Tag 937: Zum Haare ausreißen

von Heiko Gärtner
31.08.2016 23:04 Uhr
03.07.2016

So sonderbar es auch war, auf einer Müllhalde zu nächtigen, so erholsam wurde es auch. Die Weide spendete ausreichend Schatten, so dass wir wieder einmal richtig ausschlafen konnten. Dann aber wurde der Tag wieder zur reinen Zerreisprobe. Die endlose Hitze und die ewig weiten Strecken ohne einen Schatten trieben uns langsam in den Wahnsinn. Und wieder einmal war es unmöglich einen Schlafplatz zu finden. Wir entdeckten einen Wald am anderen Ende eines Tals, der recht verlockend aussah, doch als wir auf ihn zugingen, stellten wir fest, dass sich ein versteckter Graben mitten in der Wiese befand. Heiko versuchte ihn zu durchqueren, blieb dabei jedoch knietief im Schlamm stecken, so dass wir den Rückzug antraten. Die einzige Alternative war es, einen Berg zu erklimmen und oben auf der Anhöre nach einem Platz zu suchen. Auch dies schien zunächst erfolglos, doch dann fanden wir einen Platz unter ein Paar Weiden, die wie zu einem Kraftkreis angeordnet waren. Das einzige Problem war nur, dass es fast unmöglich war, ihn zu erreichen, da wir mehrere Böschungen hinauf und hinunter mussten. Als wir schließlich ankamen, waren wir so erschöpft, dass wir uns erst einmal hinlegen mussten.

Am Nachmittag schafften wir es dann, den ersten, stimmigen Rohentwurf des Buches fertigzustellen. Es hatte nun einen roten Faden und ergab von Anfang bis Ende einen Sinn, mit dem die Leser wirkliche Schritte zu ihrem eigenen Erwachen gehen konnten. Natürlich mussten wir noch einmal alles abrunden, doch zum ersten Mal hatten wir das Gefühl, dass eine Fertigstellung des Projektes in Aussicht war. In der Nacht wanderte ich daher noch einmal zwei Kilometer in den nächsten Ort, um die fertige Datei per Mail zu verschicken, damit sie wirklich sicher war. Jedenfalls glaubte ich in diesem Moment, dass sie dadurch sicher sein würde. Ein Irrtum, der sich am nächsten Tag deutlich zeigen würde.

04.07.2016

Dieses Mal wurden wir nicht von der Sonne sondern von einem Sturm geweckt, der an unserem Zelt rüttelte. Es war der Wind der Veränderung, der bereits jetzt ankündigte, dass heute ein besonderer tag werden würde. Zum Wandern war er allerdings ganz angenehm, denn so spürte man die Hitze nicht mehr so stark und wir waren etwas weniger ausgelaugt, als an den letzten Tagen. Auf halber Strecke kamen uns zwei LKWs entgegen, die gnadenlos überfüllt mit Rundheuballen waren. So etwas wie Ladungssicherungsvorschriften gab es hier nicht und jeder konnte seine Ladung so vertrauen, wie er es für richtig hielt. In diesem Fall reichten den Fahrern ein paar Gurtspanner um die Ballen auf der Ladefläche festzuschnallen. Beim ersten ging das auch gut, doch beim zweiten funktionierte die Technik nur mäßig. Als er auf unserer Höhe war hielt der Fahrer plötzlich an und stieg aus. Zunächst wussten wir nicht warum, doch dann erkannten wir, dass einer der Ballen fehlte. Er lag hinter der nächsten Kurve mitten auf der Straße. Ein Sanitätswagen fuhr vorbei und hielt neben dem wandernden LKW-Fahrer an. Der Rettungsassistent reichte etwas nach draußen, das wir im nächsten Moment als Gurtspanner identifizierten. Er musste abgeruscht und auf die Straße gefallen sein, wo ihn die Sanitäter aufgelesen hatten. Er bedankte sich und der Krankenwagen fuhr weiter. Dann ging der Mann auf den Heuballen zu und rollte ihn von der Straße auf den Grünstreifen. Genau in diesem Moment kam ein Streifenwagen mit zwei Polizisten. Sie schauten kurz, was der Mann da machte und beschlossen dann, dass er den Rundballen ordnungsgemäß zur Seite geräumt hatte. Es gab also nichts zu beanstanden und so konnten sie sich einem PKW widmen, den sie ohne erkennbaren Grund anhielten. Der LKW-Fahrer kehrte zu seinem Truck zurück, warf einen flüchtigen Blick auf seine Ladung um sicher zu gehen, dass der Rest noch hielt, legte den Gurtspanner ins Führerhäuschen und fuhr weiter.

Heute wurde die Schlafplatzsuche wieder etwas leichter und doch brauchten wir fast genauso viel Zeit dafür, wie an den vergangenen Tagen. Wir fanden einen Platz unter ein paar Nussbäumen, der uns geeignet erschien. Doch es wirkte, als wolle es regnen und gleich nebenan gab es eine verlassene Lagerhalle. Also wechselten wir in die Halle, doch gerade als wir aufbauen wollten, begannen eine paar Bauarbeiter direkt vor unserer Tür ein Betonfundament zu errichten. Ruhe fanden wir hier also nicht und so beschlossen wir, wieder zurück unter die Bäume zu wechseln. Hier kam es dann zum großen Finale meines Kampfes zwischen mir und meinem inneren Gegner. Obwohl die fertige Buchdatei am Abend einwandfrei funktioniert hatte, konnte man sie nun nicht mehr öffnen. Weder auf meinem Computer noch auf Heikos oder sonst wo. All unsere Arbeit war zerstört und das ohne einen rational erklärbaren Grund. Und doch war es logisch. Ich brauchte diese Situation, um endlich aufwachen zu können und deshalb hatte ich sie angezogen. Meine komplette Ausstrahlung war so sehr auf Angst und Selbstsabotage ausgelegt, dass ich es schaffte, damit mehrere Computerdateien zu zerstören. Mein Selbsthass wurde unvorstellbar und ich wurde wieder vollständig zu der Fraze meines Verstandes. Jedes Gefühl war tot und am liebsten wäre ich in diesem Moment auch gestorben. Die Gefühle, die in mir kochten, die ich selbst aber nicht wahrnehmen konnte, bekam ich von Heiko gespiegelt. Er schlug und schubste mich in der Hoffnung, den Menschen in mir dadurch irgendwie wieder zum Leben zu erwecken. Doch es dauerte noch eine knappe Stunde, bis meine erstarrte Maske in sich zusammenbrach und meine Gefühle an die Oberfläche schwappten. Wie besessen Schlug ich auf mich selbst und auf die Wand ein, an der ich lehnte, ich heulte, schrie und fluchte bis mir die Kraft dafür ausgegangen war. Dann erst wurde mir bewusst, was mit mir los war. In mir kämpften zwei Stimmen einen erbitterten Kampf gegeneinander. Die meines Herzens und meines inneren Kindes, die endlich frei sein wollte um ganz ich selbst zu werden. Und die meines Verstandes, der um jeden Preis die Kontrolle behalten und jede Veränderung unterbinden wollte. Nach diesem Kampf war klar, dass das alte Masken-Ich des Tobias Krüger sterben musste. Nun folgte das Ritual, bei dem mir Heiko die Haare ausriss, bis meine Kopfhaut brannte und seine Funger bluteten. Ich heulte wie ein Schlosshund und spürte, wie ich mit jedem Büschel Haare stets auch noch weitaus mehr losließ. Am Ende holte Heiko unsere Rasirer um die letzten verbleibenden Haare so anzupassen, dass es eine gepflegte Vollglatze ergab. Es war nun also vollbracht. Tobias Krüger war gestorben. Ich wusste noch nicht, was dies nun für mich bedeutete, doch für´s erste saß ich nun einmal ohne Namen, ohne Maske und ohne Haare auf einer Wiese mitten in Moldawien, kurz vor einem kleinen Ort namens Bujor.

Der Tag war nun bereits fast vollständig zur Neige geganen. Heiko hatte bereits das Abendessen vorbereitet, als ich am Zelt eintraf. Wir setzten uns in die letzten Sonnenstrahlen auf der Wiese und aßen. Mein Kopf fühlte sich seltsam und empfindlich an, aber zum ersten Mal fühlte ich mich frei. Für einen Moment glaubte ich, dass ich mit diesem Ritual nun an irgendeinem Ziel angekommen wäre. Dann aber wurde mir bewusst, dass genau das Gegenteil der Fall war. Ich hatte nun den ersten Schritt gemacht und war bereit anzukommen. Wir stellten die Datei wieder her und Heiko gelang es, sie fast vollständig wieder zu rekontruieren, so dass ich nur noch einmal durchsehen musste, ob alles soweit passte. Dann ging ich hinunter in den Ort, um sie noch einmal zu sichern und um mit unserem Verlag abzuklären, ob wir von der Zeichenzahl soweit im Rahmen lagen. Leider gab es kein Internet und so konnte ich nichts weiter tun, als Heydi per SMS zu bitten, die Fragen von zuhause aus zu stellen. Wenig später bekam ich die Antwort, dass sie alles erledigt hatte. Sie hatte mir also wieder einmal den Arsch gerettet. Auf dem Rückweg war es bereits dunkel und es machte kein wirklich gutes Gefühl, an der Hauptstraße entlang zu wandern, wenn ununterbrochen betrunkene Autofahrer an mir vorbei rasten. Einer hielt sogar an und bat mir an, mich mitzunehmen. Doch so schwer wie ihm das Geradeauslaufen fiel, hielt ich es für keine gute Idee. Den Rest der Nacht setzte ich mich in die kleine verfallene Hütte neben unserem Zelt und machte mich an die Endkorrektur des Buches. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont leuchteten, stand ich auf und schaute über das Tal. Unten lag der See in dichte Nebelschwaden gehüllt, die vom seichten Sonnenlicht erleuchtet wurden. Es war ein herrlicher Morgen! Ein großartiger Morgen für den ersten Tag als neuer Mensch.

05.06.2016

Kurze Zeit später wachte Heiko auf und wir bereiteten ein Frühstück vor. Dann machten wir uns wieder auf den Weg. In einer Pause machten wir weitere Austestungen über den Muskelreflexionstest, wobei herauskam, dass mein altes ich wirklich vollkommen sterben sollte. Es galt nun alles loszulassen, nicht nur meine Haare und meinen Namen, sondern auch alle Personen, die mich noch in meiner Maskenrolle festhielten: Den Rest meiner Familie, meine alten Freunde und bekannten. Es fühlte sich wie ein harter Schlag an, obwohl ich vom Herzen her spürte, dass diese Schritt längst überfällig war. Einen wirklichen Kontakt gab es ohnehin schon seit langem nicht mehr, denn die wenigen eMails, die wir uns hin und wieder schrieben, reichten kaum über seichtes Smalltalk hinaus. Und selbst wenn es einmal einen Versuch gab, tiefer zu gehen, wurde er meist geblockt oder verlief sich im Sand. Bereits jetzt lagen Welten zwischen mir und meinem früheren Leben und die Versuche, diese Welten zu überbrücken waren nicht mehr als ein festklammern an lägst gerissenen Strohhalmen. Im Grund gab es keine Kontakte mehr, die ich lösen musste. Es ging nur darum, den Zustand der schon längst eingetreten war zu akzeptieren und offen auszusprechen. Und doch fühlte es sich schwer an. Ich fühlte mich ein bisschen wie jemand, der keinen Käse mochte, aber nun von seinem Arzt gesagt bekam, dass er auf Milchprodukte verzichten müsse. Obwohl er sie nie gegessen hatte, war nun, weil es offiziell wurde, das Gefühl da, etwas zu verpassen. Verrückt, oder?

Nach weiteren endlosen Hügelketten, die wir immer wieder rauf und runter wandern mussten, kamen wir durch einen Ort, hinter dem wir einen Zeltplatz in einem verlasenen Hohlweg fanden. Kurz zuvor hatten wir von unserem Verlag per SMS das OK bekommen, dass die Länge unseres Buches nun akzeptiert wurde. Wir brauchten also nichts mehr zu kürzen, sondern mussten nur noch das aktuelle korrigieren und abrunden. Es ging nun also wirklich in die Endphase und langsam kam ein Gefühl der Erleichterung in uns auf. Zum Arbeiten kehrte ich in den Ort zurück, wo es eine kleine Bar gab, zu der auch eine Disco gehörte. Heute war sie geschlossen und so konnte ich mich hier ganz in Ruhe an die Bar neben der Tanzfläche setzen und schreiben. Der Besitzer sprach Englisch und wir unterhielten uns eine Weile. Als er mich nach meinem Namen fragte, antwortete ich gewohnheitsmäßig mit "Tobias" doch es fühlte sich bereits jetzt vollkommen falsch an. Seinem Kumpel stellte ich mich dann ohne Namen vor. Es war schon ein sonderbares Gefühl, als Namenloser unterwegs zu sein. Doch ich wollte mir auch keine Namen auswählen. Wenn es soweit kam, würde er schon zu mir kommen. Und genau so kam es auch.

Spruch des Tages: Wer hätte gedacht, dass ich dir wirklich einmal die Haare ausreißen würde?

Höhenmeter: 210 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 16.661,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz in einem Wald neben der Straße, kurz vor 78712 Rivnya, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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