Tag 991: Fahrbare Hüpfburgen

von Heiko Gärtner
20.09.2016 20:35 Uhr

05.09.2016

Die letzten Tage hatten uns so sehr geschafft, dass wir heute kaum aus dem Bett kamen. Der Wecker klingelte wie üblich um viertel nach acht aber wir schafften es gekonnt, ihn zu ignorieren und erst eine gute Stunde später aufzustehen. Das Ausschlafen hat wieder einmal richtig gut getan und so konnten wir uns dann einigermaßen erfrischt auf den Weg machen. Heute waren wir davon sogar noch mehr begeistert als gestern und wir genossen die Ruhe, die Stille und die Friedlichkeit, die uns hier umgab. Das Wochenende war vorbei und mit ihm waren nun auch die Radfahrer verschwunden. Wir waren also allein und es war fast ein bisschen ungewohnt, zu wandern, ohne dass man von permanenter Aggression und Hecktig umgeben war.

Im Laufe des Vormittages zog sich der Himmel immer weiter zu und gegen Mittag begann ein heftiger Regenguss. Um einigermaßen trocken zu bleiben, rannten wir bis zur nächsten Bushaltestelle, um uns dort unterzustellen. Außer uns warteten hier noch eine Mutter mit drei kleinen Kinder sowie einige Schüler aus der gegenüberliegende Mittelschule. Einer von ihnen hatte seinen Schulranzen als Schirm verwendet, um seine coole Frisur zu schützen. Erst an der Haltestelle kam er auf die Idee, dass er nun statt seiner Haare vielleicht seine Schulbücher ruiniert hatte. Hektisch warf er einen Blick hinein und stellte fest, dass sich der Schaden in Grenzen hielt. Ärger würde er wohl bekommen, aber für Hausarrest reichte es wahrscheinlich nicht. Als es ein klein wenig trockener wurde, hüllte ich mich fest in meine Regenkleidung und huschte zum Rathaus hinüber. Auf dem Weg dorthin rannte ein Reh vor mir her. Er hatte sich im Garten der Kirche versteckt und lief nun einfach auf dem Birgersteig durch den Ort, bis es eine möglichkeit fand, seitlich ind Gebüsch zu verschwinden.

Die Frau am Empfang sprach erfreulicherweise Englich und bat mir zwei verschiedene Optionen als Unterstützung an. Entweder könne sie bei Facebook posten, dass wir in der Gegend sind und einen Schlafplatz suchen, in der Hoffnung, dass jemand darauf reagieren und uns einen anbieten würde, oder sie könne uns einen Platz in einer ehemaligen Schule vermitteln, die gut 3km außerhalb des Ortes lag. Ich entschied mich für die zweite Variante und so machten wir uns kurz darauf zu drei sehr langen Kilometern im Regen auf. Das Erdgeschoss der ehemaligen Schule war von einer Familie in eine Druckerei umgebaut worden. Der erste Stock hingegen bestand nun aus einer Ferienwohnung, die an Wanderer, Radfahrer oder andere Menschen abgegeben wurde, die für eine kurze Zeit eine Bleibe brauchten. Es gab hier sogar eine Badewanne. An das letzte Mal, dass wir dieses Vergnügen hatten, konnten wir uns nicht einmal mehr erinnern. Wir nutzten sie aber nicht nur zur Entspannung, sondern auch für eine weitere Sanktion. Auch dies war eigentlich eine Heiltherapie, die beispielsweise in Island oder Japan viel zur Anwendung kam. Wenn man sie jedoch nicht gewohnt war, konnte sie einem im wahrsten Sinne des Wortes ganz schön ins Schwitzen bringen. Es ging dabei ums Abbrühen, also darum, dass Wasser so heiß zu machen, dass es der Körper gerade so eben nicht mehr als unbedenktlich einstuft. Es ist nur ein Unterschied von zwei oder drei Grad zwischen einem angenehm heißen Bad und einem brühend heißen Kochtopf, der einem leichte Verbrennungen zufügt. Wenn man entspannt bleibt, dann ist dieser Moment, in dem man es nicht aushält nur wenige Sekunden lang, denn das Wasser kühlt sehr schnell ab und der Körper verschließt sich gegen die Überhitzung. Gerät man jedoch wie ich in Panik, weil man eine Todesangst in sich spürt, die einem sagt, dass der eigene Körper nun kaputt gehen würde, so dass man sterben müsse, macht man die Situation automatisch schlimmer. Meine Kurzatmigkeit und mein Zappeln führten dazu, dass ich die Hitze gleich noch einmal stärker aufnahm. Wieder war dieses Gefühl da, der Situation nicht entkommen zu können und dadurch sterben zu müssen. Später fanden wir heraus, dass es genau dieser Zustand war, der als einer der wenigen überhaupt noch in der Lage war, mich ins fühlen zu bringen. Wann immer ich die Chance hatte, meine Gefühle abzuschneiden, nutze ich sie. Erst wenn die Todesangst in mir aufkam und ich ihr nicht entkommen konnte, begann ich auch meine Gefühle wahrzunehmen.

Am Abend bekamen wir noch Besuch von unserem Gastgeber, der nicht nur die Druckerei leitete, sondern auch Artikel für die örtliche Zeitung schrieb. Einige Tage nach unserem Besuch schickte er uns den folgenden Link zu: Später kam er noch einmal vorbei und brachte uns einige Eier für ein Omelette. Auch seine beiden kleinen Söhne begleiteten ihn, da sie einmal einen Blick auf die Weltreisenden werfen wollten. Der kleinere von ihnen war zutiefst erstaunt über unsere Wagen und fragte seinen gorßen Bruder, was es damit wohl auf sich hatte. "Ist doch ganz klar!" sagte dieser, "das sind fahrende Hüpfburgen. diese gelben Säcke darin pustet man auf und dann werden sie riesen groß und man kann darauf hüpfen."

Spruch des Tages: Das sind fahrbare Hüpfburgen!

Höhenmeter: 360 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 18.081,27 km Wetter: Bewölkt, windig und regnerisch Etappenziel: Aufenthaltsraum im Kolpinghaus, Poysdorf, Österreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare