das zusätzlich auch noch der Reißverschluss unseres Zeltes langsam den Geist aufgab und wir eine vorläufige Reparatur vornehmen mussten, zeigte, dass mir nun auch unser Material auf allen erdenklichen Wegen spiegelte, dass ich mich immer mehr verannte. Es dauerte jedoch noch bis zum späten Nachmittag, bis es mir das erste Mal wirklich bewusst wurde.

Unsere letzten Wasservorräte hatten wir am Abend weitgehend aufgebraucht und so mussten wir heute Morgen fast ohne einen Tropfen durch die Hitze ziehen. Es dauerte nicht lange und unsere Zungen klebten am Gaumen fest. Sehnsüchtig erwarteten wir das erste Dorf, das jedoch so klein war, dass wir kaum die Hoffnung hatten, hier einen Minimarkt aufzutreiben. Doch man darf diese Orte nicht unterschätzen. Ein älterer, leicht angeheiterter Herr mit einer Bierflasche in der Hand, wies uns den Weg zur örtlichen Versorgungsstation. Ohne seine Hilfe, hätten wir es niemals gefunden, denn es war ein ganz normales Haus abseits der Straße, in dessen Garten ein paar Hühner herumliefen. Wenn man an ihnen vorbei war, gelangte man auf eine Terrasse, auf der neben den üblichen Dingen, die man auf Terrassen so findet, auch eine leere Kühltruhe für Eis stand. Auf mein vorsichtiges Rufen hin öffnete sich eine Tür und eine junge, dicke Frau kam heraus. Zu meiner Überraschung bestätigte sie mir tatsächlich, dass dies ein Markt war. Sie ging ins Haus zurück, holte ein trockenes und steinhartes Brot und eine Wasserflasche und drückte mir beides in die Hand. Damit war unser Vormittag erst einmal gerettet.

Gestern Nachmittag hatten wir eine Straße eingeschlagen, die zunächst asphaltiert begonnen hatte und dann zu einem Schotterweg geworden war. Noch immer war es eine ernstzunehmende Straße gewesen, nur eben ohne Asphalt. Doch nun wurde sie zusehends kleiner und schmaler, bis sie kaum mehr als ein Trampelpfad war. Auf der Karte trug sie dennoch noch immer die Bezeichnung einer offiziellen Staatsstraße. Wer hier also mit einem normalen Auto unterwegs war, konnte auch ganz schön in die Bredullie geraten. Am Ende des Weges stießen wir auf eine kleinere Straße, die für die nächsten Tage unser Begleiter werden sollte. Sie lag am Ufer der Donau und bis kurz vor der moldawischen Grenze wollten wir nun an diesem Fluss enlang in Richtung Delta wandern. Heiko hatte mich bereits gewarnt, dass dies wahrscheinlich eine sehr mückenintensive Zeit werden würde, doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal eine Vorstellung davon, was er damit meinen konnte. Dass es immer mal wieder Gegenden gab, in denen viele Mücken vorkamen, das war nicht ungewöhnlich, aber wie viele es geben konnte, hätte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht einmal träumen lassen. Doch die ersten Tierbegegnungen, die wir am Ufer der Donau hatten waren ganz anderer und weniger Juckreizverursachender Natur. Zum ersten Mal in unserem Leben sahen wir einen wilden, freilebenden Hamster! Er hatte es sich in einer Höhle in seiner Sandböschung gemütlich gemacht und als wir vorbeikamen huschte er einen Moment nach draußen um sich zu zeigen. Für ein Foto reichte es aber leider nicht. Der andere ungewöhnliche Zeitgenosse, den wir heute zum ersten Mal sahen, war ein azurblauer Vogel, den wir vorläufig als "blauen Pirol" identifizierten. Ob es wirklich einer war, kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen. An einem Gemischtwarenladen fragten wir nach neuen Gaskartuschen für unseren Kocher. Die Kassiererin verstand weder was ich wollte, noch war sie bereit, uns kostenlos mit irgendetwas zu unterstützen. Doch das musste sie auch gar nicht, denn einer ihrer Kunden sprach fließend Englisch und war so hilfsbereit, dass er uns gleich drei Gaskartuschen kaufte. Bei der Gelegenheit erfuhren wir auch, dass er der Neffe des hiesigen Bürgermeisters war und kurz darauf hatte er uns sogar noch einen Schlafplatz organisiert. Der Vorteil dabei war, dass wir nun ein Dach über dem Kopf und ausreichend Stom hatten. Der Nachteil war, dass wir uns in einem Raum befanden, in dem alle 10 Minuten jemand auftauchte, weil sich hier das geheime Schnapslager der Rathausangestellten befand. Nebenann lag eine Art Lagerraum und jeder der es irgendwie schaffte, einen Vorwand zu finden, hier etwas hinbringen oder wegholen zu können, nutzte ihn für das kleine Schnäpschen zwischendurch. Dass in diesem Land fast jeder permanent betrunken war, war also kein Wunder.

Der ruhigste und entspannteste Schlafplatz aller Zeiten wurde es also nicht und wir beschlossen, auf derartige Optionen in Zukunft lieber zu verzichten. Doch für heute war es dennoch genau das richtige. Zum einen gab es am Abend ein heftiges Gewitter mit einem üblen Platzregen, so dass wir froh waren, einen geschützten Raum zu haben. Zum anderen machte ich mir heute auch zum ersten Mal Gedanken über die Länge meiner Einleitungskapitel und stellte fest, dass das Buch gut und gerne 500 Seiten lang wurde, wenn ich so weiter machte. Es kam zur ersten großen Reibungsexplosion, bei der Heiko mir meine Eingefahrenheit spiegelte. Das Donnerwetter, das daraufhin in unserem Raum losbrach, ließ das Gewitter draußen regelrecht blass erscheinen. Am Ende kamen wir nur auf eine Lösung: Ich musste die bereits geschriebenen Seiten loslassen und at akta legen und noch einmal komplett von vorne beginnen. Dieses Mal mit einem konzentrierteren Fokus, einer klaren Ausrichtung in der genauen Präsenz darauf, was ich in dem Text eigentlich aussagen wollte. Jedes Geschwafel, jede überflüssige Floskel musste weggelassen werden, so dass ich noch einmal in klaren, einfachen Worten genau beschrieb, was ich beschreiben wollte. Nach allen Regeln der Kunst erklärte mir Heiko in Bild, Mimik und Ton genau, was die Kernaspekte waren, um die es wirklich ging. Er spielte es mir sogar pantomimisch vor und zwar so bühnenreif, dass man direkt einen Vortrag daraus hätte machen können. Doch mein Verstandesgegner war bereits so stark, dass er vieles davon einfach abblockte. Meine Aufgabe wäre es im Grunde lediglich gewesen, dieses plastische Schauspielstück in ebenso plastischen Worten niederzuschreiben. Doch ich schaffte es nicht. Ich schrieb die halbe Nacht, bis ich vor Erschöpfung über der Tastatur einschlief. Dann legte ich mich für eine knappe Stunde hin und versuchte es am Morgen weiter. Eigentlich hätte der Text damit stehen sollen, doch es dauerte noch über eine Woche, bis ich endlich etwas auf dem Papier hatte, das ich selbst als spruchreif ansah.

Spruch des Tages: Schau! Das ist ein wilder Hamster

Höhenmeter: 330 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 16.210,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf einer Müllhalde neben einem stinkenden Tümpel, kurz vor Mingir, Moldawien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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