Tag 511: Regentage

von Heiko Gärtner
31.05.2015 21:18 Uhr

Montag 25. Mai 2015

Heute ist nun der 5. Tag in Folge, an dem es fast ununterbrochen regnet. Langsam fragen wir uns, wo das viele Wasser her kommt, das da Ständig vom Himmel fällt. Wahrscheinlich ist der Meeresspiegel gerade um einen Meter gesunken, da alles Wasser in den Wolken ist. Doch die Erde scheint hier daran gewöhnt zu sein. In Italien hätte ein zehntel dieses Unwetters ausgereicht, um eine Naturkatastrophe auszulösen. Hier jedoch saugt der Boden alles auf wie ein Schwamm und man sieht nur an wenigen Stellen, dass es seit fast einer Woche durchregnet.

Während ich mich in der Bar dem fiesen Zigarettenrauch und den betrunkenen Einheimischen stellen durfte, hatte Heiko das Vergnügen mit einer Gruppe Jugendlicher, die unser Zelt belagerten. Kaum hatte es für einen Moment zum Regnen aufgehört, schon krochen alle aus ihren Löchern und begannen uns anzustarren. Die Halbstarken versuchten eine ganze Weile Heiko mit irgendwelchen Sprüchen zu nerven, liefen um das Zelt herum und brüsteten sich damit, wer die dreistesten und dümmsten Kommentare in seine Richtung abgeben konnte. Heiko sah das zunächst recht gelassen, schob sich die Ohrenstöpsel in die Gehörgänge und versuchte zu lesen. Doch die Kids wurden immer dreister und schließlich fing einer sogar an, gegen das Zelt zu klopfen und an unseren Schnüren zu ziehen. Das war definitiv eine Grenze, die sie besser nicht überschritten hätten. In Heiko war der Geduldsfaden gerissen. Wenn den Gören langweilig war uns die nichts besseres zu tun hatten, als hier herumzustehen und zu nerven, dann war das eine Sache. Doch sich an unserem Eigentum zu vergreifen, war etwas vollkommen anderes. Heiko sprang in seine Schlappten und stand Sekunden später in Unterhose vor dem Zelt um den Störenfrieden die Hölle heiß zu machen. Mit wütendem Gesicht und fletschenden Zähnen brüllte er los und es spielte keinerlei Rolle mehr, dass die Teenager seine Worte nicht verstanden. Die Botschaft, die er vermitteln wollte war eindeutig und sie wurde verstanden. Die Kids rannten um ihr Leben und tauchten den Rest des Abends auch nicht mehr auf.

Später reflektierten wir noch einmal über die Begegnungen, mit den Menschen in diesem Land. Das Resümee war traurig. Hin und wieder gab es einige Menschen, wie beispielsweise die beiden Mädels aus Novi Grad, den Schlosser aus dem kleinen Dorf oder den Angler, der uns unter seiner Hütte hatte schlafen lassen, die wirkliche Seelen waren und die man sofort in sein Herz schloss. Doch die meisten anderen begegneten uns mit so einer Kälte, dass wir es kaum glauben konnten. In Spanien hatten wir bereits oft das Gefühl gehabt, dass die Menschen einander sterben lassen würden, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch hier waren wir nun in einem wirklich gefährlichen Gebiet. In den Wäldern konnte man schneller verloren gehen, als man bis drei zählen konnte. Es gab kaum Möglichkeiten, sich etwas zum Essen zu kaufen, selbst wenn man Geld hatte. Es regnete seit Tagen und hatte Temperaturen unter 10°C, was bedeutete, dass man bereits erfrieren konnte. Und immer wieder kam es zu heftigen Gewittern, die einem das Blut in den Adern stocken ließen. Hätte man mich zuhause gefragt, wann es wahrscheinlicher ist, dass einem jemand hilft, in so einer Situation oder bei strahlendem Sonnenschein auf einer reifen Obstplantage, dann hätte ich auf jeden Fall auf die Gefahrensituation getippt. Doch leider ist genau das Gegenteil der Fall. Je schlechter die Bedingungen sind, desto weniger kann man auf die Unterstützung von Menschen bauen. Auch in der Früh standen wieder mehrere Leute an den Fenstern oder in ihren Türen und starrten uns an, ohne auch nur zu grüßen. In Italien hatten sie uns wenigstens einen Kaffee angeboten.

Wäre mein T-Shirt nicht bereits in der Früh beim Anziehen komplett nass gewesen, wäre es in der ersten Viertelstunde durchgeweicht. Es hörte einfach nicht auf. Zum Glück führte uns unser Weg heute konstant auf einer geteerten Straße entlang, so dass wir weder navigieren noch uns irgendwo durchs Unterholz schlagen mussten. Entlang der Straße bekamen wir einige Angebote für Schlafplätze. Hier stand eine verlassene Garage, dort ein halb verfallenes Überdach. Doch nichts schien wirklich funktional zu sein. Schließlich kamen wir an einen Fluss, der bereits weit über seine Ufer getreten war. Er wirkte, als wollte er noch weiter ansteigen und versaute uns somit die Partie in Bezug auf eine kleine Anglerhütte. Sie war bis auf eine Türöffnung rings herum geschlossen und groß genug, um unser Zelt darin aufbauen zu können. Doch sie lag gerade einmal rund 40cm über dem Wasserspiegel und die Fluten rauschten mit einer Geschwindigkeit von gut 50km ins Tal hinunter. Es war also zu riskant, darauf zu spekulieren, dass wir hier nicht überflutet wurden.

Einige hundert Meter weiter kamen wir dann jedoch bereits an den Rand von Šipovo und eines der ersten Häuser war das Motel Tetrijeb. Hier bekamen wir vom Besitzer dank der freundlichen Übersetzung seiner Tochter die Zusage für ein Zimmer. Unser Schlafquartier befand sich im obersten Stock. Selbst wenn es heute also noch eine richtige Überschwemmung geben sollte, dann sind wir hier wohl an dem einzigen Ort, der wirklich sicher ist. Als wir in unserem Zimmer alleine waren, freuten wir uns über nichts mehr, als aus den nassen Klamotten herauszukommen, sie zum Trocknen aufhängen zu können und uns unter die heiße Dusche zu stellen. Mit etwas Glück können wir so genug trocknen, um uns für den morgigen, prophezeiten Regentag wieder neu zu wappnen.

Dienstag, 26. Mai 2015

Tatsächlich hatten wir heute sogar etwas mehr Glück, als der Wetterbericht hätte vermuten lassen. Es nieselte zwar immer mal wieder eine Weile, doch im Vergleich zu den letzten Tagen konnte man das schon als absolute Trockenheit durchgehen lassen. Leider galt das nicht für unsere Kleidung und auch nicht für unsere Schuhe. Ein bisschen trockener als am Vortag mochten sie geworden sein, doch sie waren noch immer kalt und nass. Es fühlte sich ein bisschen so an, wie wenn man am Badesee nach einer längeren Sonnenpause wieder in die nasse Badehose schlüpft. Nur ohne Sonne und dass alles Nass war. Angefangen von der Unterhose, über das T-Shirt und die Regenjacke bis hin zu Socken, Schuhen und Hose. Wenn es der Raum nicht geschafft hatte, die Kleider zum Trocknen zu bringen, dann musste es nun wohl unsere Körperwärme schaffen.

Mit dem schlechten Wetter schwand auch die schlechte Laune der Menschen wieder ein bisschen. In der Früh wurden wir von den Besitzern eines kleinen Supermarktes gleich mit Obst, Gemüse, Erdnüssen und Chips für zwei Tage ausgerüstet. Dann gelangten wir in ein langgezogenes Tal, das sich immer weiter zu einem Canyon verengte, bis links und rechts von uns die steilen Felswände zweihundert Meter in die Höhe ragten. Links von uns tobten die Wassermassen in einem reißenden Wildwasserfluss ins Tal hinunter. Hier mit einem Rafting-Boot entlangzufahren musste wirklich Spaß machen. Immer wieder blieben wir stehen und stellten uns die Szenarien vor. Ungefährlich wäre es nicht, aber spaßig.

Kurz bevor sich die Straße die Felshänge emporzuwinden begann, kamen wir an einem kleinen Restaurant vorbei, in dem wir ein spätes Frühstück oder frühes Mittagessen bekamen. Es brannte sogar ein Kamin, vor dem wir uns ein bisschen wärmen konnten. Am liebsten hätten wir unsere Schuhe ausgezogen und direkt vors Feuer gestellt, doch der Gestank hätte unsere Gastgeber sicher getötet. Wenn es eine Sache gibt, die auf der Welt wirklich unangenehm riecht, dann sind es trockengelaufene Schuhe.

Am Ende des Canyons deutete ein Wegweiser links in eine kleine Nebenstraße, auf dem ein Bild mit einigen Wasserfällen zu sehen war. Er führte die komplette Steigung, die wir bereits nach oben gegangen waren wieder hinunter, sah aber irgendwie einladend aus. Daher ließen wir unsere Wagen stehen und riskierten einen Blick hinab. Zunächst kamen wir an ein paar freilaufenden Hühnern vorbei. Also an wirklich freilaufenden, nicht diese gefakete Art der Freilandhaltung, wie sie immer auf den Eierkartons steht. Dann kamen wir zu einem der faszinierendsten Plätze, die wir auf der ganzen Reise gesehen hatten. Der Fluss hatte sich hier mehrfach geteilt und lief über lauter kleine Terrassen und Wasserfälle, die alle irgendwie mit einander verbunden waren. Mitten in dieses Schauspiel hatte man lauter kleine Hütten, Wassermühlen und Häuschen gebaut, die man als Feriendomizil mieten konnte. Normalerweise waren die Wasserläufe hier nur kleine, sanfte Bächlein, doch durch die Sintflut der letzten Tage hatten sie sich in brodelnde und tobende Naturgewalten verwandelt. Es war wunderschön, gleichzeitig aber auch so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.

Nach dem wir unsere Wagen wieder erreicht hatten, begann der eigentlich Aufstieg. Auf den kommenden 8km galt es mehr als 350 Höhenmeter zu überwinden. Das, was wir bislang durch unsere Körperwärme hatten trocknen können, wurde nun durch unseren Schweiß wieder komplett nass. Irgendwann waren wir so kaputt, dass wir sogar von einer Kuh überholt wurden, die hier ebenso frei herumlief, wie die Hühner.

Nach 15km erreichten wir das kleine Dorf Strojice. Zum ersten Mal in Bosnien trafen wir hier einen Pfarrer an und dazu noch einen sehr netten und freundlichen. Es ist wirklich spannend, wie schnell man manchmal erkennen kann, ob ein Mensch freundlich ist, oder nicht. Bei diesem hier reichte ein einziger Blick und es war sofort klar, dass er uns helfen würde. So war es auch. Wir bekamen ein Holzhaus, das erst ganz neu gebaut worden aber noch nicht ganz fertig gestellt war. Um es wirklich zu vollenden fehlte das Geld. Wir hatten auf jeden Fall genug Platz, um alles zum Trocknen auszubreiten. Strom und Wasser gab es nicht, doch zumindest den Strom konnten wir uns von einer Straßenlaterne abzapfen.

Spruch des Tages: Danke Regen, es war nett dass du da warst, aber langsam darf gerne auch die Sonne mal wieder vorbeischauen.

 

Höhenmeter: 420m

Tagesetappe: 15km

Gesamtstrecke: 9230,77 km

Wetter: Bewölkt mit leichtem Nieselregen

Etappenziel: Gemeindehaus, Strojice, Bosnien und Herzegowina

In nicht einmal mehr zwei Monaten wird Paulina zu uns stoßen. Grund genug um sie schon einmal mit einem kleinen Video willkommen zu heißen:

https://www.youtube.com/watch?v=3l2a3tfQAfA

Nach der kurzen Nacht und dem anstrengenden Tag vielen wir in einen tiefen und festen Schlaf. Ob es in der Nacht noch einmal regnete weiß ich nicht, aber die Feuchtigkeit, die wir selbst mit ins Zelt gebracht hatten, hatte ausgereicht um alles nass zu machen. Die Daunen in den Schlafsäcken waren zu kleinen weißen Knöllchen zusammengefallen, die kaum noch wärmen konnten. Heute Abend wäre ein Platz, an dem wir alles trocknen konnten mal wieder mehr als nur angebracht. Doch bevor wir uns darüber Gedanken machen konnten, mussten wir erst einmal einen Weg hier heraus finden. Unsere Nahrungsvorräte waren nahezu aufgebraucht. Eine weitere Nacht in der Wildnis, ohne dass wir zuvor an einem Dorf vorüber kamen, würde mau aussehen.

Wir schlugen den Weg ein, den Heiko am Abend bereits ausprobiert hatte und standen kurz darauf in der verborgenen Siedlung. Sie wirkte, als wäre sie vor rund zweihundert Jahren stehen geblieben und hätte sich seither nicht mehr verändert. Wie immer der Krieg in Bosnien auch ausgesehen hatte, hierher war er nicht gekommen. Wir waren unsicher, ob diese Menschen hier überhaupt in irgendeiner Statistik auftauchten, ob überhaupt jemand wusste, dass sie hier lebten. Sicher war jedenfalls, dass sie hier vollkommen Autark waren. Das Wasser kam aus dem Felsen und ihr Essen wuchs auf den Feldern, graste auf der Weide oder wurde im Wald geschossen. Wenn unsere Zivilisation unterging oder man einfach keine Lust mehr auf sie hatte, dann konnte man hier definitiv ganz in Ruhe weiterleben.

Aus einem Schornsteine kam leichter Rauch. Die Chancen, jemanden anzutreffen, den man nach Wasser und dem Weg fragen konnte, waren also recht gut. Zu meiner Überraschung hatte das Haus sogar eine Klingel. Und diese funktionierte. Strom gab es also. Klar, es hatten ja auch Stromleitungen vorbeigeführt. Ob sie offiziell ans Netz angeschlossen waren bezweifelten wir zwar noch immer, aber es war sicher nicht allzu schwer, sich etwas Strom abzuzapfen.

Die Tür öffnete sich und eine alte, zahnlose Frau trat heraus. Sie hatte einen Kehlkopftumor, durch den ihr Hals auf eine Größe angeschwollen war, die die ihres Kopfes übertraf. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Hätte sie in Deutschland oder in einem anderen Land mit einem hochentwickelten, medizinischen System gelebt, in dem man ihr eine Diagnose für ihre Krankheit gegeben hätte, dann wäre sie sicher längst tot. Man hätte ihr durch den Voodoo-Zauber der Prognose „Sie haben noch X Monate zu leben“, mit Bestrahlungen und Chemotherapien den Rest gegeben. Aber hier mitten in den Urwäldern Bosniens hatte sie einfach einen geschwollenen Hals, über den sich niemand groß einen Gedanken machte. Wahrscheinlich konnte sie 100 Jahre alt damit werden. Vielleicht war sie es bereits.

Sie erlaubte uns, unsere Flaschen am Brunnen aufzufüllen und deutete auf einen Trampelpfad, der unterhalb des Dorfes nach rechts führte. Donja Becka lag irgendwo auf der anderen Seite des Tals.

Für uns folgte nun der mit abstand abenteuerlichste Abstieg unserer ganzen Reise. Auf einer Strecke von gut vier Kilometern schlugen wir uns mitten durch den Wald. Die Büsche waren vom Regen durchtränkt und gaben ihr Wasser bereitwillig bei jeder Berührung an uns ab. Der Boden war uneben, schlammig und voller versteckter Felsen. Immer wieder gabelte sich der Weg, so dass wir die Wagen abstellen und ohne sie auf Erkundungsreise gehen mussten. Unzählige Male konnte ich meinen Wagen gerade noch in letzter Sekunde vor dem Kippen retten. Drei Mal schaffte ich es nicht und landete mitsamt des Gepäcks im Schlamm. Meine beige kurze Hose war nun so voller Schlamm, dass es aussah, als hätte ich es mit einem fiesen Durchfall nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft. Ungünstig, wenn man keine Möglichkeit zum Waschen hat. Immerhin wischte die ständige Nässe das meiste davon wieder weg.

Schließlich erreichten wir eine Baustelle, die hier mitten im Wald errichtet worden war. So wie es aussah gehörte sie zu der anderen Seite der Straße, die gestern mitten im Nichts geendet war. Dummerweise lag sie rund vier Meter unter uns. Unser Trampelpfad endete an einem Steilhang.

„Das ist ungünstig!“ kommentierte Heiko sarkastisch. „Wenn wir Pech haben, müssen wir wieder umkehren!“

Doch ganz so viel Pech hatten wir nicht. Immerhin war der Pfad auch der Zugang für die Leute im Dorf, inklusive der 100jährigen mit dem geschwollenen Hals. Wenn sie hier einen Ausgang gefunden hatten, dann mussten wir doch auch einen finden.

Nach etwas Suchen entdeckten wir eine Stelle, die flach genug war, dass wir die Wagen zu zweit vorsichtig herunterlassen konnten. Dann hatten wir es geschafft. Nach gut zwei Stunden der Zitterpartie, voller schweißtreibender Manöver zwischen Felsvorsprüngen und Abgründen hatten wir nun endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Es war noch immer keine Straße sondern eine schlammige Baustellenzufahrt, doch es fuhren wieder Autos und an dem Ende mit der Sackgasse waren wir bereits. Irgendwie musste es also einen Ausgang geben.

Genau in dem Moment, in dem wir den ersten Fuß auf die Schlammstraße setzten, begann es zu regnen. Kurz ärgerten wir uns darüber, dass es schon wieder losging, doch dann überwog die Dankbarkeit dafür, dass der Regen bis zu diesem Moment gewartet hatte. Es war kein Pech, dass wir nun nass wurden. Es war ein Geschenk, dass der Regen damit gewartet hatte, bis wir in Sicherheit waren. Hätte er uns mitten im Dschungel erwischt, weiß ich nicht, ob wir es daraus geschafft hätten.

Die Baustellenarbeiter waren leider auch nicht viel Hilfreicher als die Dorfbewohner. Ortsangaben waren einfach nicht ihre Stärke. Doch es gab eh nicht viel mehr Möglichkeiten, als der Schlammstraße zu folgen, wo immer sie auch hinführte. Merkwüdig war jedoch die Baustelle selbst. Direkt unter dem Hang, den wir herabgestiegen waren, wurde ein Tunnel gebaut. Er war jedoch zu klein um ein Straßentunnel zu werden. Allenfalls konnte es eine Einbahnstraße oder ein Zugtunnel werden. Doch wo sollte er hinführen? Die Straße auf der anderen Seite war ebenso serpentinig und steil, die es der Trampelpfad auf dieser Seite gewesen war. Warum also baute man einen Tunnel durch den einen Berg, nicht aber durch den anderen? Auch eine vollkommen neue Stromversorgung wurde hier gelegt. Direkt neben die alte. Uns fiel auf, dass die meisten Baufahrzeuge, die es hier gab, eigentlich Militärfahrzeuge waren. Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Wir hatten nur keine Ahnung, was es war. Ging es vielleicht um die Aussiedler oben auf dem Berg? Was war, wenn sie der Regierung ein Dorn im Auge waren, weil sie hier lebten, ohne dass sie dem Staat etwas brachten und ohne dass man sie kontrollieren konnte?

Nach gut 5km mündete sie auf eine Teerstraße. Der Regen hatte nun wieder aufgehört und da wir noch nichts gegessen hatten, legten wir unsere erste und einzige Pause des Tages ein. Links von uns lag Donja Becka. Heiko begann damit, die letzten Orangen zu schälen, die wir noch hatten und ich ging die paar Meter bis in den Ort, um dort nach etwas zu Essen zu fragen. Bei einer älteren Dame bekam ich zwei Stücken frisch gebackenen Pflaumenstrudel. Als sie mir den Kuchen anbot, musste ich grinsen. Gestern Abend hatten wir uns darüber unterhalten, dass wir nun seit Kroatien zwar ständig gegen unseren Essensplan verstießen, dabei aber kaum etwas leckeres bekamen.

„Wenn wir schon sündigen,“ hatte ich gemeint, „dann wäre es doch schön wenigstens etwas zu haben, das richtig gut schmeckt und nicht nur trockenes oder labbriges Brot mit billiger Wurst aus Tierabfällen.“

„Stimmt!“ hatte Heiko geantwortet, „Weißt du worauf ich echt mal wieder Lust hätte? Auf einen richtig guten Strudel!“

Jetzt hielt ich ihn in der Hand und er war sogar noch ein bisschen warm. Als ich zu Heiko zurückkehrte, saßen auf der anderen Straßenseite noch drei weitere Wanderer. Sie machten ebenfalls eine Pause, hatten Heiko aber nicht einmal gegrüßt und schienen auch sonst nicht in Plauderlaune zu sein. Kurz bevor wir weiterzogen, brachen auch sie wieder auf und schlugen den Pfad ein, auf dem wir gekommen waren. Ob sie wohl wussten, was sie da erwartete?

Nach unserer Pause folgten wir der Straße nach rechts und kamen wieder in einen Canyon. Die Felsen ragten weit ins Tal hinein und waren eine ideale Kulisse zum Klettern. Auch hier standen einige Häuser, die so malerisch lagen, dass man es sich kaum vorstellen konnte. Eine Frau saß direkt vor ihrer Tür und schaute uns an, als hätte man sie für 70 Jahre nach Guantanamo verbannt. Wussten die Menschen wirklich nicht, was für einen Reichtum sie hier hatten?

Als sich der Canyon wieder öffnete kamen wir an einem Sägewerk vorbei. Es war nur ein kleines Werk, doch die Holzmassen, die hier verarbeitet wurden, sprachen für sich. Die Wälder waren alle staatlich und so wie das Holz aussah, war es für den Export bestimmt. Ging es vielleicht darum? Sollten die Straßen vielleicht gar nicht für die Menschen gebaut werden, sondern um das Land für die Holzindustrie zu erschließen? Ging es vielleicht auch um eine großflächige Abholzung wie in Rumänien und Finnland, damit wir im Sommer grillen und im Winter unsere Öfen anschüren konnten?

Traurig stellten wir fest, das auch mit dem Holz überaus achtlos umgegangen wurde. Es stand ungeschützt im Regen, vieles war schon so durchweicht, dass es zu modern begann. Teilweise waren die Stapel so aufgeschichtet, dass die Bretter dadurch verbogen oder brachen. Riesige Mengen an Bruch- oder Restholz waren aussortiert und auf große Haufen getürmt worden, wo sie verrotteten. Diese Holzabfälle waren einmal lebende Bäume gewesen, die das Land zu dem machten, was es ist. Sie waren es, die dem Land seinen Reichtum schenkten, den niemand erkennen konnte. Hatten sie es da nicht verdient, mit ein bisschen mehr Achtung behandelt zu werden?

Der Himmel zog sich bereits wieder zu und wir beeilten uns, das nächste Dorf zu erreichen. Hier gab es neben vier leerstehenden Gebäuden von der Stadt auch ein Motel. Als ich dort nach Zimmern fragte erklärte man mir jedoch, dass diese nicht mehr vermietet wurden. Englisch sprach niemand und auch mit der Erklärung auf unseren Zetteln kamen wir nicht weiter. Es mochte hier nun wieder Straßen geben, doch die Mentalität hatte sich dadurch nicht verändert. Fremde waren einfach nicht willkommen und man wollte möglichst nichts mit ihnen zu tun haben. Hilfsbereitschaft wurde nicht besonders groß geschrieben.

In einem Laden, in dem ich erfolglos nach etwas zu essen fragte, traf ich ein junges Mädchen, dass versuchte für mich zu übersetzen. Sie schlug vor, dass wir doch ihren Englischlehrer um Hilfe fragen konnten. Nachdem sie mich hingeführt hatte, klingelte ich an seiner Tür.

„Ich muss mich beeilen und schnell nach Hause!“ rief das Mädchen und rannte davon. Der Vater des Lehrers öffnete die Tür. Er bat mich einen Moment zu warten, ging ins Nebenzimmer und sprach mit seinem Sohn. Dann kam er zurück und erklärte: „Mein Sohn schläft, er kann leider nicht mit ihnen sprechen!“

Niedergeschlagen schaute ich zu Boden. Bislang hatten wir hier immer recht gute Erfahrungen gemacht, wenn jemand zumindest schon mal eine Sprache sprach, die wir auch konnten. Doch wenn sich jemand mit einer so faulen Ausrede entschuldigen ließ, obwohl er nicht einmal wusste, worum es überhaupt ging, dann brauchte man wohl nicht auf viel Hilfe zu hoffen.

Heiko hatte in der Zwischenzeit eine junge Frau kennengelernt, die in der nähe klettern war. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs und sprach sogar wirklich gut Englisch. Auf irgendeine Art versuchte sie uns glaube ich wirklich zu helfen, doch letztlich machte sie die Lage nur noch schlimmer, indem sie lange um den heißen Brei herumredete und am Ende doch keine Idee hatte. Dadurch verloren wir genau die wertvollen Minuten, die sich der Regen noch zeitgelassen hatte, bis er von neuem begann. Und diesmal war es eine wahre Sintflut. Im strömenden Regen bauten wir unser Zelt auf einem Sportplatz auf und schafften so schnell es ging alles ins innere. Doch das Zelt war von der letzten Nacht noch immer nass und nun gab es fast nichts mehr, das noch einigermaßen trocken war. Während Heiko versuchte, den Innenraum so gut es ging trockenzulegen und einzurichten, zog ich mit einer Tüte von Haus zu haus und frage nach essen. Zwei Mal bekam ich eine spontane Zusage und ein freundliches Lächeln. Die anderen Male wies man mich sofort ab, wobei es mir hin und wieder gelang, sie doch noch zu etwas Brot oder einem Apfel zu überreden. Doch von der Herzlichkeit die wir in den vergangenen Tagen hin und wieder erlebt hatten und mit der man uns in Slowenien ständig begegnete, war nun nichts mehr zu spüren.

Halb erfroren und vollkommen durchnässt kehrte ich ins Zelt zurück. Im Vorraum zog ich mich splitternackt aus und trocknete mich mit einem klammen Handtuch so gut es ging ab. Dann schlüpfte ich in die trockenen Wechselkleider und hüllte mich in den klammen Schlafsack. Heiko hatte zuvor das gleiche getan und schaute nur noch mit der Nasenspitze daraus hervor. Noch über eine Stunde prasselte der Regen wütend auf unser Zelt ein. Dann ließ er nach und hörte schließlich ganz auf. Bevor er es sich anders überlegen konnte, huschte ich aus dem Zelt in die nächste Baar, um dort das Handy und die Computer wieder zu laden und um diesen Bericht hier zu schreiben. Ich sitze oben im Billardzimmer, das bis auf eine kleine Unterbrechung zum Glück leer ist. Unter mir sitzen rund 15 volltrunkene Männer, die ihr Bier so auf dem Tisch stapeln mussten, dass keine Zwischenräume mehr existieren. Anders hätte der Platz nicht ausgereicht. Gerade ist es halbwegs ruhig aber noch vor wenigen Minuten haben sie sich im Wechsel angeschrien und lauthals miteinander gegrölt. So angenehm die Trockenheit und Wärme hier in der Baar auch ist. Gegen die Idylle und die Friedlichkeit der Natur kommt sie einfach nicht an.

Spruch des Tages: Kann so viel regen wirklich noch natürlich sein?

 

Höhenmeter: 130m

Tagesetappe: 20km

Gesamtstrecke: 9215,77 km

Wetter: Starkregen ohne Pause

Etappenziel: Motel Tetrijeb, Šolaje bb, 70270 Šipovo, Bosnien und Herzegowina

Die Nacht im Hotel war wichtig, aber nicht unbedingt erholsam. Das Fenster in unserem Zimmer glich eher einem Pappkarton und hielt weder Lärm noch Kälte ab. Jedes Mal wenn ein LKW draußen auf der Straße vorbei fuhr, zogen wir unwillkürlich die Köpfe ein und duckten uns an die Wand. Weil von den letzten Tagen so viel liegen geblieben war, wurde die Nacht außerdem recht kurz und kaum hatten wir uns hingelegt, begannen auch schon die ersten Sonnenstrahlen in unser Zimmer zu fallen.

Beim einpacken stellte ich fest, dass die Flasche mit dem Lampenöl für unseren Kocher ausgelaufen war. Gestern hatten wir ihn seit Monaten zum ersten mal wieder benutzt und dabei musste ich übersehen haben, dass das Dichtungsgummi aus dem Deckel gefallen war. Früher wäre das kein Problem gewesen, denn zu Beginn unserer Reise hatten wir die Flasche immer in einem dichten Beutel aufbewahrt, damit nichts passieren konnte. Do da so lange nichts passiert ist, bin ich schluderig geworden und in den letzten Monaten lag sie immer einfach lose in meinem Packsack. Dadurch konnte sich das Öl nun relativ gut verteilen, wobei ich in sofern noch Glück hatte, dass der Beutel für unsere Light-Pois fast alles aufgesaugt hatte. Dieser musste nun gewaschen werden, aber ansonsten war nicht viel passiert.

Von unserem Hotel aus ging es erst einmal eine Weile am Fluss entlang zu einem kleinen Dorf. Hier bekamen wir ein gutes Frühstück in einem Restaurant, bei dem man direkt am Wasser sitzen konnte. Die Gegend war berühmt fürs Fliegenfischen und auch in dem Restaurant befand sich ein Angler, der gerade seine Ausrüstung zusammenbaute. Er baute bereits als wir ankamen und er war noch immer nicht beim Angeln, als wir gingen. Gut, dass er das Fischen nur als Sport betrieb und nicht um seine Familie damit zu ernähren. Denn diese wäre sicher verhungert bevor er seine Angel auch nur ausgeworfen hatte.

Bis zu dem Moment, in dem wir das Dorf wieder verließen, hatte die Sonne geschienen. Dann war der Himmel schwarz geworden und es begann zu regnen. Den gesamten restlichen Tag wechselten sich die Trockenperioden immer wieder mit plötzlichen Regenschauern ab. Die Wolken schienen komplett verrückt zu spielen. Sie bewegten sich so gut wie überhaupt nicht und doch wechselten sie ständig. In einer Minute war es vor uns hell und hinter uns braute sich ein Gewitter zusammen. Im nächsten Moment war es genau andersherum. Ich weiß nicht wie oft wir nass wurden und wieder trockneten, doch wenn wir für jedes Mal Jacke wechseln nur eine einzige bosnische Mark bekommen hätten, dann würden wir jetzt in einen Restaurant sitzen und uns die Bäuche voll schlagen. Vorausgesetzt natürlich, es gäbe hier ein Restaurant.

Auf unserem Weg durch die Berge fühlten wir uns wieder wie in einer fernen, längst vergangen Welt. Die Landschaft ist hier einfach unbeschreiblich schön und auch die winzigen kleinen Ortschaften fügen sich ins Bild, wie in einem Märchen. Die Tiere haben hier nicht einmal mehr ein Gehege, sondern laufen frei umher. Plötzlich standen wir auf der Straße mitten in einer Kuhherde. Kurz darauf kamen ein paar Ziegen und dann ein paar Schafe auf uns zu. Und noch etwas später kam uns sogar ein Pferd entgegen getrottet.

Nur aus den Menschen wurden wir nicht schlau. Sie lebten hier an einem der schönsten Flecken der Welt und waren griesgrämiger als Oskar aus der Mülltonne.

Als wir am späten Nachmittag ein Tal erreichten, war uns klar, dass dies unser Übernachtungsplatz werden musste. Doch das Problem war, dass alle Wiesen, die infrage kamen, eingezäunt waren. Ein alter Mann kam auf uns zu und sprach uns auf Bosnisch an. Wir fragten ihn, ob wir hier irgendwo zelten könnten, aber er schüttelte nur den Kopf. Dann baten wir ihn um Wasser, doch auch dieses wollte er uns nicht geben. Wir fragten ihn nach dem Weg nach Donja Becka, dem nächsten Dorf, das auf unserer Karte verzeichnet war. Er begann wild drauflos zu erzählen und machte allerlei Gesten, doch wir wurden nicht schlau aus ihm, egal was wir auch wollten, er verneinte alles. Wir beschlossen ihn zu ignorieren und folgten unserer Karte. Es dauerte jedoch nicht lange und die Straße endete im Nichts. Wieder begegnete uns ein Mann und diesmal brachten wir etwas mehr aus ihm heraus. Donja Becka lag irgendwo hinter diesem Berg, doch mit den Wagen würden wir es kaum erreichen können.

Durch die Bäume konnte man bereits die nächsten Häuser sehen. Wo es Häuser gab, musste es ja auch eine Straße geben, also konnte der Trampelpfad nicht allzu lang sein.

Vor gut 12 Jahren habe ich das erstem Mal mit einem Freund einen Abenteuerurlaub gemacht, bei dem wir einfach so mit dem Rucksack quer Feld ein durch die Wälder in Norditalien gewandert sind. Damals haben wir ein Dorf in den Bergen entdeckt, zu dem keine echte Straße führte. Wir waren vollkommen überrascht, dass es dort wirklich ein ganz normales Dorfleben gegeben hatte, bei dem alles so war wie immer, nur dass es keine Autos gab. Der einzige Zugang war ein schmaler Betonplattenweg gewesen, der nur mit Mofas befahrbar war.

Am Ende unseres kleinen Trampelpfades standen wir heute aber vor einer Entdeckung, die noch weitaus abgelegener war, als dieses kleine, italienische Bergdorf. Es gab Häuser, doch dass es deshalb auch eine Straße geben musste erwies sich heute eindeutig als Vorurteil . Unser grasbewachsener Pfad war der Hauptzugang zu diesem Dorf. Ansonsten gab es nur einen einzigen weiteren Pfad, der an einem Friedhof endete. Das Dorf bestand aus fünf oder sechs Häusern, deren Bewohner fast alle unter einem Dachüberstand versammelt waren und uns beobachteten. Wir fragten sie nach einer Möglichkeit zum Zelten, doch sie behaupteten, uns nicht zu verstehen. Anschließend tuschelten sie jedoch miteinander und erwähnten dabei mehrmals das Wort „spavanje“ was „schlafen“ heißt. Sie wussten also genau worum es uns ging. Irgendwie hatten wir gedacht, dass Menschen, die so abgelegen und naturverbunden lebten, etwas freundlicher und hilfsbereiter waren, doch auch das war wohl ein Vorurteil. Wir fragten sie noch einmal nach dem Weg nach Donja Becka und eine Frau deutete auf eine Kuhweide, die etwas oberhalb der Mini-Ortschaft lag. Von dort kam gerade eine weitere Frau herabgestiegen.

Wieder regnete es in strömen und es dauerte nicht mehr lange, bis es zu dämmern beginnen würde. Mit wenig Bosnischkenntnissen und viel Pantomime verstanden wir aus den Gesprächen, dass der Weg nach Donja Becka extrem anstrengend und unwegsam war. Mit unseren Wagen sei es kaum zu machen. Die Längenangaben gingen dabei weit auseinander und reichten von etwas mehr als 1km bis hin zu 7km. Mit anderen Worten: Das Gespräch brachte überhaupt nichts. Den Weg zu wagen war so kurz vor Einbruch der Dunkelheit eigentlich etwas zu riskant. Doch hier konnten wir auch nicht bleiben und unten im Tal ebenso wenig wenn wir also wieder über den steilen Trampelpfad zurück gingen, dann brachte uns das auch nicht weiter.

Wir schauten noch einmal auf die Karte und nahmen dann die Kuhweide noch etwas genauer unter die Lupe. Das, was von unten wie ein unüberwindbarer Geröllhaufen ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit die untere Seite eines Hanges, auf dem eine richtige Straße gebaut wurde. Noch war die Straße nicht fertig, weshalb das ganze nur eine Piste aus Schlamm, Lehm und Unmengen an riesigen Felsbrocken war, aber man konnte darauf laufen. Also versuchten wir unser Glück.

Bei trockenem Wetter wäre es kaum ein Problem gewesen, dieser Piste zu folgen, doch der permanente Regen hatte sie vollkommen aufgeweicht und in eine schleimige Rutschbahn verwandelt. So wurde jeder Schritt zu einem Kampf gegen die Erdanziehungskraft und eine Kunst im Bewahren des Gleichgewichtes.

Nach einigen hundert Metern kam uns eine alte Frau mit einer Axt entgegen. Sie grüßte uns und ging weiter, so als wäre es das normalste der Welt, dass die zwei Ausländer mit Pilgerwagen unterwegs waren.

Heiko war mir ein gutes Stück voraus, wartete aber an der nächsten Kurve auf mich.

„Wir haben ein Problem!“ meinte er, als ich ihn eingeholt hatte.

Ich schaute ihn fragend an.

„Ich habe einen Platten!“

Das fehlte jetzt natürlich noch. Auf dem Reifen war eine Schlammschicht von gut vier Zentimetern, es dämmerte, der Regen prasselte noch immer, wir hatten keine Ahnung wo wir waren und wo wir hinwollten. Wenn es einen ungünstigen Zeitpunkt für einen Platten gab, dann war es dieser.

Wir beschlossen uns aufzuteilen. Ich kümmerte mich um Heikos reifen und er inspizierte die Gegend auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Er ging weiter die Straße hinauf und stand plötzlich einer Schafsherde gegenüber. Diese trottete langsam und gemächlich in Richtung Minidorf und kam daher kurze Zeit später bei mir vorbei. Als mich die Schafe sahen, wie ich gerade mit dicken Moosbüscheln den kaputten Reifen säuberte, blieben sie stehen und schauten mir dabei zu. Offensichtlich kam so ein Spektakel doch nicht alle Tage vor und es schien sie wirklich zu interessieren. Zunächst hielten sie einen respektvollen Abstand, dann kamen sie aber immer näher und irgendwann waren sie so neugierig, dass ich befürchtete, sie würden ausversehen Heikos aufgestellten Wagen umstupsen. Aber sie waren vorsichtig. Den Reifen zu säubern dauerte ewig und irgendwann verloren auch die Schafe das Interesse daran. Sie setzten sich wieder in Bewegung und trotteten weiter.

Als Heiko zurückkehrte, war ich gerade dabei, den neuen Schlauch aufzuziehen. Das Rad selber war nun sauber, dafür war ich voller Schlamm. Zu allem Überfluss war nun auch wieder eine Speiche gebrochen. Es wirkte fast etwas, als sei dieses Rad verflucht, denn dies musste nun schon die vierte oder fünfte gebrochene Speiche in diesem Jahr sein.

Heiko hatte in der Zwischenzeit wirklich einen Schlafplatz für uns gefunden. Wir mussten der Schlammstraße noch ein gutes Stück weiter folgen und dann links auf eine Freifläche abbiegen. Dann hielten wir uns weiter am Hang entlang, bis wir an eine Stelle kamen, wo die Wiese ein gutes Stück weit eben war.

Hier schlug ich unser Lager auf, während Heiko noch einmal die Gegend erkundete. Für Heute hatten wir einen guten Schlafplatz, doch noch immer war unklar, ob und wie wir hier weiter kamen. Ein bisschen Überblick über die Lage war also nicht verkehrt. Die Schlammstraße endete wenige Meter nachdem wir sie verlassen hatten und wurde zu einer Art Tunnel im Dickicht des Waldes. Von unserem Zeltplatz aus führte ein schmaler Pfad weiter den Berg hinauf. Zu Heikos vollkommener Überraschung kam er darauf nach wenigen Metern wieder in ein Dorf. Zunächst wirkte es verlassen und Heiko vermutete, dass es vielleicht einfach einige alte Scheunen waren. Doch dann stand er plötzlich vor einem Wohnzimmer, in dem ein Kaminfeuer brannte. Dieses Dorf lag so versteckt, dass es nicht einmal auf den Satelitenbildern von Google erkennbar war. Doch es war noch immer belebt.

Heiko kehrte zurück und half mir mit den restlichen Einräumarbeiten unseres Zeltes. Die Dämmerung stand nun direkt bevor und wenn wir nicht hungern wollten, mussten wir noch den Kocher zum Laufen bringen und unseren Reis zubereiten.

Zwei Jäger, ein Vater und sein Sohn kamen vorbei und schauten sich unser Lager an. Sie grüßten, sprachen aber ebenfalls kein Englisch oder Deutsch. Das wir hier zelteten schien sie weder groß zu stören noch zu interessieren. Das heißt, der Sohn schien schon etwas interessiert, doch sein Vater bedeutete ihm unmissverständlich, dass er weitergehen solle. Nun riss auch die Wolkendecke ein bisschen auf und einige letzte Sonnenstrahlen brachten die Berge zum leuchten. Wir waren mitten in einer wunderschönen Wildnis. Ohne eine Idee, wie wir hier je wieder herausfinden sollten, aber mit einer atemberaubenden Aussicht.

Spruch des Tages: Into The Wild

Höhenmeter: 290m

Tagesetappe: 18km

Gesamtstrecke: 9195,77 km

Wetter: Starkregen im Wechsel mit einigen Trockenperioden

Etappenziel: Sportplatz, 70267 Donji Baraci, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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