Zeit und Ernsthaftigkeit

von Franz Bujor
02.11.2017 15:43 Uhr
Lektion 4: Zeit biegen

Das zweite große Thema, das an diesem Tag auf den Tisch kam war das Verbiegen der Zeit. Darrel hatte vor einigen Jahren einmal etwas zu diesem Thema gesagt und ich hatte nie richtig verstanden, was damit gemeint war. Wie wir auch schon von Einstein wissen ist Zeit keine feste Größe, sondern etwas Relatives, was unter anderem von unserer Geschwindigkeit abhängt. Sie hängt aber auch sehr stark von unserer Einstellung ihr gegenüber ab, sowie von der Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen. In den Verwirrungsfilmen meiner Kindheit hatte ich stets gelernt, dass ich langsam bin. Ich war immer der letzte beim Essen, hatte immer weniger Freizeit, weil ich mit meinen Hausaufgaben länger brauchte als alle anderen Kinder und bekam bis hin zur Uni regelmäßig Punktabzüge in meinen Prüfungen, weil ich aufgrund von Zeitmangel selten alle Fragen beantworten konnte. Da ich all diese Filme als real annahm und über mich glaubte, kam ich zu der Überzeugung, langsam zu sein und nie ausreichend Zeit zu haben. Diese Überzeugung habe ich noch immer.

Später kamen dann weitere Glaubenssätze hinzu. Einer bestand darin, dass ich der Überzeugung war, die Welt retten zu müssen und es mir daher nicht leisten konnte, die ohnehin schon wenige Zeit mit irgendetwas zu verschwenden. Dadurch entstand in mir das permanente Gefühl von Zeitmangel, das niemals enden wollte und das mich seither begleitet. Natürlich ziehe ich mit dieser Überzeugung stets alles an, das benötigt wird, um sie mir zu bestätigen. Im Außen kommen permanent Zeiträuber auf mich zu, die mich von dem Abhalten, was ich eigentlich erreichen will oder die dazu führen, dass ich permanent Dinge, die ich eigentlich schon erledigt hatte, noch einmal tun muss, da sie beim ersten Mal nicht funktionierten. Und im Innen verhalte ich mich natürlich ebenfalls stets so, dass der größtmögliche Zeitmangel entstehen kann, damit meine Erwartungshaltung auch ja nicht enttäuscht wird. Permanent das Gefühl zu haben, dass die Zeit nicht reicht, macht einen hektisch, schluderig, unkonzentriert und unaufmerksam, da man ja in Gedanken stets schon ein bis drei Schritte weiter ist.

Doch dies ist noch nicht alles. Heute beim Tätowieren ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, wie ich ganz aktiv die Zeit so verbiege, dass sie verfliegt ohne dass ich sie nutzen kann. Es ist ein tiefes Gedankenmuster oder eine Gedankenkette aus zwei Hauptteilen, die ich wie ein Mantra in unzähligen Situationen ständig wiederhole.

Der erste Gedanke lautet: „Bald hast du es geschafft und dann wird es wieder besser!“

Immer wenn ich in schwierigen, unangenehmen oder schmerzvollen Situationen bin, kommt dieser Gedanke auf. Er ist verbunden mit dem Gefühl, nur noch ein bisschen durchhalten zu müssen, was nichts anderes ist als der aktive Wunsch, dass die Zeit so schnell wie möglich verfliegen soll. Sobald Shania den ersten Nadelstich ansetzte und ich das pieksen im Rücken spürte, kamen auch diese Gedanken in mir auf. „Das musst du jetzt ein paar Stunden durchhalten und dann kannst du dich in dein warmes Bett legen und entspannen!“ Mein Fokus lag also nicht auf der Fertigstellung des Tattoos, nicht auf der Wahrnehmung des Prozesses und nicht auf der Visualisierung des Kraftbildes, das hier gerade entstand, sondern lediglich auf dem Verfliegen der Zeit. Wie hätte Shania hier auch effektiv und entspannt stechen wollen, wenn ich ihr die Zeit quasi unter dem Hintern wegdrehte?

Der zweite Gedanke war der Gegengedanke, den ich in angenehmen Situationen hatte: „Oje, es gäbe noch so viel zu tun, das auf mich wartet! Wenn die Entspannungsphase rum ist, dann setze ich mich gleich ans Werk und arbeite so viel wie möglich davon ab!“

Wieder lag mein Fokus also nur auf dem Verfliegen der Zeit nicht aber auf ihrem Inhalt, also auf dem, was ich damit anstellte. In den nächsten Tagen achtete ich beim Tätowieren ganz gezielt darauf, wann ich diese Gedanken hatte und lenkte den Fokus dann bewusst wieder zurück auf den Moment und auf den Prozess des Rituals. Je nachdem wie gut es mir gelang kamen wir teilweise verhältnismäßig schnell voran, teilweise auch gar nicht. Theoretisch wäre es möglich gewesen, das ganze Tattoo in nur einem einzigen Tag zu stechen. Wir brauchten hingegen die vollen zwei Wochen, woran man meinen aktuellen Stand im Umgang mit Zeit relativ gut erkennen kann. Dennoch steigerten wir uns nach dem ersten Tag bedeutend und ich schaffte es während des Rituals meine Zeitverfügbarkeit von weit unter 0,1 % auf über 2 % zu steigern. Leider gelingt mir dies nun im Nachhinein beim Schreiben der Berichte und Artikel sowie beim Wandern bei weitem nicht mehr so gut wie in diesen 14 Tagen. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass Shania durch ihre eigene Zeitwahrnehmung einen Großteil dazu beigetragen hat. Auch sie ist nicht gut in dem Bereich, aber wenn sie nur ein paar Prozent über null liegt, zieht sie meinen Schnitt ja bereits deutlich nach oben. Außerdem war während des Rituals die Verbindung mit meinen Krafttieren und den helfenden Wesen der geistigen Welt bedeutend stärker als jetzt, da ich meinen Fokus wieder nur schwer halten kann. Müdigkeit und fehlende Struktur spielen natürlich wie immer auch wieder eine große Rolle. Das Ritual selbst hatte seine eigene Dynamik und gab eine sehr klare Struktur vor. Auch hier verplämperten wir viel Zeit damit, dass wir uns oft keinen Fokus setzten und keine klare Vorstellung davon hatten, was wir in welcher Zeit erreicht haben wollten. Doch es gab stets einen roten Faden an dem man sich orientieren konnte und diesen habe ich nun wieder etwas verloren.

Fehlende Ernsthaftigkeit

Das dritte Thema, das aufkam war die fehlende Ernsthaftigkeit, mit der wir an das Ritual herantraten. Heiko wies uns an diesem Tag mehrfach darauf hin, doch ich verstand zunächst noch nicht, was er damit meinte. In meinen Augen nahm ich das Ritual ernst und zunächst war ich wirklich der Meinung, an alle wichtign Bestandteile gedacht zu haben. Erst im Laufe der kommenden Tage wurde mir nach und nach bewusst, wie weit ich damit neben der Wahrheit lag. Tatsächlich gab es ganz wesentliche Ritualbestandteile über dessen Wichtigkeit ich mir vollkommen bewusst war, die mir jedoch in diesem Moment nicht in den Sinn kamen. Das Erschaffen eines heiligen und sicheren Schutzraumes zu Beginn des Rituals zum Beispiel, so dass man dabei nicht von Fremdenergien gestört oder manipuliert werden kann. Oder das energetische Reinigen als Ritualabschluss, wenn wir mit dem Teilprozess für einen Tag fertig waren. Als Heiko uns dies schließlich bewusst machte, kam eine tiefe Trauer in mir auf und ich schämte mich sogar gegenüber dem Ritual dafür, dass ich nicht einmal diese Grundlagen beachtet hatte. Der Hauptaspekt, in dem es mir an Ernsthaftigkeit dem Ritual gegenüber fehlte, war jedoch der, dass ich zunächst nicht die Offenheit hatte um seine Lehren anzunehmen. Mein Ziel war es, ein Tattoo auf dem Rücken zu haben, das mich heilen und stärken sollt, nicht aber einen Wandlungs- und Heilungsprozess zu durchlaufen, so dass diese Heilung und Wandlung überhaupt entstehen konnte. Zum Glück störte sich das Universum nicht daran und schenkte Shania und mir die Lehren trotzdem.

Lektion 5: Man kann nichts erzwingen

Eine dieser Lehren bestand darin, dass sich meine Haut weigerte, das Ritual einfach nur hinter sich zu bringen, wenn ich nicht gewillt war, mich wirklich auf den Prozess einzulassen. Der Trick, den sie dabei anwendete war einfach und effektiv. Sie weigerte sich die Farbe anzunehmen, sobald ich mich nicht dafür öffnen konnte. Die Kraft, mit der meine inneren Widerstände und Ängste hier arbeiteten, waren enorm. Von 100 % der Farbe, die Shania mit der Nadel unter meine Haut brachte, blieben gerade einmal 0,01 % haften. Den Rest warf ich einfach wieder hinaus. Teilweise wirkte es sogar, als wäre ich der wahrscheinlich einzige Mensch der Welt, den man nicht tätowieren konnte, da einfach keine Farbe an ihm haften wollte. Woran dies lag verstand ich am ersten Tag noch nicht. Das einzige, was mir auffiel, war, dass es umso schlimmer wurde, je mehr ich mich beim Stechen verkrampfte und je stärker ich die Stiche als schmerzhaft und leidvoll ansah. Damit verbunden ist noch eine weitere Erkenntnis des Tages. Je nachdem, wo Shania in meinen Rücken stach, spürte ich entweder ein leichtes Kratzen oder sogar nur einen seichten Druck, oder aber einen tiefen, brennenden oder stechenden Schmerz, den ich kaum aushalten konnte.

Unterschiedliche Schmerzwahrnehmung

Dabei war die Schmerzintensität zum einen mit den Reflexpunkten meines Körpers und zum anderen mit den Eröffnungsprozessen verbunden, die mit den unterschiedlichen Symbolen zusammen hingen. Der obere Bereich meiner Schultern machte mir nahezu nichts aus, während ich beim Stechen im Bereich meiner unteren Wirbelsäule, die mit der Existenzangst verbunden ist, laut hätte losheulen können. Am ersten Tag kamen wir noch nicht dazu, da der gesamte mittlere Bereich des Tattoos vollkommen verwischt war. Als wir aber am zweiten Tag mit dem Bären in der Mitte des Tattoos fortfuhren, hing die Schmerzempfindlichkeit auf meinem Rücken weniger davon ab wo Shania stach, sondern viel mehr davon was sie stach. Die Stirn des Bären merkte ich kaum, während die Augen, Ohren und der Mund sowie das dritte Auge der Intuition direkt über ihm kaum auszuhalten waren. Ich spürte also deutlich meine offenen Themen in Bezug auf meine Sinne und teilweise fühlte es sich so an, als würde Shania tatsächlich mitten durch die energetischen Blockaden stechen, um sie ein bisschen weiter zu öffnen.

Spruch des Tages: Nur wenn ein Ritual ernst genommen wird, hat er auch Kraft!

Höhenmeter: 80 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 23.329,27 km

Wetter: Regen, Wind oder beides, teilweise sogar etwas sonnig und warm

Etappenziel: Kirchensaal, Wishaw, Schottland

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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