Tag 1452 bis 1455: Ruhige Pferde, laute Straßen
07.11.2017
Pferdefütterung
Gestern abend haben wir von unseren Nachbarn zwei riesige aber leider geschmacklich vollkommen unterentwickelte Äpfel geschenkt bekommen, die uns heute in der Früh als Wegzehrung dienen sollten. Lustlos kauten wir darauf herum, bis wir an einer Koppel mit zwei Pferden vorbei kamen, die uns neugierig anschauten.
„Wie siehts aus?“ fragte Heiko, „habt ihr Lust auf einen Apfel? Mein Fall ist er nicht so ganz!“
Er legte den Apfel auf einen Zaunpfahl, von wo aus er zunächst einmal neugierig beschnuppert wurde. Zur gleichen Zeit bot ich meinen Apfel dem zweiten Pferd an. Vorsichtig, um meine Finger nicht zu verletzen nahm er ihn an, stellte jedoch fest, dass er ihn ein klein wenig überschätzt hatte.
Es war ein lustiger Anblick, wie er da so auf dem riesigen Apfel herumkaute, ihn von einem Ende seines Maules zum anderen schob und nicht wusste, ob er ihn lieber herunterschlucken oder ausspucken sollte. Währenddessen hatte das zweite Pferd Heikos Apfel für sich entdeckt. Auch er biss vorsichtig zu, verlor ihn aber erst einmal aus dem Mund und musste ihn am Boden mit etwas Schlamm neu aufnehmen. Nun kauten beide synchron und es schien fast eine Art Wettkampf. Der Kampf mit dem Brocken dauerte etwa eine Minute, dann ging das Pferd erste Pferd als triumphierender Gewinner hervor. Das zweite kämpfte noch immer, hatte es aber nun geschafft, die äußere Schicht so weit herunterzunagen, dass der Apfel nun fast schon kaubar war.
Verfluchte Straßen
08.11.2017
Als wir vor einem guten halben Jahr die britischen Inseln betreten haben, waren wir geradezu entsetzt über den Zustand der Straßen dort. Anstelle von gewöhnlichem Asphalt war man hier dazu übergegangen regelrechte Schotterpisten mit ein klein wenig Teer zu fixieren, so dass ein Lautstärketrichter entstand, der jede noch so kleine Straße unerträglich machte. An einigen Stellen, vor allem bei große Hauptstraßen waren bewusst dicke Steine in den Asphalt eingearbeitet worden. Auf den Nebenstraßen hingegen hatte man ein noch abstrakteres Modell entwickelt. Auf die bereits vorhandene Straße wurde eine dünne Schicht flüssigen Teers aufgetragen und darauf eine dicke Schicht Rollsplitt verteilt. Das war alles. Nach eingier Zeit sorgten die normalen Autos mit ihrem Reifendruck dafür, dass sich ein Teil der Splittersteine im Teer festsetzte und mit ihrem Fahrtwind, dass die übrigen von der Straße geweht wurden. Wie man auf so eine Idee kommen konnte war uns fraglich und wir waren sicher, dass es ein Tick der Briten war, den man sonst nirgendwo auf der Welt finden würde.
Doch nun mussten wir mit erschrecken feststellen, dass diese grauenhaften Klebestraßen auch schon in Frankreich Einzug gehalten hatten. Irgendwann vor ein paar Tagen hatten wir die erste hier im Land gesehen und seither waren es immer mehr geworden. Es wirkte fast, als würden sie sich wie eine Epidemie verbreiten und nach und nach das ganze Land erobern. Angenehmes Wandern würde dann auch hier nahezu unmöglich sein. Wir können also nur hoffen, dass es ein Kurzzeittrend ist, der bald wieder aufgegeben wird.
Am Nachmittag erreichten wir ein kleines Dörfchen, dass sich durch seine besondere Touristenattraktion auszeichnete. Man konnte hier Pferdewagentouren buchen und dann gemütlich wie in alte Zeiten mit Pferd und Planwagen durch die Lande fahren. Mir stachen diese Touren vor allem deshalb sofort ins Auge, weil meine Eltern oft erzählt hatten, dass sie vor meiner Geburt eine solche Tour gebucht hatten und dass sie damals sehr begeistert davon waren. Ob es vielleicht sogar dieser Ort gewesen war, durch den sie dabei reisten?
Um noch deutlicher zu machen, dass meine Familiensystematik mal wieder eine größere Rolle spiele, hieß die Frau vom Bürgermeister, die wir kurz darauf trafen noch genau wie meine Mutter.
Zum Übernachten bekamen wir dieses Mal den Aufenthaltsraum der Rentner, die hier Mützen strickten oder Weihnachtsdeko bastelten. Es war eine wahre Schatzkammer an Kinkerlitzchen und Bastelmaterial, in dem wir uns erst einen Platz zum Schlafen freischaufeln mussten. Abgesehen davon war es aber ein guter Platz und wir hatten sogar eine Badewanne in der wir unsere kalten Knochen und Muskeln wieder auftauen konnten. Internet und Abendessen durften wir von einer Nachbarsfamilie beziehen. Diese hätte uns kurz zuvor auch zu sich zum Übernachten eingeladen. Nicht, weil sie unser Projekt so gut fanden oder weil wir ihnen sympathisch waren, sondern einfach nur, weil sie erkannt hatten, dass wir einen Schlafplatz brauchten. Während ich nach dem Bürgermeister gesucht hatte, hatte Heiko auf dem Platz gewartet und war dort entdeckt worden. Höflich hatte der Mann gefragt ob er helfen könne.
Es war eine chaotische Familie, in der jeder sein ganz eigenes Päckchen zu tragen hatte, aber sie waren hilfsbereiter und auf ihre eigne Art auch höflicher und diskreter als nahezu alle anderen Menschen, die wir in letzter Zeit hier im Land getroffen haben.
Spruch des Tages: Being creative is not a hobby, its a way of life! (Spruch in einem Schaufenster)Höhenmeter 22m / 30m / 30m / 16m
Tagesetappe: 17km / 16km / 20km / 18km
Gesamtstrecke: 27.370 ,27km
Wetter: Kälte und Dauerregen
Etappenziel 1: Gemeindehaus, Nijverdal, Niederlande
Etappenziel 2: Gemeindehaus, Raalte, Niederlande
Etappenziel 3: Gemeindehaus, Zwolle, Niederlande
Etappenziel 4: Exerzizienhaus, Meppel, Niederlande
06.11.2017
Wintereinbruch
Langsam aber sicher müssen wir uns eingestehen, dass der Sommer vorbei ist. Heute hatten wir nun die 6. Nacht in Folge Bodenfrost und in der Früh haben wir sogar eine fensterglasdicke Eisscheibe gefunden, die von einem LKW gefallen und dabei nahezu unversehrt geblieben war. Heute war außerdem der erste Tag des Herbstes, an dem ich meine Weste trotz Steigungen kein einziges Mal unter dem Wandern ausgezogen habe. Sogar Handschuhe gehörten fast durchgängig zum Pflichtprogramm. Und als wir uns heute Mittag ein Buttersandwitch mit Salz und Senf schmierten, waren die Windböen teilweise sogar so stark, dass es uns die Butter vom Brot wehte. Die Butter! Ist das zu fassen?
Ich denke also man kann ohne schlechtes Gewissen festhalten: Es wird Winter! Und ebenso kann man festhalten, dass es durchaus einen Unterschied macht, ob man sich um diese Jahreszeit in Italien oder auf der geographischen Höhe von Bayern befindet.
Neue Reisepläne?
Das zweite, was uns heute beschäftigte, war die Frage, ob wir Frankreich nicht doch schon etwas eher verlassen und noch einmal einen Abstecher durch Deutschland machen sollten. Je länger wir nun wieder in unserem einstigen Lieblingswanderland unterwegs waren, desto mehr mussten wi einsehen, dass von seinem ursprünglichen Charme kaum noch etwas übrig war.
Die kleinen Dörfer starben immer mehr aus und wurden zu geisterhaften Ruinenstätten, die grauer und trüber waren als jeder britische Friedhof. Im Schnitt brauchten wir nun drei Ortschaften um eine zu finden, in der wir bleiben konnten und auch kulinarisch ging es immer weiter bergab. Beachtet: Unser Picknick im Sturm bestand aus Baguette mit Butter und Senf. Und das war noch der abwechslungsreiche Teil des Tages. Sollten wir also vielleicht doch anfangen zu akzeptieren, das Frankreich (wie es ein Bürgermeister neulich so passend formuliert hatte) immer mehr zur Wüste wurde und anfangen unsere Konsequenzen daraus zu ziehen?
Schön war der Südwesten Deutschlands auf jeden Fall und es war ein Gebiet, das wir so gut wie gar nicht kannten. Aber es würde unsere Reise natürlich noch einmal verlängern und wieder mehr in die Berge leiten. Keine leichte Frage also.
Spruch des Tages: Ob ihr wirklich richtig geht, seht ihr wenn der Schlafplatz steht.
Höhenmeter 70m / 50m / 30m / 16m
Tagesetappe: 21km / 12km / 20km / 18km
Gesamtstrecke: 27.299 ,27km
Wetter: Kälte und Dauerregen
Etappenziel 1: Gemeindehaus, Haaksbergen, Niederlande
Etappenziel 2: Bed and Breakfast, Enschede, Niederlande
Etappenziel 3: Basilika Forum, Oldenzaal, Niederlande
Etappenziel 4: Gemeindehaus der Kirche, Ort nachtragen, Niederlande
05.11.2017
Auf der einen Seite ist es ja schön zu sehen, wie gut diese Sache mit dem Visualisieren klappt, auf der anderen Seite wäre es aber schon schön, wenn auch die eigenen, bewusst gewählten Bilder wahr werden würden, und nicht irgendwelche implizierten.
Gestern nachdem wir die Austestungen gemacht und ich einen Teil meiner Schuld mir selbst gegenüber durch die Sanktion abgebaut hatte, versuchte ich mich noch einmal wieder mit dem Visualisieren. Eigentlich sollte dies ja Teil der täglichen Routinen sein, um so die Grundlagen für einen entspannten und angenehmen nächsten Tag zu schaffen. Doch leider hatte ich es nun schon seit Monaten nicht mehr geschafft, die Konzentration lange genug zu halten, um ein Bild vor meinem inneren Auge entstehen zu lassen. Heute hatte ich das Gefühl, dass es vielleicht wieder klappen könnte. Ich schloss die Augen und versuchte mir einen schönen trockenen und ruhigen Tag vorzustellen, an dem wir am Fluss entlang wanderten und schließlich in einer hübschen kleinen Ortschaft anlandeten, wo wir entspannt einen Platz fanden. Doch gerade als die ersten Bilder auftauchen wollten, wurden sie von anderen Bildern überlagert, die ich zwar klar, deutlich und lebendig sehen konnte, die aber definitiv nicht von meinem Bewusstsein erzeugt wurden. Ich sah Heiko und mich, wie wir durch tiefe Häuserschluchten und entlang großer Straßen wanderten. Es war laut und ungemütlich, doch wir kamen nicht von den Hauptstraßen weg, weil alles andere für uns gesperrt war. Ich versuchte diese Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, indem ich sie weg radierte oder mit etwas positivem überschrieb, doch es wollte einfach nicht gelingen. Nun tauchten stattdessen Bilder auf, bei denen wir durch kleine Dörfer zogen, die allesamt an unverhältnismäßig riesigen Hauptstraßen entlang führten und diese bekam ich bis zum Schluss nicht mehr aus dem Kopf.
Die Macht der Überzeugung
Und genau so kam es dann auch. Obwohl wir uns noch immer auf dem Fernradweg befanden, kamen wir heute fast nur über Hauptstraßen. Schlimmer noch! Die Straßen auf denen wir wanderten, ganz gleich, ob klein oder groß, waren hier nun bereits von derselben Beschaffenheit wie in Großbritannien. Es konnte noch nicht alt sein, aber man hatte nun auch hier großflächig auf den normalen und zum Teil völlig intakten, zumindest aber leisen Straßen flüssigen Asphalt gegossen, um anschließend groß körnigen Kies darüber zu streuen. Dieser soll dann kleben bleiben und mit der Zeit eine neue Oberfläche bilden. Theoretisch klingt das vielleicht ganz nett, aber praktisch endet es in einem Desaster der Baukunst, denn das Ergebnis ist genau das, was man vermuten könnte: eine dicke Schicht Kies, der am Bode verklebt war.
Auch mit dem Ankommen wurde es nicht leichter. Im ersten Dorf traf ich überhaupt niemanden an, der hätte hilfreich sein können. Im zweiten war es so grausam, dass wir nicht einmal fragen wollten und das dritte hatte seine ganz eigenen Hürden.
Keine Arbeit am Sonntag
Die Krönung in Sachen Dreistigkeit und Unverfrorenheit machte der Bürgermeister dieses Ortes. Seine Antwort auf meine Frage lautete allen ernstes: „Es ist mir egal, was du von mir willst! Heute ist Sonntag und da arbeite ich nicht. Ich werde dir nicht helfen, was immer du auch brauchst.“
Ich hakte noch einmal nach, um sicherzugehen, ob ich ihn richtig verstanden hatte: „Sie sagen also, weil heute Sonntag ist, wollen Sie uns keinen Platz zum Schlafen geben, obwohl sie es könnten und sagen pennt doch einfach an der Bushaltestelle?“
„Wenn ihr an der Bushaltestelle pennen wollt, dann macht das! Ist mir scheiß egal! Ich habe damit heute nichts zu tun.“ erwiderte er.
Sofort fiel seine Frau mit ein und versuchte die Situation zu retten, in dem sie Lügenausreden erfand: „Wir sind ein kleines Dorf und haben hier leider keine Möglichkeiten, jemanden unterzubringen!“ fing sie an, doch ihr Mann fuhr ihr über den Mund:
„Nein! Darum geht es nicht! Ich hab einfach keinen Bock, dass jemand am Sonntag hier auftaucht und irgendetwas von mir will obwohl ich keinen Dienst habe!“
Was man dem Mann lassen muss ist, dass er als einziger seit langem mal wirklich ehrlich war. Diese geheuchelten Ausreden seiner Frau kannten wir zu genüge und sie gingen uns tüchtig auf den Geist. Aber diese Ehrlichkeit war neu und auch, wenn mich der Mann in diesem Moment tierisch aufregte, hatte es doch etwas Erfrischendes. Leider gelang es mir nicht, auf Französisch eine Diskussion zu beginnen darüber, dass man einen Beruf nicht einfach an den Nagel hängen kann, wenn man Feierabend hat. Ein Arzt kann ja schließlich auch nicht sagen, dass er grundsätzlich niemandem außerhalb der Dienstzeiten hilft, wenn ein Unfallopfer vor ihm liegt. Er müsste sogar ins Gefängnis, wenn er es versuchte.
Lustigerweise traf ich auf dem Rückweg zu unserem Treffpunkt den Stellvertretenden Bürgermeister, der mit seiner Familie einen Spaziergang machte. Er hatte nichts gegen ein bisschen Arbeit am Sonntag, vor allem nicht, wenn er sich damit vor der Verwandtschaft drücken konnte. Er musste nur noch den obligatorischen Nachmittagsspaziergang beenden und kam dann mit dem Schlüssel zu unserer Halle. Da es zu kalt war, um in dieser Zeit einfach nur auf der Bank zu sitzen, nutzten wir die Gelegenheit um unsere Frisbee wieder einmal auszupacken. Es musste weit über ein Jahr her sein, seit wir dies das letzte Mal getan hatten.
Spruch des Tage: An Sonntagen helfe ich grundsätzlich nicht! (Bürgermeister von Confladey, Frankreich)
Höhenmeter 70 m / 30 m
Tagesetappe: 12 km / 16 km
Gesamtstrecke: 27.228, 27 km
Wetter: Kalt, windig, sonnig
Etappenziel 1: Haus der Begegnung, Velen, Deutschland
Etappenziel 2: Gemeindehaus, Winterswick, Niederlande