Tag 944: Strenge Grenzkontrollen

von Heiko Gärtner
01.09.2016 02:39 Uhr

18.07.2016

Über mir braute sich ein immer heftigeres Gewitter zusammen. Der Wind heulte um die Kirche und mehrfach schlugen Blitze in unmittelbarer Nähe ein. Dabei prasselte es mit voller Wucht auf das Kirchendach und an einigen Stellen tropfte es sogar hindurch. Mit ungutem Gefühl dachte ich an Heiko im Zelt. Wir hatten mitten in einem Wald an einem erdigen Berghang aufgebaut. Was war, wenn das Wasser nun in Sturzbächen genau durch unser Zelt lief? Wenn es vielleicht sogar die Heringe herausgespühlt hatte und Heiko nun alleine mit unserer wild flatternden Plane im Regen stand und versuchte, den Schaden so gering wie möglich zu halten? Ich schob den Gedanken beiseite. Sicher war alles in bester Ordnung und das Zelt stand wie eine eins. Doch ganz wollte das mulmige Gefühl nicht verschwinden. Andererseits war es nun aber auch unmöglich, bei diesem Wetter hinunter in den Wald zu laufen, denn dann war ich vollkommen durchnässt und verschlammt. Wenn alles in ordnung war, dann erreichte ich so nur, dass ich den Rest des Tages frohr. Wenn nicht, dann konnte ich auch nicht wirklich etwas helfen. Oder doch? Während ich noch überlegte ließ das Gewitter nach und der Gedanke verlor an Bedeutung. Um fünf Uhr begann in der Kirche die Messe. Eigentlich wollte ich nun gegen, doch es hatte bereits wieder stärker zu regnen angefangen und die Mönche erlaubten es mir nun sogar, während der Messe sitzen zu bleiben und weiter zu arbeiten. Besucher waren ohnehin keine anwesend. Die Messe war allein für zwei der drei Mönche, die hier lebten. Dennoch zelebrierten sie volle eineinhalb Stunden. Das nenne ich mal ein beachtliches Durchhaltevermögen. Anschließend luden sie mich sogar zum Essen ein, wobei wir die Einladun noch einmal auf ein Essen to go ummünsten, damit auch Heiko etwas abbekam. In einer kurzen Regenpause lief ich hinunter in den Wald. Ein paar Äste waren von den Bäumen gefallen und ein kleinerer davon hatte auch unser Zelt erwischt. Doch er hatte keinen Schaden angerichtet und auch sonst war alles in bester Ordnung. Ich hatte mir also vollkommen umsonst Sorgen gemacht. Der Waldboden war bei weitem nicht so schlammig, wie in meiner Vorstellung und er hatte alles Wasser astrein aufgesogen. Kaum war ich ins Zelt geschlüpft, ging das Unwetter von neuem los. Es waren nun bereits viereinhalb Stunden, in denen der Regen und das Gewitter über uns tobten. Heiko hatte vermutet, dass es direkt über uns stehen geblieben war, da er aus dem Wald heraus den Himmel nicht sehen konnte. Von meinem Platz in der Kirche hatte ich jedoch beobachten können, wie die Wolken über den Himmel rasten. Es war also kein kleines, langes Gewitter, sondern ein gewaltiges, das endlos über uns hinweg zog.

Nach dem Essen kehrte ich noch einmal zu den Mönchen zurück. Dieses Mal bekam ich einen Platz in dem kleinen Häuschen, in dem sie selbst lebten. Ich saß in einer Mischung aus Küche und Flur. Rechts stand eine lange Reihe an Tischen, links an der Wand standen Bänke, die man sich zum Essen herüberziehen konnte. Auf der einen Seite konnte ich ein kleines Wohnzimmer mit Kachelofen erkennen und weiter hinten mussten sich die Schlafräume befinden. Oder der Schlafraum, denn von der größe des Häuschens würde ich eher darauf tippen, dass sie alle drei in einem Zimmer schliefen. Sie lebten also auf ihre Weise ebenfalls sehr spartanisch und einfach. Obwohl sie einen Großteil ihrer Nahrung selbst anbauten, glaubten sie aber nicht daran, dass man ohne Geld leben konnte. Ich hatte bereits zuvor erzählt, dass ich mich ebenfalls für ein Leben als Mönch entschieden hatte und dass für mich auch der Verzicht auf Geld dazugehörte. Nun gab mir einer der Mönche einige Geldscheine und meinte: "Falls es doch nicht klappt, haben wir zu dritt beschlossen, dass wir dir etwas mitgeben möchten. Es ist Ukrainisches Geld und es hat einen Wert von rund zehn Euro. Das ist nicht viel, aber es bringt dich in Notzeiten vielleicht durch." Ich bedankte mich und wir kamen noch etwas tiefer ins Gespräch über das Leben als Mönch und den Glauben allgemein. Schließlich fragte er mich nach meinem Namen. Nach einem kurzen Stocken sagte ich: "Francesco und du?" Lustigerweise geriet er ebenfalls ins stocken und meinte: "Weißt du, durch den Eintritt ins Kloster habe ich meinen Namen geändert. Eigentlich hieß ich Georg, aber nun ist mein Name Bartolomeos. Ich weiß, dass mein neuer Name zu mir gehört, aber so ganz daran gewöhnt habe ich mich noch nicht." Ich musste grinsen. Genauso ging es mir auch. Ich erfuhr, dass die drei von ihrem Orden ausgegliedert worden waren, um hier ein neues Kloster zu eröffnen. Seit etwas über einem Jahr waren sie nun dabei und noch immer gab es jede Menge zu tun. Als wir uns verabschiedeten meinte Bartolomeos: "Vielen Dank für deinen Besuch! Wenn ihr wieder einmal nach Rumänien kommt, dann seit ihr hier jederzeit herzlich willkommen. Bis dahin haben wir dann wohl auch unser Gästehaus fertig und können euch etwas mehr anbieten, als Strom und ein Abendessen."

Am nächten Morgen legten wir die letzten Kilometer bis nach Siret zurück, dem letzten Ort vor der Grenze. Hier wollten wir nun als aller erstes die 100 Lei ausgeben, die wir von dem alten Mann bekommen hatten und die uns in der Ukraine nicht mehr helfen würden. 100 Lei waren rund 20 Euro und wir mussten feststellen, dass es gar nicht so leicht war, sie hier auf den Kof zu hauen. In einem Supermarkt kauften wir drei Kilo Erdnüsse und zwei Kilo Chips. Damit hatten wir kaum mehr als die Hälfte verbraucht. Zum ersten Mal wurde uns so richtig bewusst, wie günstig die Lebenshaltungskosten in diesem Land waren. Erst kurz vor der Grenze an einer Tankstelle, gelang es uns, den Rest für Eis, Wasser und Süßigkeiten zu verprassen. Mit den Essensspenden der Mönche waren wir nun so sehr aufgepackt, dass Heiko seinen Wagen kaum noch ziehen konnte. Zuvor trafen wir an einer Straßenkreuzung jedoch noch einen Mann namens Anton, der stolz berichtete, dass sein Name genau wie wir aus Deutschland stammte. Er hatte viel in Deutschland und der Schweiz gearbeitet, teilweise als Kellner und teilweise als Schweißer. Er schenkte uns je ein Fladenbrot und erzählte, dass es hier in der Stadt am letzten Abend einen extremen Hagelschauer gegeben hatte, der ganze Häuserfronten beschädigte. Er zeigte auf einige Dellen in den Blechen und und auf Abplattungen im Putz. Hätten wir diese Hagelkörner abbekommen, hätte es unser Zelt in tausend Stücke zerrissen. Doch der Wald und die vier Kilometer Abstand hatten uns geschützt.

Von Siret aus waren es noch drei Kilometer auf einer großen und überaus unangenehmen Hauptstraße, bis wir die Grenzposten erreichten. Der Grenzübergang wurde wieder einmal eine Begegnung der dritten Art. Die Autoschlange war schier endlos und die Fahrer hatten sogar schon ihre Motoren ausgemacht, weil es so lange dauerte, bis etwas weiter ging. Der Fahrer eines Bullis war dazu übergegangen, seinen Wagen einfach von Hand anzuschieben, wenn es weiter ging, da es sich nicht lohnte, für diese kurzen Distanzen jedes Mal den Motor anzumachen. Wieder einmal waren wir froh, dass wir zu Fuß unterwegs waren, denn so konnten wir einfach an der Schlange vorbei gehen, bis wir eine Schranke erreichten. Wenn man eines mit Sicherheit sagen konnte, dann ist es, dass man hier großen Wert darauf legte, dass niemand einfach so davon fahren konnte. Neben der Schranke gab es noch eine Stahlstange, die bei Bedarf blitzartig aus dem Boden geschossen kam, sowie eine Reihe von Spikes, also von Klingen, die nach oben klappten um die Reifen zu zerfetzen. Bei uns kam davon zum Glück nichts zum Einsatz. Stattdessen trat eine adrette Dame in einer russischen Militäruniform auf uns zu, fragte nach unseren Pässen und drückte uns dann einen Zettel in die Hand. Damit sollten wir weiter zur eigentlichen Grenzkontrolle gehen. Auf der rumänischen Seite war alles recht schnell abgehandelt. Auf der ukrainischen sah es hingegen etwas anders aus. Auch hier standen mehrere Frauen in einer Militäruniform herum, die sie hervorragend kleidete. Mit dem Plastikstrampler der bulgarischen Grenzpolizistin hatte das hier nichts zu tun. Diese Uniformen wirkten absolut sexy und man konnte sofort verstehen, woher diese ganzen Drill-Madam-Fantasien kamen. Wirklich etwas zu tun hatten wir mit den Damen jedoch nicht. Stattdessen kam ein älterer, dickbäuchiger und griesgrämiger Mann auf uns zu, verlangte nach unseren Pässen und verschwand damit, ohne ein Wort zu sagen. Kurz darauf erschien ein junger Mann in einer schwarzen Uniform und sprach mit uns auf ukrainisch. Unsere Frage nach Englisch beantwortete er war mit ja, doch wechseln tat er seine Sprache dadurch nicht wirklich. "Was wollt ihr in der Ukraine!" war das einzige, was er für uns verständlich fragte. Als ich antworten wollte, fing er an um mich herumzulaufen und meinen Wagen zu beäugen. Heiko erzählte mir später, dass dies eine beliebte Taktik war, um Menschen nervös und unruhig zu machen, wenn man wollte, dass sie sich verplapperten. Ich empfand es hingegen als äußerst unhöflich und stellte meinen Erklärungsversuch sofort wieder ein. Wenn der Mann eine Antwort von mir wollte, dann solle er mir auch gefälligst zuhören. Doch er wollte keine. Stattdessen deutete er auf meine Trinkflasche und fragte: "Was das? Waffe? Drogen?" "Nein!" sagte ich, "eine Trinkflasche!"

Noch einmal ging er um uns herum, schaute sich alles genau an und fragte eine Menge Zeug, von dem wir außer "Marihuana" und "Alkohol" nichts verstanden. Dann verschwand er wieder. Noch immer hatten wir keine Ahnung, wo unsere Pässe waren und noch immer gab es niemanden, der mit uns sprach. Lediglich ein Mann in einem Kleinbus, der ebenfalls auf seinen Pass wartete, klärte uns ein wenig auf. Die Pässe wanderten von einem Büro zum nächsten und übernächsten und wurden dann am Ende irgendwann wieder ausbespuckt. Dann bekam man eine Art Passierschein, den man einem weiteren Beamten an einer weiteren Schranke übergeben musste. Der Mann fragte uns auch, was wir in der Ukraine machten und gab dann einen bemerkenswerten Kommentar über die Frauenwelt des Landes von sich: "Bei uns gibt es viele heiße Frauen, vor allen in den Städten. Wenn du hier einen Schwanz hast, hast du immer was zu tun!" Er sagte er flappsig und scherzhaft, doch er meinte es, wie er es sagte. Heftiger hätte man die Stellung der Frauen hier kaum auf den Punkt bringen können. Es ging nicht darum, dass es hier viele tolle Frauen gab, so dass man als Mann kaum wusste, mit welcher man als erstes ausgehen oder mit welcher man am liebsten sein Leben verbringen wollte. Es ging nur darum, dass der Schwanz eine Beschäftigung fand. Wir waren also schon wieder beim alten Verkaufens-System angelangt, bei dem die Frau nicht mehr als eine Ware war. Und das, was man um uns herum wahrnehmen konnte, spiegelte seine Worte eins zu eins wieder. Die Grenzbeamtinnen in ihren sexy Uniformen waren ganz klar nicht eingestellt worden, weil es dabei um ihre Qualifikationen ging, sondern weil sie eine verdammt gute Figur machten. Und anders herum hatten sich die Frauen auch nicht für diesen Job beworben, weil es ein Traumberuf war, den ganzen Tag an der Grenze herumzustehen und den Menschen Zettel in die Hand zu drücken. Sie waren hier, weil sie sich die Chance erhofften, einen Traumprinzen ergattern zu können, der ihnen einen Weg hinaus in ein besseres Leben ermöglichte. Wenn man es bis zur Grenze geschafft hatte, schaffte man es auch darüber hinaus. Und wo hatte man die Chance, mehr reiche Ausländer kennenzulernen, als hier? Es war ein Wechselspiel, das sich gegenseitig bedingte und das keinem der beiden Geschlechter wirklich gut tat.

Hinter der Grenze sah zunächst alles wieder genauso aus, wie davor. Wir wanderten weiter an einer riesigen Straße endlang, die nun jedoch ein bisschen ruhiger war, da ja alle Autos an der Grenze aufgehalten wurden. In die Gegenrichtung fuhr fast permanent jemand, aber in unsere kam nur etwa alle zehn Minuten ein Auto. Ein Reisebus, der bereist vor uns den Grenzposten erreicht hatte, überholte uns erst nach einer guten Dreiviertelstunde. Eine Grenzüberquerung mit dem Auto war hier also wirklich ein Tagesprojekt. Nach gut 10 Kilometern konnten wir auf eine Nebenstraße abbiegen, die jedoch noch immer unglaublich viel Verkehr hatte. Je weiter wir uns von der Grenze entfernten, desto mehr Autos fuhren auf der Straße und langsam wurde es regelrecht unerträglich. Hinzu kam ein harter, steifer Gegenwind und ein eiskalter Nieselregen, die beide nicht dafür sorgten, dass es besonders viel angenehmer wurde. Abgesehen von der Sprache merkte man jedoch zunächst keinen Unterschied zu Rumänien. Die Häuser sahen noch immer gleich aus, es gab noch immer die gleichen Brunnen und auch die Gärten waren gleich aufgebaut. Allerdings eher wie im südlicheren Teil Rumäniens. Schließlich erreichten wir eine weitere Kreuzung, an der wir noch einmal auf eine kleinere Nebenstraße abbiegen konnten. Hier wurde es nun etwas ruhiger, wenngleich noch immer erstaunlich viel los war. Nach einigen Metern wurden wir von einem Autofahrer angehalten, der uns einreden wollte, dass wir uns verlaufen hatten. Diese Straße endete seiner Meinung nach und wir würden nie dorthing gelangen, wo wir hinwollten. Wo immer das auch war, denn das wusste er ja nicht. Erst später wurde uns klar, dass er glaubte, wir wollten nah Rumänien wandern und dass er uns darauf hinweisen wollte, dass es am Ende dieser Straße keinen offiziellen Grenzübergang gab. Seiner Ansicht nach war es das Beste, wenn wir einfach an der Hauptstraße entlang wanderten, bis wir nach Ungarn kamen. Wandern war also wohl auch in diesem Land nicht allzu verbreitet.

Tatsächlich führte uns die Straße genau in den Ort, in den wir kommen wollten. Nur gab es auch hier leider keine Übernachtungsmöglichkeit. Anders als in Rumänien gab es nun zwar Bäume, aber dafür war alles komplett besiedelt und es gab keine Möglichkeit einen ungestörten Platz zu finden. Außerdem wussten wir noch nicht, wie die Menschen hier auf Wildcamper reagieren. Also wanderten wir weiter und weiter, bis wir schließlich auch den nächsten Ort hinter uns gelassen hatten. Erst dann entdeckten wir ein Maisfeld, hinter dem ein freier Platz zum Zelten war. Von hier aus war es nicht weit, um zurück zu einer Bar zu gelangen, in der ich Internet und Strom nutzen konnte. Hier hatte ich auch den ersten echten Kontakt zu den Einheimischen. Er war durchweg positiv und ich war begeistert von der Freundlichkeit und Achtung der Menschen. Obwohl wir uns so gut wie nicht verständigen konnten herrschte sofort eine herzliche und angenehme Atmosphäre. Ich bekam sogar ein kleines Abendessen aus dunklem Brot und Schweinespeck. Wir waren also wieder im Land des Specks angekommen, wie damals im Balkan. Als die Bar schloss konnte ich auf der Terrasse weiterarbeiten. Außer mir saßen hier noch einige ältere Herren mit ihrem Bier in der Hand. Obwohl sie recht betrunken waren, ließen sie mich aber vollkommen in Ruhe und versuchten nicht einmal, ein Säufergespräch aufzunehmen. Rundum also eine entspannte und angenehme Sache.

Spruch des Tages: Das ist wirklich mal eine ernstzunehmende Grenze!

Höhenmeter: 130 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 16.976,27 km Wetter: sonnig und heiß, später regnerisch Etappenziel: Zeltplatz im Wald, kurz vor 90321 Pushkino, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.