Tag 703: Der Straßenhändler

von Heiko Gärtner
05.12.2015 23:06 Uhr

Auch am nächsten Tag war unser Eindruck von Albanien noch nicht allzu überzeugend. Nach unserem Besuch im Kosovo hatten wir uns auf höfliche, respektvolle Menschen gefreut, mit denen man gut auskam. Immerhin gehörten die Bewohner Albaniens und die des Kosovo zum gleichen Volk. Doch abgesehen von der Sprache, der Religion und dem gleichen Namen, schienen die Albaner im Kosovo nichts mit denen in Albanien gemein zu haben. Man begegneter uns penetrant, laut und aufdringlich. Auch das Land selbst machte keinen allzu einladenden Eindruck bei all dem Müll und Gestank. Angenehme Wege zum Wandern gab es nur wenige und vor knatternden Motoren war man eigentlich nirgends wirklich sicher.

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Kaum hatten wir unser Feld verlassen kamen wir auf eine Hauptstraße auf der wir uns über einen Bergkamm schlängeln mussten. Hinter einer Serpentine kam uns ein Motorradfahrer entgegen. Er hielt an und winkte uns zu, als Zeichen dass er sich mit uns unterhalten wollte. Wie sich herausstellte, kam er aus Hamburg und war gerade auf dem Heimweg von einer längeren Motorradreise, die ihn bis nach Georgien geführt hatte. In den neun Wochen, die er nun unterwegs war, hatte er rund 12.000km zurückgelegt, also in etwa genauso viel wie wir in annähernd zwei Jahren. Wir sprachen unter anderem auch über seine Erfahrungen in der Türkei und in Syrien, was uns noch ein bisschen mehr von unserem Plan abbrachte, nach Israel zu wandern. Die politische Lage vor Ort hatte auch er als alles andere als entspannt erlebt. Im Osten der Türkei war er sogar Zeuge eines Attentats geworden, bei dem ein Polizeiauto in die Luft gesprengt wurde. Mehrere Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Alles in alle klang das nicht gerade nach einem Ort an dem man zurzeit gut wandern konnte. Sollten wir unsere Strecke also noch einmal umplanen? Vielleicht war es sinnvoller, zunächst einmal in Europa zu bleiben und von Griechenland aus nach Rumänien und Bulgarien zu wandern, um sich dann in aller Ruhe Großbritannien und Skandinavien anzuschauen. Israel lief ja nicht weg und konnte jederzeit bereist werden, sobald es wieder etwas ruhiger war.

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Ein Junge kam auf uns zugelaufen und wollte uns Nüsse verkaufen. Daniel, der Motorradfahrer wies ihn ab, machte dabei aber den beliebten Fehler, so freundlich zu sein, dass man seine Ablehnung beinahe als Einladung verstehen konnte. Der Junge witterte die Chance auf eine leichte Beute und ließ nicht locker um uns doch noch ein paar Nüsse aufzudrängen. Heiko versuchte es etwas energischer, doch noch immer wollte er uns nicht in Ruhe lassen. Er wurde sogar richtig penetrant und wedelte uns mit den Nusssäckchen vor den Gesichtern rum.

„Ab! Verschwinde hier und lass uns in Ruhe!“ fuhr ich ihn an und machte dabei die gleiche Handbewegung, mit der die Hirten immer ihre Kühe vorantrieben. Dies funktionierte. Er wich zurück und setzte sich auf einen Stein, um auf neue potentielle Kunden zu warten. Ich verstand ihn nicht. Er schaute so missmutig und platzierte sich an einer so ungünstigen Stelle, dass niemand ihm etwas abkaufen konnte, selbst wenn er einen lockeren Geldbeutel und einen Heißhunger auf Nüsse hatte. Wie konnte er glauben, dass er Erfolg haben würde, wenn uns auf eine so unangenehme Art begegnete? Man drohte ihm fast Schläge an und noch immer war er nicht bereit, das Nein zu akzeptieren. Das war nicht nur gefährlich, denn er kannte uns ja nicht und wusste auch nicht wie wir reagieren würden, es war auch gegen jedes Marketingkonzept. Man konnte niemandem etwas verkaufen, wenn man ihn zur Weißglut brachte.

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Allerdings musste ich zugeben, dass ich es, wenn es um Schlafplätze oder Essen gegangen war auch schon einige Male auf die selbe Weise versucht hatte. Besonders bei spanischen Pfarrern.

Für die nächsten fünf oder sechs Kilometer mussten wir auf der Hauptstraße bleiben. Wir kamen an einer Schule und einigen Bars vorbei, von denen aus man uns hinterhergrölte und -brüllte. Auch das Anhupen von Wanderern war hier wieder eine Art Volkssport und alles zusammen machte den Streckenabschnitt zu einem reinen Spießrutenlauf. Wir waren nun gerade einmal den zweiten Tag in diesem Land und freuten uns bereits darauf, es wieder verlassen zu können. Wo war nur der freundliche und höfliche Charakter, den wir im Kosovo so geschätzt hatten?

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Doch auch nach Verlassen der Hauptstraße wurde es nicht viel besser. Sobald man aufs Land kam, wo es fast keine Menschen gab, war alles in Ordnung. Kam man jedoch in eine Ortschaft oder an eine viel benutzte Straße, wurde es unerträglich. Je mehr Menschen sich an einem Ort befanden, desto schlimmer wurde es. Später am Abend fand ich dann jedoch eine Besonderheit heraus, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Ähnlich wie im Kosovo waren die Häuser hier stets eine Art Palast. Sie waren von hohen Mauern umgeben und bildeten so eine Art Miniwelt, die von der äußeren hermetisch abgeriegelt war. Innerhalb dieser Mauern herrschte Ruhe und Harmonie. Hier waren die Menschen freundlich, locker, hilfsbereit und zuvorkommend. Draußen jedoch gab es eine Art Krieg, bei dem jeder beweisen musste, dass er der beste war. Hier regierte das Ego und man musste sich stets als Proll und Aufreißer geben. Teilweise kamen dadurch recht lustige Situationen zustande. Ihr habt sicher alle Bilder im Kopf, von sonnengebräunten, dunkelhaarigen Typen mit Goldkettchen, die im BMW ihres Vaters lässig durch die Straßen cruisen, die Hip-Hop-Mucke auf voller Lautstärke, den Arm cool auf das offene Fenster gestützt, die Sonnenbrille auf und dabei leicht mit dem Kopf im Tackt des fetten Beats wippend. Hier gab es ähnliche Szenen, nur dass der betreffende Gangsterproll dabei auf einer Eselkutsche saß und dass sein Kopf nicht im Tackt der Musik sondern im Rhythmus der Schlaglöcher in der Straße wippte.

Kaum waren wir aus dem Schatten der Berge herausgetreten, kam ein immenser Wind auf, der uns entgegen blies. Er war wie ein Föhn, der konstant und kräftig über die Flachebene wehte, so stark, dass man sich regelrecht gegen ihn anlehnen musste. Bei diesem Sturm ein Zelt aufzubauen war nahezu unmöglich. Doch wir hatten keine Wahl. Windschutz gab es nicht, denn soweit das Auge reichte erblickten wir nur flache Felder. Und natürlich Ortschaften, aber von denen wollten wir uns ebenfalls fernhalten.

Mit vereinten Kräften gelang es uns dann letztlich doch und trotz aller Befürchtungen blieb es sogar die ganze Nacht über stehen. Fast wunderten wir uns darüber, dass wir am Morgen an der gleichen Stelle erwachten, an der wir abends eingeschlafen waren. Doch der Wind war nun vollkommen verschwunden. Es bewegte sich kein Lüftchen.

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Die Straße, die wir am Vorabend eingeschlagen hatten führte schnurgerade durch die flache Ebene. Fast den halben Tag lang wanderten wir auch heute auf ihr entlang, ohne ein einziges Mal abzubiegen. Dabei begegneten uns die urigsten Gestalten. Ein älterer Mann mit beeindruckend zahnlosem Mund fuhr auf einem quietschenden Fahrrad an uns vorbei, das er von oben bis unten mit Maispflanzen vollgepackt hatte. Wäre es so beim TÜV vorbeigefahren hätte man für ihn eine neue Klasse an Fahrzeugen erfinden müssen. Er war gewissermaßen ein LKF-Fahrer, also der Fahrer eines Lastkraftfahrrads.

Auch ein anderer Mann, der uns kurz darauf überholte fiel wohl unter diese Kategorie. Allerdings setzte er gleich noch einen obendrauf, indem er sein Rad zu einem Gefahrguttransporter machte. Er hatte eine handelsübliche Gasflasche auf den Gepäckträger geschnallt und zwar mit einem einfachen Gurtspanner. Keine Gasflasche, wie man sie für einen Campingkocher verwendet, sondern eine solche mit der man richtige Gasherde betreiben kann. Wir sprechen dabei übrigens noch immer von der selben Straße, die so voller Schlaglöcher war, dass sie den Gangsterkutscher am Vorabend zum Dauernicken brachte. Ihr könnt euch also sicher vorstellen, was für ein Hüpfkonzert die Gasflasche auf dem Gepäckträger veranstaltete. Die Flaschen sind in der Regel recht stabil, aber eben nur solange sie nicht auf das Ventil fallen. Und in landestypischer Sicherheitsmanier besaß die Flasche natürlich keine Schutzkappe. Wäre sie wirklich heruntergefallen, hätte sie sich durch den Überdruck in ihrem inneren in eine Rakete verwandelt, die wie ein Luftballon durch die Gegend gesaust wäre. Wahrscheinlich fuhr der Mann deshalb auf dieser Straße, denn hier konnte man die Flasche dann wenigstens lange Zeit beobachten.

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Gerade als wir fertig waren, den unverantwortlichen Gasflaschentransporter zu kommentieren, von dem wir sicher waren, dass es sich bei ihm um einen Einzelfall handelte, kam uns auch schon der zweite entgegen, der genau das gleiche machte. Augenscheinlich war es also eine ganz gewöhnliche und anerkannte Methode, sein Gas auf diese Weise zu transportieren.

Durch die permanent holprigen Straßen hüpften auch unsere eigenen Wagen immer fröhlich hinter uns her. Es dauerte nicht allzu lange, da bemerkten wir ein ungesund klingendes Klappern aus Richtung unserer Achsen. Wir blieben stehen und schauten uns die Sache näher an. Die Steckachsen hatten sich etwas gelockert und die Reifen schlugen nun ganz leicht hin und her. Das konnte so nicht bleiben, also stellten wir alles ab und machten uns an die Reparatur. Wir waren weit draußen zwischen den Ortschaften und stellten fest, dass der Platz angenehm ruhig und verlassen war. Wenige Meter weiter entdeckten wir dann noch eine leerstehende Bauruine, hinter der man vollkommen unsichtbar ein Zelt aufbauen konnte. Der einzige Haken an diesem Platz war, dass ich nun drei Kilometer bis in den nächsten Ort wandern musste um Essen und Wasser zu besorgen. So sehr ich mich auch über den schönen Platz freute, so sehr ärgerte ich mich auf dem Weg in den Ort über das erneut auftretende Problem des permanenten Zeitmangels. Ich war nun mit den Berichten bereits über einen Monat im Rückstand und immer wenn ich das Gefühl hatte ein bisschen aufholen zu können, kam etwas, das mir meine Zeit fraß. Heute zum Beispiel! Wir waren schon um halb zwei angekommen und eigentlich konnte es ein perfekt produktiver Tag werden, an dem ich reichlich Stoff zur Seite bringen konnte. Doch stattdessen brauchte ich nun eine gute halbe Stunde bis ich den Ort erreichte, dann würde ich sicher eine Stunde für die Nahrungs- und Wassersuche brauchen. Anschließend noch einmal eine gute halbe Stunde zurück, dann die restlichen Dinge am Wagen reparieren, eine kurze Mittagspause und erst dann würde ich mit dem Arbeiten beginnen können. Selbst wenn es gut lief würde ich meinen Laptop also nicht vor 16:30 Uhr aufklappen und um 18:00 mussten wir bereits mit dem Kochen beginnen, damit es nicht zu dunkel wurde. Wie sollte ich da jemals vorankommen? Ich war Genervt und spürte wie eine brennende Ungeduld in mir aufkam, gepaart mit einer Wut auch die Zeit im Allgemeinen, dieses Land, die vielen Texte, die ich noch schreiben wollte und das Gefühl immer zu langsam zu sein. Während ich das dachte wurde mir bereits klar, dass genau dies der Grund war, warum ich in diese Zeitnot geriet. Es war nicht das Land, das mir die Zeit stahl. Ich war es selbst und das Land und die Leute spiegelten mir die permanente Angst davor, nicht genug Zeit zu haben. Je verkrampfter ich versuchte, alles nachzuholen, desto mehr würde ich mich selbst ausbremsen. Doch der Fakt, dass ich das wusste änderte leider gar nichts. Im Gegenteil, ich wurde nur noch wütender auf mich, weil ich mich dafür verurteilte, dass ich mir immer wieder die gleiche Suppe einbrockte.

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Lustiger Weise schreibe ich diesen Text gerade heute, an einem Tag der ebenfalls komplett aus dem Ruder geraten ist. Noch immer habe ich ungefähr einen Monat Rückstand, bis ich alle Berichte aufgeholt habe. (Zwischenzeitig waren es schon fast 2,5 Monate) Und noch immer habe ich häufig das Gefühl, mit meiner Zeit einfach nicht hinzukommen. Gleichzeitig merke ich aber auch immer mehr, wie wichtig es ist, loszulassen und sich bewusst zu werden, dass alles die Zeit hat die es hat und die Zeit benötigt, die es benötigt. Heute beispielsweise sind wir um 11:00 Uhr losgekommen, haben eine Strecke von fast 30km zurückgelegt und wurden dann noch zweieinhalb Stunden von einem quirligen Pfarrer und seiner noch quirligeren Gemeinderatsvorsitzenden aufgehalten. Eine größere Geduldsprobe als das Gespräch mit dieser netten aber unglaublich nervraubenden Dame kann man sich kaum vorstellen. Und doch habe ich anschließend sogar noch einiges aufholen können.

Aber zurück zum Thema.

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Die Essenssuche dauerte wirklich eine knappe Stunde. In Albanien war gerade Kartoffelernte und überall standen die Bauern auf großen Wagen und holten Tonnenweise Kartoffeln ein. Als ich einen dieser Männer jedoch nach ein paar Kartoffeln fragte, sprang er vom Wagen herab, begleitete mich durch die gesamte Ortschaft zu einer Bar und bestellte mir dort auf seine Kosten zwei belegte Brote. Das war natürlich nett, aber es dauerte seine Zeit und reichte nicht für den ganzen Tag. Also musste ich weiter fragen und nach mehreren Absagen bekam ich von einem anderen Mann ca. 5kg mit Kartoffeln und 5kg mit Zwiebeln. Das reichte! Und zu unserer Überraschung wurde es sogar ein richtig gutes Essen. Einfach, aber gut.

Schwieriger wurde wieder die Suche nach Wasser. Der kleine Laden, den ich schließlich fand verkaufte zwar mehrere Flaschen, doch dieses Mal musste ich wirklich mit albanischem Geld bezahlen. Und dies wurde kompliziert. Sowohl die junge Verkäuferin als auch ihre Mutter sprachen gerade einmal doppelt so viel Englisch wie ich Albanisch und mit diesem geringen Verständigungsrahmen musste ich es irgendwie schaffen, den Wechselkurs zwischen europäischer und albanischer Währung herauszufinden, ohne mich übers Ohr hauen zu lassen. Nach ein paar Minuten fand ich folgendes heraus: 1€ entsprach 1400 Einheiten in der Landeswährung. Wenn ich also einen Zehner wechseln wollte, dann müsste ich dafür nach Adam Riese 14.000 Taler zurückbekommen. Die Frau drückte mir jedoch nur 1400 in die Hand, also genau jenen Betrag, von dem sie zuvor behauptet hatte, er sei einen Euro wert. Dafür aber zog sie für das Wasser jetzt nur noch 140 Taler ab, obwohl sie zuvor erklärt hatte, dass es 1400 koste. Ich verstand nun gar nichts mehr und bat darum, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dieses Mal jedoch etwas langsamer.

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Das ganze widerholten wir dann rund drei Mal und am Ende hatte ich eine ungefähre Idee davon, wie die Sache funktionierte. Offensichtlich gab es einen Unterschied zwischen der Zahl die man auf eine Banknote schrieb und der mit der man sie bezeichnete. Sobald man über Geld sprach, erfand man grundsätzlich eine zusätzliche Null, die nirgendwo vermerkt war. Wenn auf dem Preisschild also 140 Taler stand, dann sagte einem die Kassiererin an der Kasse die Zahl 1400 und tippte anschließend 140 ein. Mein Einwand, dass diese Technik keinen Sinn ergab und nur für Verwirrung sorgte, wurde mit einem Schulterzucken hingenommen. Es war eben, wie es war.

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Vielleicht war es so. Vielleicht war es aber auch einfach Humbug und ich wurde gerade bis auf die Unterhose abgezockt. Doch ich hatte nicht viele Möglichkeiten. Entweder ich musste den Damen vertrauen und mich auf den Deal einlassen oder ich musste ohne Wasser nach hause gehen und riskieren, dass wir die ganze Nacht dursteten.

Also erklärte ich mich einverstanden, kaufte zwei Flaschen Wasser und ließ mir den Rest in albanischer Währung auszahlen. Entweder hatte ich nun acht Euro wiederbekommen, oder achtzig Zent. Das konnte ich nicht feststellen. Aus irgendeinem Grund bekam ich jedoch noch ein Eurostück in die Hand gedrückt, dass eigentlich gar nicht mir gehörte und mit dem irgendjemand versucht hatte, mir die ganze Rechnerei zu veranschaulichen. Im schlimmsten Fall hatte ich also nur 9€ verloren.

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Es dauerte übrigens noch rund drei Tage, bis ich mir sicher war, dass man mich nicht verarscht hatte.

Als ich schließlich wieder bei Heiko eintraf war der Tag beinahe vorbei. Eine knappe Stunde konnte ich noch an den Texten arbeiten, dann war es Zeit zum Kochen.

Spruch des Tages: Man weiß hier nie so wirklich, ob man verarscht wurde oder nicht...

 

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 12.551,27 km

Wetter: sonnig

Etappenziel: Altkleiderlager der Caritas, 88836 Cotronei, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Kurz bevor wir die Grenze erreichten kamen wir doch noch durch ein winziges Dorf. Es war nicht so unheimlich wie das letzte, dafür aber wesentlich touristischer. Es bestand eigentlich nur aus einem kleinen Marktplatz mit einigen Verkaufsständen, einem Campingplatz und einem Kloster, das gleichzeitig als Hotel verwendet wurde. Wir stellten unsere Wagen ab und besichtigten das Klostergelände. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick über den See, bis hinüber zur albanischen Seite und weit zurück bis nach Ohrid. Am spannendsten waren jedoch die vielen kleinen Eichhörnchen, die im Park ihre Nüsse verbuddelten. Das Eichhörnchen das tun weiß jedes Kind, aber wie selten bekommt man die Gelegenheit, ihnen dabei wirklich einmal zuzuschauen?

Als wir das Parkgelände wieder verlassen wollten wurden wir von zwei humorlosen Männern aufgehalten. Sie teilten uns unmissverständlich mit, dass wir auf dieser Seite nicht weiter gehen konnten, denn das angrenzende Gelände war eine Militärbasis. Die Mazedonier hatten schon einen eigenartigen Sinn für die Verteilung ihrer Infrastruktur. In einem Moment steht man noch an einem heiligen Ort, der gleichzeitig eine der größten Touristenattraktionen des Landes ist und drei Meter weiter beginnt ein militärisches Sperrgebiet. Und irgendwo in der Mitte liegt dann noch der Campingplatz, an dem sich die Urlauber tummeln.

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Auch wenn Freundlichkeit vielleicht nicht gerade seine herausragendste Eigenschaft war, war der Mann doch freundlich genug um uns einen Schleichweg zu zeigen, auf dem wir die Militärbasis umrunden konnten, ohne ganz zurück auf die Hauptstraße zu müssen. Von hier aus waren es nun nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze.

Dieses Mal merkte man den Übertritt zunächst fast gar nicht. Der Grenzposten wirkte fast eher wie einer der Souvenirstände an der Promenade, nur dass man hier nicht einfach vorbeigehen konnte, ohne seinen Ausweis zu zeigen. Danach änderte sich zunächst einmal nichts. Wieder kamen Hotels und Restaurants, die sich am Ufer aneinander ketteten. Auch hier legte man keinen Wert darauf, den Müll irgendwo zu entsorgen, wo er den Augen und Nasen der Menschen verborgen blieb. Es war sogar noch etwas schlimmer als zuvor und das obwohl wir nicht geglaubt hätten, dass es nach Mazedonien noch einmal eine Steigerung geben konnte. Der Gipfel des Umwelthohns war ein fünf Sterne Hotel, das seine Abwässer direkt vor der eigenen Eingangstür in den See leitete. Links und rechts neben dem großen Abwasserrohr standen sie Liegestühle und der hauseigene Kiosk, an dem man Eis und Süßwaren kaufen konnte, war keine drei Meter entfernt. Bereits die ersten dreißig Meter genügten also um sicher zu sein, dass das Wasser in diesem Land auch wieder nicht trinkbar war.

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Nachdem wir die kurze Hotelmeile verlassen und ins Hinterland abgebogen waren, änderte sich das Bild dann doch noch. Albanien präsentierte sich uns nun als eine Mischung aus modernem Großstadtslum und mittelalterlicher Bauernkultur. Wir waren gleichzeitig fasziniert und entsetzt davon, dass wir uns noch immer mitten in Europa befanden. Wären wir in Indien oder Pakistan gelandet, hätten wir genau dieses Bild erwartet, aber hier?

An den Flüssen türmte sich der Müll zu langen Wällen auf. Asphaltiert waren nur die Hauptstraßen, während fast alle Nebenstraßen, selbst innerhalb der Ortschaften, aus reinem Schotter und Sand bestanden. Am meisten aber beeindruckten uns die Esel. Wir hatten schon zuvor immer mal wieder einen oder zwei Esel gesehen und im Balkan war es keine Seltenheit, dass man sie als Arbeitstiere gebrauchte. Doch in dieser Menge war es etwas Neues für uns. Überall auf den Feldern standen die Menschen mit ihren Eseln. Einige zogen eine Art Pflug, andere kleine oder große Karren mit Feldfrüchten und wieder andere waren mit Körben bepackt. Wenn sie richtig arm dran waren, mussten sie sogar den Bauern tragen. Im Normalfall jedoch stand der Bauer neben dem Esel und hielt ihn am Zaumzeug, während die Frau die Feldarbeit erledigte. Vieles in diesem Land blieb uns bis zum Schluss ein Rätsel, aber die Arbeitsaufteilung verstanden wir sofort. Körperlich leichte Aufgaben übernahm der Mann, für schwere gab es die Esel und für richtig schwere hatte man ja seine Frau.

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Die Esel ersetzten die Traktoren, Autos und Fahrräder nicht komplett, aber zu einem großen Teil. Wenn man von A nach B wollte dann war es ebenso normal auf seinem Esel zu reiten oder sich auf die Kutsche zu setzen, die von einem oder zwei Eseln gezogen wurde, wie mit dem Auto oder mit dem Fahrrad zu fahren. Das einzige, was den Menschen fremd zu sein schien war es, zu Fuß zu gehen. Lieber nahm man all sein Gepäck in die Hand, setzte sich auf den Esel und zog die Beine bis zum Kinn an, damit sie nicht am Boden schleiften. Selbst wenn man dadurch einen Krampf bekam und sich drei Tage lang nicht mehr bewegen konnte, hatte man dennoch gezeigt, dass man ein kraftvolles Lasttier besaß und es nicht nötig hatte, seine eigenen Beine zu benutzen.

Wer etwas mehr Wohlstand besaß, konnte sich eine Kutsche leisten und sich hinter den Esel, oder in besonders seltenen Fällen sogar hinter das Pferd setzen.

Wir schlugen unser Zelt mitten in den Feldern auf, so dass die Straßen in alle Richtungen möglichst weit von uns entfernt waren. Es gab hier zwar weniger motorisierte Fahrzeuge als in vielen anderen Ländern, doch die die es gab, waren dafür umso lauter. Meist waren es kleine Traktoren, die eher an übergroße Rasenmäher erinnerten und deren Motoren vollkommen frei zwischen den kleinen Vorderreifen lagen. Wir hatten solche Gerätschaften auch in den anderen Balkanländern schon oft gesehen, doch hier schienen sie am häufigsten und gleichzeitig auch am lautesten zu sein. Dabei tuckerten sie ganz gemütlich mit ca. 6km/h vor sich hin, fast so als würde die Energie des Kraftstoffes eins zu eins in Lautstärke umgewandelt, so dass für Geschwindigkeit nichts mehr übrig blieb.

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Die Menschen, die ich bei meiner Essenssuche kennenlernte waren größtenteils sehr nett, doch die Verständigung mit ihnen gestaltete sich deutlich schwieriger als erwartet. Anders als im Kosovo sprach hier so gut wie niemand eine andere Sprache. Kein Deutsch, kein Englisch, kein Italienisch, ja nicht einmal Serbisch. Als einzige Kommunikationsmöglichkeit blieb also nur noch mein Zettel mit den vorbereiteten Sätzen. Dafür muss man aber sagen, war ich sehr erfolgreich.

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Weit schwieriger als die Nahrungssuche gestaltete sich jedoch die Aufgabe, Wasser aufzutreiben. Leitungswasser wäre kein Thema gewesen, doch wir wollten es nach Möglichkeit vermeiden, uns zu vergiften. Doch um Flaschenwasser zu bekommen brauchte ich Bars, Tankstellen, Supermärkte, Tante-Emma-Läden oder wenigstens einen Kiosk. Diese waren jedoch mehr als nur Mangelware. Sie waren Raritäten, mit denen man hier locker auf dem Schwarzmarkt hätte dielen können. Als ich schließlich einen Minimarkt in einer kleinen Holzhütte fand, war ich fast drei Kilometer weit gewandert. Nun hatte ich das nächste Problem, denn den Satz „haben sie eine große Wasserflasche?“ hatte ich nicht auf meinem Zettel vermerkt. Mit Händen und Füßen versuchte ich der verwirrten Verkäuferin klarzumachen, was ich wollte. Auf Wasser kamen wir schnell, doch sie hatte nur Miniflaschen im Regal und ich musste ihr irgendwie verständlich machen, dass ich einen Kanister brauchte. Schließlich verstand sie mich und kramte ganz unten aus der hintersten Ecke eines versteckten Regals einen 5l-Kanister Wasser hervor. Er musste ewig dort gestanden haben, denn die Staubschicht auf seiner Oberfläche war fast einen Zentimeter dick. Sie nannte mir einen Preis und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass wir mit der Grenzüberschreitung auch wieder eine neue Währung bekommen hatten. Meine Mazedonischen Dinara waren hier wertlos, doch albanisches Geld besaß ich noch keines.

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„Euro?“ fragte ich vorsichtig.

„Po!“ sagte die Frau. Als Deutscher könnte man meinen, dass dies soviel war wie die Kurzform von „Leck mich am Arsch!“ aber auf albanisch bedeutete es wirklich einfach „Ja!“

Nun aber stand ich vor den nächsten Problem, den unsere Euro beliefen sich auch nur noch auf ein paar Cent. Ich schüttete alles aus was ich besaß und die junge Frau schaute es sich genau an.

„Mira!“ sagte sie dann lächelnd – „In Ordnung!“

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Ich glaube, dass ihr mein Auftritt und die ganze verworrene Situation bereits Bezahlung genug waren. Auch die Oma, die bislang schweigend in der Ecke gesessen hatte, amüsierte sich köstlich. Zum Abschied stand sie auf, gab mir die Hand und schenkte mir sogar noch einen Schokoriegel obendrauf.

So ruhig unser Platz in den Feldern zunächst auch gewirkt hatte, so sehr zeigte sich, später, dass hier ein reger Durchgangsverkehr herrschte. Ständig kamen Bauern und Hirten vorbei, schauten, staunten, fragten alle möglichen, unverständlichen Dinge und gingen wieder. Ich hatte mich zum Schreiben in den Schatten eines Baumes gesetzt, was sich im Nachhinein nicht als allzu gute Idee herausstellte. Denn dadurch konnte nun jeder sehen, dass wir Laptops bei uns hatten. Ein älterer Mann kam und fragte mich regelrecht aus. Das ich auf all seine Fragen mit „Ich verstehe dich nicht!“ antworten musste, schreckte ihn nicht ab. Er blieb einfach stehen und schaute mich an. Der zweite war sogar noch dreister und setzte sich drei Zentimeter neben mich, um mir beim Schreiben mit in den Bildschirm zu starren. Ich bat ihn mehrmals zu gehen und jedes mal nickte er höflich, um dann doch sitzen zu bleiben. Erst als ich wütend wurde und ihn anfuhr stand er auf und verabschiedete sich. Kurz darauf kam der Dritte. Er hielt zwar mehr Abstand, war aber noch weitaus unangenehmer als die anderen. Missmutig starte er meinen Computer an und wiederholte immer wieder vorwurfsvoll „Deutschland viele Geld! Viele Geld in Deutschland!“

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Eine junge Frau auf dem Fahrrad kam in diesem Moment vorbei und schaute mich mitleidig an.

„Du Depp!“ schnauzte mich meine Verstandsstimme an als der Mann verschwunden war, „wie kommst du auch auf die Idee, dich in so einem Land öffentlich mit einem teuren Computer hinzusetzen? Dass muss doch Neid wecken!“

Später am Abend kam die junge Frau noch einmal zurück.

„Darf ich euch kurz stören?“ fragte sie auf Englisch, „Ich glaube ihr habt euch hier einen sehr gefährlichen Platz ausgesucht. Ich habe vorhin mitbekommen, was der Mann gesagt hat und ich könnte mir vorstellen, dass er euch ausrauben will. Nachts ist hier draußen auf den Feldern niemand, der euch beschützen kann. Geht lieber in die Stadt und zeltet dort im Park, da ist es sicherer!“

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Wir bedankten uns für die Warnung und dachten eine Weile darüber nach. Die Sorge war nicht ganz unberechtigt, wenngleich ihre Alternatividee natürlich wahnwitzig war. Wenn es einen Platz gab, an dem wir mit Sicherheit überfallen worden wären, dann war es der Park inmitten einer Großstadt. Der Mann hatte zwar etwas zwielichtig gewirkt und er war ganz sicher kein Sympathieträger, aber er war alt und gebrechlich gewesen. Nachts würde er sich nicht hier aufs Feld hinauswagen und wenn doch dann war er kein ernstzunehmender Gegner. Wir stuften die Situation daher als sicher genug ein, um die Nacht hier zu bleiben. Doch in Zukunft würden wir genauer darauf achten, dass niemand mitbekam, was für Werte wir bei uns trugen.

Spruch des Tages: So viele Esel auf einem Haufen.

 

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 12.539,27 km

Wetter: sonnig aber kühl

Etappenziel: Altes Pfarrhaus, 88833 Santa Rania, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Ich weiß, ich habe bereits vor Tagen geschrieben, dass all unsere Sachen nass wurden und ich weiß, ich wiederhole mich damit. Aber die Nässe machte es ja auch. Immer wieder trocknete die Sonne alles ein bisschen an und wenn wir gerade das Gefühl bekamen, wir wären kurz vor einem neuen Trockenheitsrekord, fing es entweder zu regnen an, oder der Morgentau erledigte das übrige. Langsam wussten wir nicht einmal mehr, wie sich trockene Socken anfühlten und an die vier bis zehn zusätzlichen Kilo an Wasser im Zelt hatte Heiko sich bereits so sehr gewöhnt, dass er glaubte, das Zelt habe schon immer so viel gewogen. Doch nicht nur an unserem Material, sondern auch an uns selbst zerrte das permanente Draußen sein. Es war nun fast ein halbes Jahr her, seit wir das letzte Mal regelmäßige Indoorschlafplätze zur Verfügung hatten. Solange es Sommer war, war das kein Problem gewesen, doch die permanente Nasskälte führte dazu, dass wir immer häufiger Verspannungen und Rückenschmerzen bekamen. Unsere Muskeln Knochen sehnten sich danach, wieder einmal in einem Bett zu schlafen oder sich zumindest einmal wieder richtig entspannen und lockern zu können.

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Aber genug gejammert.

Denn der Tag wurde großartig und langsam verstanden wir, was die großen Plakate mit der Naturschönheit in Mazedonien gemeint hatten. Der Nationalpark lag zwar längst hinter uns, doch der Canyon, den wir heute durchwanderten überraschte uns mit einem Naturschauspiel, das wir so bislang noch nicht gesehen hatten. Der Fluss hatte das Tal stufenförmig ausgewaschen und so ein Landschaftsbild erschaffen, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Zum Glück hatten wir ja unsere Kamera dabei, so dass ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen könnt. Inmitten dieser einzigartigen Landschaft lebten ganze Heerscharen an Fischen, Wasservögeln und allen denkbaren anderen Tieren. Hautnah durften wir Kormoranen dabei zusehen, wie sie unter Wasser auf die Jagd gingen und anschließend ihr Gefieder am Ufer trockneten. Auch Graureiher ließen sich den Reichtum des Flusses schmecken und auf den abstrakten Felsformationen am Ufer saßen unzählige Raben und Krähen, die sich wie ein schwarzer Teppich aneinander drängten.

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Schließlich verließen wir das Tal und gingen über einen schmalen Pass seitlich in einen weiteren Canyon ab. Von hier aus ging es dann über eine alte, verfallene Straße steil den Berg hinauf bis in ein winziges Dörfchen. Wir zelteten mitten im Ort hinter einem Maisfeld. Ungesehen blieben wir dabei nicht, aber nachdem jeder einmal geschaut hatte, wer wir sind und nachdem wir kurz erzählt hatten, warum wir da waren, ließ man uns in Frieden dort zelten. Als neue, stattlich anerkannte Maskottchen des Dorfes bekamen wir sogar im Handumdrehen genug zu essen für den Abend und den nächsten Morgen.

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Kurz nach Sonnenaufgang setzten wir unsere Reise fort und stiegen weiter den Berg hinauf. Hinter dem Dorf wurde der Berghang immer steiler, doch die Straße verlief nun halbwegs parallel dazu. Hier oben war es nun so friedlich wie selten zuvor im ganzen Balkan. Die herbstliche Sonne schien auf uns herab und erfüllte uns mit angenehmer Wärme. Ein paar Vögel zwitscherten und der leichte Wind sorgte für ein leises Rauschen in den Bäumen. Sonst war es still. Kein Motorenknattern, keine Bohrmaschine und kein Freischneider. Wir hatten fast vergessen, wie angenehm das war. Rechts von uns erhob sich das felsige Massiv des Berges. Links von uns fiel der Hang steil in ein grünbewaldetes Tal hinab. So schön konnte die Welt sein, wenn man sie nur ließ. Es stimmte, was in den weisen Schriften geschrieben stand. Man musste nichts tun, um Glück oder Frieden zu erlangen. Man musste es einfach geschehen lassen. Der Frieden war bereits da und es war unsere aktive Arbeit, die verhinderte, dass wir ihn wahrnehmen konnten.

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Unter einem kleinen Vordach machten wir ein Picknick um die Stille so ausgiebig zu genießen, wie es möglich war. Dann stiegen wir ins Tal hinab und gelangten in eine weitere Flachebene. Mit der Friedlichkeit war es nun vorbei. Sobald die Menschen die Chance hatten, eine Fläche zuzubauen, nutzten sie sie. Das war auch hier der Fall. Die natürliche Idylle wurde durch Straßen, Häuser, Autos und viel zu viele Menschen ersetzt. Doch auch hier fanden wir einen ruhigen Flecken Erde. In der Mitte zwischen der Autobahn und einer Schnellstraße gab es eine kleine Mulde in den Weinfeldern. Sie schirmte die Geräusche weitgehend ab und bot einiges an Sichtschutz. Außerdem gab es hier ein nahegelegenes Restaurant, dessen Besitzer uns seinen Internetzugang zur Verfügung stellte, damit wir unseren Weg durch Albanien heraussuchen konnten. Bis zur Grenze waren es nun nur noch rund 50 Kilometer.

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Am nächsten Morgen durchquerten wir die Flachebene, bis wir auf der Gegenüberliegenden Seite an einen großen See gelangten. Die Städte und Dörfer wurden nun etwas schöner und auch nobler. Alles wirkte zusehends gepflegter und das permanente Gefühl, durch einen Slum zu wandern, verschwand allmählich. Jedenfalls bis wir Ohrid erreichten. Die größte Stadt am Ufer des gleichnamigen Sees war wohl auch die bekannteste von ganz Mazedonien und sie wurde uns als Touristenziel sowohl von der Australierin als auch von dem Radfahrer aus England empfohlen. Auf den ersten Blick konnten wir diese Empfehlung nicht nachvollziehen. Auf den zweiten auch nicht. Wir waren wieder im üblichen Großstadtsumpf angekommen, in dem die Menschen in grässlichen Plattenbauten wie Legehennen aneinander gepfercht worden waren. Die Hauseingänge waren mit Graffiti besprayed und vielerorts waren sogar die Scheiben eingeschlagen und die Türen zertreten. Es stank nach Abfall und Urin.

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Dann aber kamen wir um eine Kurve und ohne jede Vorwarnung standen wir plötzlich mitten in einer ansehnlichen Altstadt. Über unseren Köpfen thronte eine alte Burg auf dem Gipfel eines kleinen Berges und vor uns lag eine Einkaufsstraße mit Fußgängerpassage und vielen kleinen Lädchen. Es gab Plätze, Restaurants, eine Uferpromenade und sogar einige alte Bauwerke, die wirklich schön und sehenswert waren.

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Am Ufer mit Blick auf die Burg legten wir eine Pause ein und aßen den Rest der Brotzeit, die wir zuvor von einem freundlichen und großzügigen Ladenbesitzer bekommen hatten. Um uns herum wuselten die Touristen, die sich die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten anschauten. Sogar ein paar Deutsche waren darunter.

Wir kamen uns vor wie in einer fremden Welt. Alles erschien irgendwie unwirklich. Es war, als wären wir wie durch eine Art Schleuse in eine andere Dimension gelangt, die nichts mit dem Land zu tun hatte, das wir die letzten Tage durchwandern durften. War es nicht verrückt, dass die Touristen an diesen Ort kamen, sich hier das Zentrum und den See anschauten und anschließend glaubten, dies sei Mazedonien?

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Als wir weiterwandern wollten, fielen uns im Wirrwarr der Spaziergänger zwei Männer auf, die aus der Masse hervorstachen. Sie hatten jeweils ein Rad mit einem Haufen Gepäck bei sich und wirkten, als wären sie auch schon eine ganze Weile unterwegs. Unsere Vermutung bestätigte sich, denn sie erzählten uns, dass sie aus Belgrad stammten und bereits seit einigen Wochen umherfuhren. Sie hatten sich erst auf dem Weg getroffen und reisten nicht die ganze Zeit zusammen, sondern immer nur für eine gewisse Zeit.

Nach unserem Gespräch wurde es Zeit eine Entscheidung zu treffen. Zelten konnten wir hier nicht, auch wenn der Park eine ganz hervorragende Grünfläche besaß. Die Frage war also, ob es uns gelingen konnte, hier eine Herberge aufzutreiben, oder ob wir die Stadt wieder verlassen mussten. Im letzten Fall blühte uns wahrscheinlich eine Strecke von weiteren 28 Kilometern, denn wir mussten an einer Hauptstraße entlang, die sich direkt zwischen Seeufer und Berghang quetschte.

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Doch wir hatten Glück. Etwas außerhalb des Zentrums an der Uferpromenade stießen wir auf ein Hotel, das von vornherein einen einladenden Eindruck machte. Ich weiß nicht warum es uns anzog, aber irgendwie hatten wir anders als bei allen anderen ein gutes Gefühl dazu. Es hieß Hotel Villa Dea und wurde von einem Mann gefüht, der Hauptberuflich Arzt war. Als ihm seine Mitarbeiterin unsere Werbepartnerschaft anbot, sagte er zu und ließ uns ein kleines Zimmer im ersten Stock geben. Als er sich jedoch später mit uns unterhielt, war er sogar so begeistert, dass er uns gleich die größte Suite des Hauses zur Verfügung stellte. Nach so langer Zeit im Freien, was das ein wahrer Segen.

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Gestärkt und erholt verließen wir die Stadt am nächsten Morgen entlang des Seeufers. Die Stadtverwaltung hatte hier keine Mühen und EU-finanzierten Kosten gescheut, um den Touristen eine richtige Uferpromenade zu kreieren, auf der sie noch weit hinaus bis hinter die Stadtgrenzen zu den Hotel schlendern konnten. Dann endete die Promenade und wir wurden von ihr wieder auf die Hauptstraße gespuckt. Glücklicherweise war hinter der Stadt kaum noch Verkehr, denn anscheinend gab es nur wenig Menschen, die zur albanischen Grenze oder von ihr zurück wollten.

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In einem kleinen Örtchen trafen wir auf ein ungleiches Paar, das mit Rucksäcken umherreiste. Sie schienen das perfekte Gegenstück zu dem Pilgerpaar zu sein, von dem wir vor gut einem Jahr am Camino del Norte gehört hatten. Das Paar, bei dem der Mann die Frau alles tragen und sich in den Herbergen dann von ihr verwöhnen und bekochen ließ, meine ich. Bei diesem Pärchen hatte hingegen eindeutig er den schwarzen Peter gezogen. Während sie nur einen kleinen Tagesrucksack trug, der auch eine Handtasche mit Trägern hätte sein können, schleppte der arme Kerl einen Sack auf dem Rücken, der sogar unseren Wagen Konkurrenz machte. Kein Wunder, denn er musste ja gleich das Gepäck für zwei Personen unterbringen. Bei so einer Aufteilung hätte man vermuten können, dass die beiden in einer schweren Verliebtheitsphase steckten, die zumindest ihn blind machte. Doch dafür gab es keine Anzeichen. Überhaupt schien es keine wirkliche Nähe zwischen den beiden zugeben. Abgesehen vielleicht von gelegentlichen Schlenkern, die der junge Mann machte, weil ihn sein Rucksack aus dem Gleichgewicht brachte.

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Je weiter wir der Straße folgten, desto steiler wurde das Ufer. Am Ende mussten wir uns wieder über Serpentinen den Berg hinaufschrauben, bis wir zu einem Pass kamen. Danach fiel die Straße wieder steil bergab und führte durch ein kleines Dorf hindurch direkt zum Ufer zurück.

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Das Dorf war das letzte vor der Grenze und gleichzeitig auch unsere einzige Möglichkeit, uns für heute mit Wasser und Nahrung zu versorgen. Heiko hielt neben einem kleinen Lädchen die Stellung während ich mich auf den Weg durch die Ortschaft machte. Beide machten wir dabei jedoch die gleichen, unheimlichen Erfahrungen. Ich weiß nicht was in diesem Dorf los war, aber mit rechten Dingen ging es dort sicher nicht zu. Es schien das Dorf zu sein, das Verrückte macht. Oder aber das Dorf, in dem alle Verrückten unterkamen, die Mazedonien zu bieten hatte. Das erste Haus an dem ich klopfte, gehörte zu einer alten Frau. Sie saß in der Garage und putzte Paprika. Als ich sie fragte, ob sie uns etwas zu Essen geben könne, lächelte sie und sagte ja. Sie machte jedoch keine Anstalten, ihre Arbeit zu unterbrechen. Vier Mal fragte ich nach und jedes Mal bestätigte sie ihre Bereitschaft zur Unterstützung. Doch sie rührte sich keinen Milimeter und es sah auch nicht aus, als würde sie es jemals tun. Im Nachhinein bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt jemals etwas anderes tat. Sie wirkte, als würde sie schon ihr ganzes Leben genau so dasitzen und Paprika putzen.

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Mein nächster Versuch verlief nicht viel besser. Ich geriet dabei an einen zahnlosen alten Mann, der mich reglos anstarrte, so als wäre er eine Salzsäule. Ich brachte es nicht einmal zustande, ihn überhaupt um etwas zu bitten, denn sein Anblick verschlug mir die Sprache. So ging es weiter uns selbst bei den Häusern an denen ich etwas bekam, hatte ich immer ein komisches Gefühl. Eine Frau, die in einem Haus mit winzigen Türen und einer winzigen Hofeinfahrt lebte, hielt mir einen zehnminütigen Vortrag darüber, wie arm sie uns ihr Land seien und dass sie mir unmöglich etwas geben könne. Als ich es endlich schaffte, ihr verständlich zu machen, dass ich das gut nachvollziehen konnte und mich von ihr verabschiedete, hielt sie mich zurück, verschwand im Haus und brachte mir eine Tüte mit Brot und Eiern. Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr.

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Noch ehe ich Heiko von meinen Erfahrungen erzählen konnte, platzte es aus ihm heraus: „Wir müssen hier unbedingt verschwinden! Dieses Dorf macht mir Angst. Die Menschen hier sind einfach unheimlich!“

Zunächst hatte es bei ihm noch relativ harmlos angefangen, mit einem jungen Pärchen, dass sich einige Meter von ihm entfernt an einen Tisch gesetzt hatte, um ihn unentwegt zu beobachten. Dann war ein Mann mit zotteligen, verfilzten Haaren und einem ebenso zotteligen Bart gekommen. Er war immer im Kreis um Heiko herumgegangen und hatte dabei unentwegt „Belo, Belo!“ gesagt. Ob das Dorf vielleicht irgendwie verflucht wurde?

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Wir waren jedenfalls froh, als wir es verlassen und auf einer Weide unterhalb der Häuser unser Zelt aufschlagen konnten. Gut versteckt hinter ein paar Büschen. Sicher ist sicher.

 

Spruch des Tages: Kann man wirklich von einer einzigen Touristenstadt auf ein ganzes Land schließen?

 

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 12.525,27 km

Wetter: sonnig aber kühl

Etappenziel: Altes Schulgebäude, 88833 Cerenzia, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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