Tag 975: Das Land wandelt sich

von Heiko Gärtner
09.09.2016 22:57 Uhr

19.08.2016

Bevor wir aufbrachen, bekamen wir noch ein Frühstück im Haus der Bürgermeisterin. Es gab heißen Hollundersaft und frisch in Butter gebratene Eier. Besser konnte man also kaum in den Tag starten. Unsere Schule lag gleich am Beginn des Weges, der uns über den Pass ins Nachbartal führte. Es war ein überwucherter Feldweg, der kaum mehr verwendet wurde und den die Landmaschienen leider recht übel zugerichtet hatten. Dafür aber führte er über ruhige, schöne Hügelkuppen hinweg. So waren unsere Wanderwege ganz am Anfang unserer Reise gewesen und die gesamte Umgebung gab uns nun wieder ein Gefühl von Heimat. Es waren nur noch Nuancen, die das Wandern hier von einer Wanderung in Bayern oder Österreich unterschieden und solange keine Menschen oder Besiedelungen sichtbar waren, merkte man überhaupt keinen Unterschied.

haengebruecke franz zerstoert

Was die Menschlichkeit anbelangte begannen wir die Ungarn nun richtig zu vermissen. Die Menschen hier waren kein unangenehmes Volk, aber sie waren sehr reserviert und sehr unstet in ihren Aussagen und Entscheidungen. Heute bekamen wir gleich mehrfach eine Zusage für einen Platz, die sich dann wieder in eine Absage wandelte, weil irgendjemand irgendetwas übersehen hatte. Es schien wirklich, als wäre das ganze Volk ein Spiegel von mir, da jeder auf seine Art vollkommen verplant war und sich selbst wie auch allen anderen das Leben schwer machte. Fast den ganzen Tag wanderten wir über kleine Sträßchen durch eine schöne, ruhige Gegend. Erst als wir uns auf die Schlafplatzsuche machten, kamen wir plötzlich wieder an eine Hauptstraße, die so stark befahren war, dass man es kaum aushielt, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Und doch gab es hier Häuser mit Gärten, hübschen Beeten, Planschbecken und Gartenstühlen. Teilweise waren sie gerade erst vor ein oder zwei Jahren hier her gebaut worden. Sie waren top gepflegt und überall sonst auf der Welt wäre es sicher schn gewesen, sich im Sommer mit einem Buch auf die Terrasse zu setzen oder abends eine kleine Grillparty zu veranstalten. Aber hier war es kaum vorstellbar. Allein in den zwei Minuten, die eine alte Dame brauchte, um mit dem Pfarrer zu telefonieren, fuhren 163 Fahrzeuge an uns vorrüber. Davon waren 87 LKWs, 14 Busse und 3 Traktoren. Heiko hatte sich die Mühe gemacht, sie zu zählen. Wie konnte man hier freiwillig leben wollen?

Nachdem uns auch diese Pfarrer zu und dann wieder abgesagt hatte, folgten wir der Hauptstraße für einige Kilometer und bogen dann in ein Seitental ab. Hier versuchten wir unser Glück an der nächsten Kirche noch einmal, wobei wir dieses Mal zum umgekehrten Ergebnis kamen. Der Pfarrer war gerade dabei, sich ein Abendessen zuzubereiten und zeigte daher nicht das geringste Interesse, uns weiterzuhelfen. Kaum waren wir weg, packte ihn jedoch das schlechte Gewissen und er fuhr uns im Auto hinterher. Zwei Orte weiter holte er uns ein und bot uns doch noch eine Lösung an. Unsere Wagen wurden in einer Kirche verstaut und er fuhr uns mit dem Auto die gesamte Strecke zurück zur Hauptstraße und noch einige Kilometer weiter in eine Kleinstadt. Dort bezahlte er eine Hotelübernachtung für uns, steckte uns 25€ zu und gab uns noch Essensgutscheine für die gegenüberliegende Pizzeria im Wert von 32€. Insgesamt hatte er nun also fast 100€ für uns ausgegeben, obwohl wir mit einem einfachen, kostenlosen Platz in seinem Gemeindehaus zufrieden gewesen wären. Das dumme dabei war, dass wir nun wieder direkt an der Hauptstraße schliefen, von der wir uns schon so schön weit entfernt hatten. Dafür bekamen wir dann aber jeder eine Riesenpizza, die einiges wieder gut machte.

Spruch des Tages: Die ungarischen Slowaken waren mir irgendwie lieber.

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 25 km Gesamtstrecke: 17.692,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Pfarrhaus, Janowice, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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