Tag 986: Auschwitz – Teil 2

von Heiko Gärtner
16.09.2016 04:27 Uhr

Fortsetzung von Tag 985:

Der zweite heftige Trauerschub, der mich berkam stand im Zusammenhang mit einer Schrifttafel draußen auf dem Gelände. Sie war einem Mönch geweiht, der sein Leben geopfert hatte, damit die Soldaten ein anderes verschonten. Warum mich diese Schrift den Tränen nahe bracht weiß ich nicht, aber es berührte mich zu tiefst. Später las ich das gleiche noch einmal über einen Pfarrer, der ebenfalls sein eigenes Leben für das eines Mitgefangenen gab. Im ersten Moment empfand ich dies als großes Opfer, doch beim zweiten Gedanken fragte ich mich, ob diese Geste wirklich so edel war, wie sie wirkte. Allen war bewusst, dass sie in einem Todescamp waren. Die Frage war also niemals ob jemand stirbt oder nicht, sondern nur wann. Ist es da also wirklich so eine große Hilfe, wenn man sich selbst für ein Ende der Qualen entscheidet und bewusst den Tod wählt? Ohne die Geschichte dazu lässt sich das schwer sagen, aber über diese konnte man hier leider nichts herausfinden. Auch dies fehlte vollkommen. Wenn doch einzelne Schicksale und Geschichten bekannt waren, warum ließ man die Besucher nicht daran teilhaben. Gerade dies hätte ebenfalls dazu führen können, dass sie sich ins Geschehen einfühlten und diesen Besuch hier ernst nahmen. Doch wieder wurde ganz bewusst darauf verzichtet.

Warum war es den Museumsbetreibern so wichtig, dass hier keine Gefühle aufkamen? Warum musste alles schön und glatt und kalt und steril sein? Heiko, der versuchte, so viele Impressionen wie möglich einzufangen, fiel dabei noch ein weiterer Aspekt auf. Aus der Zeit des dritten Reiches gibt es unzählige Fotografien und Bildaufnahmen und die damalige Technik war bereits so weit, dass man eine wirklich gute und klare Qualität liefern konnte. Dennoch gab es fast nur undeutliche, verschwommene, unscharfe oder siluettenhafte Abbildungen, auf denen man kaum etwas erkennen konnte. Bilder, die jedoch nur Gesichter oder andere harmlose Szenerien zeigten, waren hingegen gestochen scharf und klar. Warum? Es war so auffällig, dass es kaum ein Zufall sein konnte.Hinzu kam, dass sämtliche Fotobereiche verspiegelt waren, so dass sich fast immer das Licht darin reflektierte und man noch weniger erkennen konnte. Bei dem heutigen Stand der Technik war es ohne weiteres möglich, Gläser herzustellen, die nicht spiegelten, oder sich für eine andere Ausstellungstechnik zu entscheiden.

Und doch wählte man Bewusst ein Material, dass dem Besucher das Erkennen und genaue Betrachten der Fotos nahezu unmöglich machte. Auch gab es so gut wie keine Bilder vom Leid oder von den damaliegen Zuständen. Insgesamt gab es nur wenige Bilder, die direkt von hier stammten. Die meisten waren aus Amsterdamm, Berlin, Warschau, Krakau oder anderen Orten und zeigten die Menschen vor ihrer Deportierung. Alles blieb an der Oberfläche und mit jedem neuen Ausstellungsraum bekamen wir mehr und mehr den Eindruck, als wäre diese Gedenkstätte nicht zur Aufklärung, sondern zur Vertuschung des Holocaust gedacht. Überall standen Informationstafeln, wir befanden uns am Originalschauplatz des Geschehens und trotzdem hatte man nicht das Gefühl, dass hier je etwas geschehen war. Wieso erfuhr man nichts über das Leben? Es gab Eckdaten über die Menge, die Zusammenstellung, das Alter und die Lebensdauer der Menschen, die hier gefangen gehalten wurden, aber keine echten Informationen darüber, was sich hier wirklich erreignet hatte. Wie wurde gegessen? Was bekamen die Menschen? Wie wurde mit Kälte umgegangen? Wie wurden die Gefangenen behandelt? In einem solchen Camp muss es zu unzähligen Vergewaltigungen, Misshandlungen und anderen Übergriffen gekommen sein. Warum erfährt man darüber nichts? Wie verhielten sich die Gefangenen untereinander?

Wer dauerhaft unter Todesangst in großen Gruppen zusammengepfercht wird wie Hühner in einer Legebatterie, dessen Nerven müssen nach kurzer Zeit blank liegen. Es wird also kaum immer alles harmonisch abgelaufen sein. Stellt euch nur eine einzige Mutter vor, die Panik bekommt, weil ihr Kind verschlept wurde. Stellt euch vor, wie wenig ausreicht, damit Menschen auf einem Festival in eine Massenhysterie verfallen. Und diese Menschen wollen dort sein und sind auch gerne dort. Wie viel krasser ist es also, wenn Menschen einfach eingesperrt werden, Tag täglich vom Tod umgeben sind, bis zur Erschöpfung ackern müssen und kaum genug Wasser und Nahrung zum Überleben bekommen?

Und schon kommt die nächste Frage auf: Was wurde hier überhaupt gearbeitet? Auschwitz war ein Arbeitslager, doch wir konnten nur Wohngebäude sehen. Was also war die Aufgabe der Gefangenen? Wo und wie wurde sie erledigt? Wie wurde das Thema Hygiene angegangen? Gab es immer wieder Seuchen? Warum gab es keine Großaufstände? Wenn alle Gefangenen gleichzeitig einen großangelegten Ausbruch geplant hätten, hätte dieser sicher funktioniert. Was also hielt sie davon ab? Und was dachten und fühlten die Wärter in dieser Zeit? Dachten und fühlten sie überhaupt? Oder waren sie so sehr unter Drogen gesetzt worden, dass sie handelten, ohne es zu merken?

Schließlich erreichten wir die sogenannte Todesmauer. Hier hatten früher fast alle Erschießungskommandos stattgefunden. Dass eine unglaubliche Trauer, Schwere und Betroffenheit von der Mauer ausging, war noch immer deutlich zu spüren, doch auch hier hatte man versucht, durch ein kunstvolles Gebilde die Gefühle zu überlagern und abzuschwächen. Wieder ging es darum so viel wie möglich vom ursprünglichen Geschehen zu verstecken. Es kam uns ein bisschen so vor, als wollte man die Gedenkstätte bewusst kindertauglich halten, so dass sich hier niemand fürchten musste. Aber konnte dies wirklich das Ziel sein?

In einem der Gebäude konnte man in den Keller hinabsteigen, wo sich mehrere Zellen für Gefangene befanden, die eine gewisse Zeit in Einzelhaft leben mussten. Abstrackt war hier, dass man nur durch kleine Gucklöcher in den Türen in die Zellen blicken konnte. Der Besucher wurde also gezwungen, die Perspektive ver Wärter einzunehmen, nicht aber die der Gefangenen. Warum? Ein bisschen bekam man den Eindruck, als wäre das ganze eher eine Nazi-Gedenkstätte als ein Andachtsort für ihre Opfer. Es war fast so, als wollte man den Nazis hier nicht auf die Füße treten, weil sie ja schließlich diejenigen waren, denen man die hiesigen Einnahmequellen verdankt.

Einen Gang weiter kamen wir in einen Bereich mit Dunkelzellen. Es gab winzige Lucken im unteren Bereich der Wände, durch die man in einen Raum gelangte, der gerade einmal groß genug war, um aufrecht darin stehen zu können. Er war vollkommen dunkel und leer. In einen von ihnen konnte man sich als Besucher hineinstellen, wobei hier die Wände zur Hälfte eingerissen waren. Als wir uns später die Bilder anschauten, die Heiko in diesem Raum gemacht hatte, stellten wir fest, dass um meinen Körper ein seltsamer Schatten zu sehen war, der nicht wirklich zu den Lichtquellen passen wollte. Ob der Fotoaparat hier wohl mehr sichtbar gemacht hat, als man mit dem bloßen Auge hätte erkennen können?

Im Gang über dem Verließkeller waren unzählige Portraitbilder der Gefangenen an der Wand aufgehangen. Sie waren damals von den Wärtern gemacht worden, um ihre Gefangenen zu Karieren und zu Registrieren. In den ersten Jahren wurde mit allen Neuankömmlingen so verfahren. Später beschränkte man sich dabei auf die politischen Gefangenen, während die Juden einfach weiter in die Gaskammern gebracht wurden, ohne auch nur zu registrieren, wer die Menschen waren. Unter den Bildern stand jeweil die Zeit, die sie hier im Lager verbracht hatten, bis sie starben. Bei den Frauen dauerte der Aufenthalt im Schnitt 2 Monate, bei den Männern etwa ein Jahr.

Im weitergehen kamen noch mehr Fragen in uns auf, auf die wir einfach keine Antwort finden konnten. Warum hatte es dieses Lager überhaupt gegeben? Warum gab es eine Judenverfolgung? Die offizielle Antwort ist, dass sie auf dem persönlichen Hass von Adolf Hilter beruht, aber kann dies wirklich stimmen? Erst einmal, warum baut ein einzelner Mensche einen so immensen Hass auf eine ganze Religionsgruppe auf, dass er sie vollkommen vernichten will?

Was für ein Trauma muss hier vorgelegen haben? Vor allem, wo die Juden eine so heterogene Gruppe sind. Sie gehören unterschiedlichsten Nationen an, haben verschiedene Kulturen, sind teilweise stark religiös und teilweise überhaupt nicht. Es ist ein so breites Spektrum, dass es fast unmöglich ist, einen verallgemeinerten Hass gegen sie aufzubauen. Doch selbst wenn dies so war, hätte Hitler allein diesem Hass kaum auf diese Weise luft machen können. Er war ein Staatoberhaupt und ein Diktator, also hatte er durchaus einen gewissen Einfluss. Aber eine persönliche Fede in diesem Ausmaß zu führen, wäre auch für seine Position zu viel gewesen.

Denn es ging ja nicht einfach nur um einen Massenmord. Hinter der Judenverfolgung und den Konzentrationslagern steckte eine gigantische Logistik, eine Maschinerie in einem Ausmaß, das kaum mehr vorstellbar ist. Überlegt nur einmal, was es für Kosten verursacht, alle Beteiligten dieser Religionsgemeinshaft ausfindig zu machen, notfalls zu verfolgen und aufzuspüren, zu kategorisieren, zu katalogisieren, abzutransportieren und schließlich massenhaft niederzumetzeln! Allein hinter den Gaskammern steckte bereits eine gigantische Industrie. Niemand, auch kein Adolf Hitler konnte so etwas im alleingang aufbauen, wenn nicht auf irgendeine Art und Weise ein Nutzen dahinter stand. Wer also profitierte davon? Und wie? Und warum?

Kein Unternehmen ist bereit Milliardenbeträge in ein Projekt zu investieren, das keinen Nutzen hat, außer dem Wahnsinn eines geisteskranken Diktator zu fröhnen. Nicht anders ist es mit dem berüchtigten und vielgehassten Dr. Mengele. Auch er ist laut den Geschichtsbüchern ein wahnsinniger, geisteskranker Bastard, der eine perverse Freude am verstümmeln von Menschen hatte. Vielleicht war dies auch wirklich so, aber ist dies wirklich alles?

1,4 Millionen Menschen verloren in Auschwitz ihr Leben und alle wurden nur von einem einzigen verrückten Arzt betreut? Oder war er vielleicht nur das krönende Oberhaupt einer Ärzteschaft, die ganz gezielt Experimente an Menschen durchführte, um damit auf medizinische Erkenntnisse zu kommen? Fakt ist, dass diese Erkenntnisse heute noch immer zu einem großen Teil in der Schulmedizin verwendung finden. Seit ende des zweiten Weltkrieges gibt es so gut wie keine echten Neuerfindungen mehr, was Medikamente anbelangt.

Fast alle pharmazeuthischen Mittel entstanden aus den Experimenten der Nazi-Ärzte. Ist es also nicht etwas scheinheilig, einen Menschen auf der einen Seite als Frankenstein zu verteufeln und auf der anderen Seite eine Milliardenindustrie auf genau diese Forschungen aufzubauen, die wir heute als modernste und beste Medizin aller Zeiten ansehen? Noch heftiger ist es, wenn man bedenkt, dass auch heute noch immer Menschenversuche durchgeführt werden, bei denen die Ärzte haufenweise Patienten töten. Der Unterschied ist nur, dass dies nun nicht mehr mit Gefangenen passiert, sondern mit Freiwilligen, denen man zuvor einredet, dass sie ohnehin sterben werden. Und dieser feine Unterschied führt dazu, dass die heutigen Ärzte als Helden gefeiert werden, obwohl sie noch immer ähnliche Methoden anwenden, wie die Ärzte im KZ.

Vom Bereich der Gefangenen kamen wir schließlich in den Bereich der Wärter, in dem sich auch eine unterirdische Verbrennungshalle befand. Auf einem Schild stand: "Hier wurden 1000de von Menschen getötet" So richtig glauben konnten wir dies nicht, denn es war ein flache Halle mit dicken Steinwänden. Erschießen konnte man hier niemanden, jedenfalls nicht, wenn der Schall einen nicht selbst ebenfalls umbringen sollte. War dies also wirklich eine Todeshalle gewesen oder kamen hier lediglich die Leichen an, die überall sonst auf dem Gelände getötet wurden?

Auffällig war auch, dass es keine einzige Beschilderung auf Deutsch gab. Es gab Polnisch, Englich, teilweise Holländisch und noch einige andere Sprachen. Aber kein Deutsch. War es nicht vor allem auch deutsche Geschichte, um die es hier ging?

Als wir wieder ins Freie traten waren wir noch immer vollkommen in einem Gefühlsmischmasch gefangen. Auf der einen Seite hatten wir so gut wie nichts zu sehen bekommen, auf der anderen war es genau dies, was uns betroffen machte. Wieso hatte man hier alles daran gesetzt, dass die Menschen den Aufenthalt als einen angenehmen und unterhaltsamen Ausflug wahrnahmen? Ständig hörte man, dass es wichtig war, die Geschichte am Leben zu erhalten, damit sie nicht in Vergessenheit geriet und sich dadurch wiederholen konnte. Sogar hier im Museum stand dieser Satz groß an eine Wand geschrieben. Und doch ging es hier genau darum. Vor aller Augen vergessen zu lassen, dass es dieses Kapitel gab, so dass einer Wiederholung Tür und Tor geöffnet wurden.

Der letzte Teil der Besichtigung führte uns in das vier Kilometer entfernte Birkenau. Hier befand sich das Lager Auschwitz II, in dem sich auch die Gaskammern befunden hatten. Ein Shuttelbus verband die beiden Gelände mit einander und so wurden wir nach einer rund 10 Minütigen Fahrt wieder ausgespuckt. Beim Wandern an größeren Straßen hatten wir schon oft festgestellt, dass Busse von außen sehr unangenehme Fahrzeuge sind. Das es von innen noch viel schlimmer ist hatten wir jedoch ganz vergessen und so waren wir Heilfroh, als wir endlich wieder aussteigen durften.

Birkenau empfing uns mit dem Befühmten Bahnhofsportal, das man auch aus den alten Filmen kennt. Allein dieser Anblick reichte aus, um einen zu deprimieren. Das Gelände in Birkenau war riesig und allein der Bahnsteig war gut einen Kilometer lang. Er bot Platz für vier Züge nebeneinander und angesichts der Masse an Wohngebäuden und der Geländegröße insgesamt fragten wir uns, ob 1,4 Millionen Menschen wirklich ausreichten, oder ob es nicht sogar noch viel mehr gewesen waren.

Ganz am hinteren Ende der gleise hatten sich früher die Gaskammern befunden. Zu unserer großen Überraschung waren sie nicht wieder aufgebaut worden. Es gab hier fast nichts mehr zu sehen, von einem abstrackten und nichtssagenden Kunstwerk einmal agesehen. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet dieser Teil nicht aufgebaut worden war, wo doch alles andere hergerichtet wurde? Noch einmal verstärkte sich der Eindruck, dass es ganz bewusst darum ging, kein Gefühl zu übermitteln, sondern nur ein bisschen Wissen in Form von trockenen, langweiligen Fakten, die bereits nach Minuten wieder verblassen. Hilfreich konnte dies nicht sein, nicht wenn es darum ging, eine Geschichte daran zu hindern, sich zu wiederholen.

Spruch des Tages: Die Geschichte nur herunterzubeten, ohne ein Gefühl zu vermitteln, wird nicht verhindern, dass sie sich wiederholt.

Höhenmeter: 420 m Tagesetappe: 30 km Gesamtstrecke: 17.981,27 km Wetter: Sonnig und extrem heiß Etappenziel: Veranstaltungshaus der Stadtgemeinde, 683 52 Zbýšov und Slavkova, Tschechien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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