Tag 492: Der Maulwurf

von Heiko Gärtner
08.05.2015 20:28 Uhr

Janko hatte nicht übertrieben, was die Schönheit seiner Heimat anbelangte. Unser Abendspaziergang führte uns durch eine idyllische Wald- und Moorlandschaft in der sich neben Rehen und Dachsen auch Biber zuhause fühlten. Plötzlich stolperten wir mitten auf unserem Weg über die schmalen Trampelpfade beinahe in eine gewaltige Biberburg hinein. Rings um den See konnten wir außerdem mehrere Schleifpfade entdecken, die der schwimmende Baumeister hier hinterlassen hatte.

Am Morgen bekamen wir dann noch einmal eine ausgiebige Führung über den Hof. Die Familie Kezele hatte nicht nur einen wirklich beeindruckenden Weinkeller vorzuweisen, der selbst dann irgendwie faszinierend war, wenn man selbst überhaupt keinen Wein trank. Es gab auch eine Art Streichelzoo mit einem prächtigen Truthahn, der sein Federkleid stolz aufplusterte, als wir ankamen. Anschließend wurden wir in das private Museum des Hofes geführt. Hier fanden sich Haushaltsgegenstände, Werkzeuge und andere interessante Dinge aus der Region, wie sie zu Zeiten unserer Großeltern, Urgroßeltern und Ururgroßeltern genutzt wurden. Kein Museum, das wir je besucht hatten, konnte mit so einer Sammlung aufwarten.

Nach dem Rundgang war es dann langsam wieder Zeit für uns, an die Weiterreise zu denken. Wir verabschiedeten uns von unseren Gastgebern und machten uns auf den Weg in Richtung Süden.

Nach rund eineinhalb Stunden suchten wir uns einen ruhigen Rastplatz, was jedoch wieder einmal nicht so leicht war. Es war, als gäbe es eine internationale Verschwörung, die dafür sorgte, dass neben jedem schönen, schattigen Plätzchen irgendjemand stehen musste, der mit einem Freischneider seinen Vorgarten malträtierte. Wir hatten uns ja schon oft gefragt ob es nicht viel einfacher und effizienter wäre, wenn die Menschen wieder die guten, alten Sensen verwenden würden. Hier hatten wir nun zum ersten Mal den Direktvergleich, denn in dieser Region benutzen wirklich noch viele Menschen eine Sense. Zunächst sahen wir eine ältere Frau und dann einen Mann mittleren Alters, die beide nicht wirklich geübt im Sensen waren. Doch trotz ihres etwas unbeholfenen Umgangs mit der Sense waren sie noch immer genauso schnell wie die Elektrosensenbenutzer. Schließlich sahen wir dann einen alten Mann, der den Umgang mit der Sense noch richtig gelernt hatte. Er schnitt das Gras so locker, schnell und sauber, dass es richtig Spaß machte, ihm dabei zuzuschauen. Selbst wenn man einen Turboantrieb in seinen Motorschneider bauen würde, hatte man gegen diesen Mann mit seiner Handsense keine Chance. Wir hatten also Recht mit der Annahme, dass diese Erfindung keinen wirklichen Nutzen gebracht hatte. Doch eigentlich wollte ich ja auf unsere Pause hinaus.

Schließlich fanden wir einen Platz auf einer Wiese unter einem Baum, der genau so gelegen war, dass er sich in einem Dreieck zwischen der Schnellstraße, einer Kettensäge und einem Freischneider befand. Jede dieser Lärmquellen war nun also etwa gleich weit weg und damit dürfte dieser Platz der ruhigstmögliche gewesen sein.

Wir legten uns auf die Wiese und machten eine Meditation, bei der es darum ging, alles an Empfindungen, Gefühlen und Gedanken in einem anzunehmen, das gerade da war. Oft schon hatte bei solchen Meditationen die Natur mitgemacht und auf unsere Prozesse reagiert, doch dieses Mal war es besonders intensiv. Ein Teil der Übung drehte sich um innere Unruhe und genau in diesem Moment begannen alle möglichen Insekten und Kleintiere auf uns herumzukrabbeln. Als es darum ging, sich von einem silbernen Energiefluss reinigen zu lassen, kam plötzlich ein starker Wind auf, der uns kräftig durchpustete.

Das Kurioseste war jedoch das, was sich unter mir abspielte. Während ich so da lag und mich nicht bewegte, spürte ich plötzlich einen leichten Druck im Rücken. So als würde mich etwas anstupsen. Dann verschwand es für eine Weile und kurz darauf tauchte es unter meinem linken Schulterblatt erneut auf. Ein bisschen so, als würde mir jemand auf die Schulter tippen. Ich fühlte genauer hin und merkte, dass ich mir das nicht nur einbildete. Irgend ein kleines Tier hatte sich von unten durch die Erde gebuddelt und wollte nun an die Oberfläche. Doch weil ich dort lag, kam er nicht durch. Ich weiß nicht genau was es war, aber meine Intuition sagte mir, dass es sich dabei um einen Maulwurf handelte. Er stupste mich die ganze Meditation über immer mal wieder irgendwo an meinem oberen Rücken an. Als ich mich später aufsetzte und die Wiese unter mir betrachtete, konnte ich jedoch leider niemanden finden. Er musste meine Bewegung gespürt haben und hatte Reißaus genommen.

Nach einigen weiteren Kilometern erreichten wir Kriz, eine Kleinstadt, die der letzte bewohnte Ort für die nächsten 24km war. Zumindest in unsere Richtung. Es blieb also nur die Möglichkeit, entweder hier eine Übernachtungsgelegenheit zu finden oder uns später im Wald einen Zeltplatz zu suchen. Der Pfarrer hielt gerade sein Mittagsschläfchen und auch im Rathaus wollte man uns nichts zur Verfügung stellen. Dafür empfahl man mir dort das Hotel Villa Noa, das am Rande des Stadtparks lag. Es wurde von einem älteren Pärchen geleitet und war ein wirklich schönes und geschmackvolles Hotel. Im Speisesaal war passend zum Namen des Hotels die Geschichte der Arche Noah in einem Wandgemälde abgebildet worden. Direkt neben Adam und Eva, die sich gerade die Paradiesäpfel schmecken ließen.

Als ich das Hotel betrat wurde ich zunächst vom Inhaber in die obere Etage geführt. Ich brauchte eine Weile bis ich zuordnen konnte, woher die Stimme seiner Frau kam, sie mit mir sprach. Sie stand oben über dem Treppenaufgang auf einer Leiter, die zwischen zwei Blumenbeete gelegt worden war und hängte die neuen Gardinen auf. Keiner der beiden sprach genug Deutsch oder Englisch um zu verstehen, was ich von ihnen wollte. Daher riefen sie ihre Tochter an, der ich am Telefon alles erklären konnte. Es entstand ein recht komplexes und verwirrendes Kommunikationsspiel, bei dem das Telefon wie eine Friedenspfeife immer im Kreis herumgereicht wurde. Ich erklärte etwas auf Englisch, dann gab ich den Hörer der Mutter, die sich die Übersetzung anhörte und dann Fragen zurückstellte, die wiederum für mich übersetzt wurden. Am Ende waren alle Einverstanden und wir durften unser Zimmer beziehen.

Zuvor jedoch wollte mir der Hotelbesitzer noch von seinem eigenen Projekt erzählen, das er gerade aufbaute. Dafür stand uns leider keine Dolmetscherin mehr zur Verfügung, so dass ich nicht das geringste von dem Verstehen konnte, was er mir da sagte. Ich weiß, dass es um ein Benefiz-Projekt geht und dass es irgendwie mit der Vermehrung von Kapital zu einem guten Zweck zu tun hat, doch dann stieg ich vollkommen aus. Der Mann war jedoch so begeistert und es schien so spannend zu sein, dass ich es nicht schaffte, ihm klar zu machen, dass ich ihn nicht verstand. Mit Händen und Füßen und mit der Hilfe von Grafiken auf dem Computer erklärte er mir haargenau was es hier zu wissen gab. Ich stand neben ihm und nickte. Irgendwie schaffte ich es dabei genau mit den richtigen Gesten, Mimiken und Zustimmungslauten zu reagieren, die das Gespräch erforderte, auch wenn ich den Inhalt nicht verstand.

Als ich anschließend in den Park zurückkam, um Heiko die frohe Kunde zu überbringen, fand ich ihn inmitten einer Fangemeinschaft aus Jugendlichen vor. Sie hatten gerade Schulschluss und fragten ihn nach allen möglichen Details unserer Reise und unseres Lebens. Zwei Wochen mussten sie noch zur Schule gehen, dann hatten sie diese Phase ihres Lebens hinter sich und eine neue begann. Wie diese aussehen würde wussten sie noch nicht. Erst einmal musste natürlich gefeiert werden. Doch ein Berufsleben konnten sich die meisten nicht wirklich vorstellen, vor allem nicht bei der aktuellen Wirtschaftslage. Die Idee einfach so ohne Geld durch die Welt zu reisen, schien daher ganz verlockend und sie wollten unbedingt so viel wie möglich darüber wissen. Selbst, wenn es wahrscheinlich nicht mehr als eine Idee bleiben würde.

Spruch des Tages: Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist. (Jean Paul)

Höhenmeter: 30

Tagesetappe: 9 km

Gesamtstrecke: 8897,77 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Villa Noa, Trg Svetog Križa 8, 10314 Križ, Kroatien

Ortlieb sind einfach die besten! Gestern noch wirkte das Problem mit dem kaputten Reißverschluss so unsagbar groß und nun nach einem einzigen Telefonat ist es fast wie weggeblasen. Auf sämtliches Packsäcken ist eine dreijährige Garantie, selbst dann, wenn man sie im Rahmen eines Sponsorings bekommen hat. Daher bekommen wir nun einfach einen neuen und können den alten ersetzen. Die einzige Herausforderung, die also noch bleibt, ist das gute alte Spiel mit der Post in einem fremden Land. Doch auch dieses sollte ja lösbar sein.

Nachdem sich gestern Abend ein dickes Unwetter aufgebraut hatte, dass in der Nacht ohne großen Knall einfach wieder verschwand, erwartete uns heute ein neuer, sonniger und heißer Tag. Wir wanderten meist im zwischen großen Feldern hindurch und Schattenspender gab es nur wenige. Ein bisschen fühlten wir uns wieder in die Extremadura zurückversetzt, wenngleich die Hitze noch nicht ganz so stark war und das Land hier nicht so diesen Wüstentouch hatte, wie das Zentrum Spaniens. Wir fragten uns jedoch, wie wir es im letzten Jahr geschafft hatten, mit der Hitze umzugehen, wenn uns nun diese Temperaturen schon zu schaffen machten. Wahrscheinlich eine Frage der Gewöhnung. Braun wurden wir jedenfalls schon wieder. Sogar ordentlich. Heiko ist zumindest im Gesicht brauner als je zuvor in seinem Leben. Vor einem Jahr hätten wir nicht für Möglich gehalten, dass er diesen Farbton überhaupt annehmen könnte, da er eigentlich nicht seinem „Hauttyp“ entspricht. Aber wie es aussieht hatten unsere Quellen zum Thema Sonnencreme und Hautbräunung Recht. Der Hauttyp ist ein Mythos. Es geht nicht darum, welche Haarfarbe und Hautkonstitution man hat, wenngleich dies natürlich schon einen gewissen Einfluss hat. Aber worauf es in erster Linie ankommt sind die Gewöhnung der Haut an die Sonne, die richtige Ernährung und damit die Versorgung des Körpers mit ausreichend Mineralien und Nährstoffen, sowie der Verzicht auf schädliche Sonnencremes, die unsere Haut schwächen. Klar haben wir auch jetzt noch immer wieder einen leichten Sonnenbrand, aber es ist deutlich weniger geworden und das obwohl wir uns nun ausschließlich mit natürlichem Sonnenöl schützen.

Auf unserem Weg durch die kleinen Dörfer sahen wir immer wieder Bauern auf ihren Traktoren, die ihre Frauen hinter sich im Führerhaus spazieren fuhren. Bei uns sieht man solche Pärchenausflüge nur selten, weshalb sie auf ihre eigensinnige Art sofort einen Hauch von Romantik hatten. Es wirkte ein bisschen, als wäre das ganze Land live bei Bauer sucht Frau und jeder Bauer wollte seiner Herzensdame zeigen, was er für ein schweres Gerät vorweisen kann. Später stellten wir allerdings fest, dass der wahre Grund für diese Rundfahrten nicht ganz so romantisch war. Die Pflüge der kleinen Privattraktoren waren fast immer zu leicht um die Erde auf den Feldern wirklich aufwühlen zu können. Daher mussten sich die Frauen hinten auf den Pflug stellen um ihn zusätzlich zu beschweren. Die meisten von ihnen waren für diese Aufgabe figurtechnisch hervorragend geeignet, doch besonders schmeichelhaft schien es nicht, dass ihre Männer ausgerechnet diese Eigenschaft in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten.

Am Nachmittag gelangten wir nach Ivanic Grad, unsere erste größere Stadt in Kroatien. Leider stellte sich heraus das größer in Bezug auf die Schlafplatzsuche auch in diesem Land nicht unbedingt besser war. Es gab zwar einen Pfarrer und zwei Hotels doch keiner der jeweils Verantwortlichen ließ sich antreffen. Schließlich versuchte ich mein Glück in einer Touristeninformation. Die Dame hinter dem Schreibtisch sprach zwar nur wenig Englisch, versuchte aber dennoch, mit so gut wie möglich weiterzuhelfen. Sie verhielt sich vollkommen anders, als die meisten Touristen-Informanten die wir zuvor angetroffen hatten. Nachdem sie verstanden hatte, worum es ging, schnappte sie den Telefonhörer und wollte unser Projekt bei den jeweiligen Hotels vorstellen. Gerade in der letzten Sekunde konnte ich sie noch von ihrem Enthusiasmus bremsen und ihr mitteilen, dass ich das bereits selbst erfolglos getan hatte. Doch das war kein Drama, denn es gab noch eine weitere Pension, die ich zuvor nicht gekannt hatte. Es handelte sich um einen Ferienhof, der etwa 10km außerhalb der Stadt lag und einem ehemaligen Schüler der Dame gehörte. Wie sich später herausstellte, hatte sie nicht immer im Touristenbüro gearbeitet. Als junge Frau war sie Grundschullehrerin und dazu eine berühmte Sportlerin gewesen. Sie hatte den Titel der Landesmeisterin in Karate und ihr ehemaliger Schüler erinnerte sich noch immer an die eiserne Hand, mit der sie ihre Klassen unterrichtet hatte. Heute wirkte sie jedoch ganz lieb und machte den Anschein, als könne sie keiner Fliege etwas zu leide tun. Sie reichte mir den Hörer und bat mich, persönlich mit Janko, dem Verantwortlichen für den Ferienhof zu sprechen. Er sagte zu und wir verabredeten uns, dass wir in etwa zwei Stunden auf seinem Hof erscheinen würden.

Doch die ehemalige Karatemeisterin wollte uns unter keinen Umständen die weite Strecke wandern lassen. Wir könnten unsere Wagen doch in ihr Auto stellen und sie würde uns fahren. Da ich es nicht schaffte, ihr diese Idee auszureden, begleitete sie mich zu den Wagen, um sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Erst nach einer guten Viertelstunde in der sie versuchte mit allen Mitteln einen Weg zu finden, um uns das Wandern zu ersparen, ließ sie locker und gestattete uns zu gehen.

Der Weg zum Ferienhof Kezele war nicht der schönste, den wir je gegangen waren, denn er führte fast komplett an einer großen Hauptstraße entlang. Umso schöner wirkte dann der Hof selbst. Er war wie eine Oase auf einem kleinen Hügel gelegen, von dem Man einen wunderschönen Ausblick über das ganze Tal hatte. Die Frau hatte also nicht übertrieben als sie mir versicherte, dass dies der schönste Ferienhof in ganz Kroatien sei. Janko bat uns als aller erstes auf der Außenterrasse des Restaurants Platz zu nehmen und versorgte uns mit eisgekühltem Wasser und frischgepresstem Apfelsaft. Dann bekamen wir eine Spezialität des Hauses serviert. Es war eine große Pfanne mit Kartoffeln, Pilzen, Bohnen und den unterschiedlichsten Fleischsorten. Janko erzählte uns, dass schon seine Großeltern mit diesem Gericht von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen waren. Später wurde das Geschäft dann von seinen Eltern übernommen und auch er selbst hatte es als Kind noch kennengelernt. Vor 15 Jahren hatten sie dann den Hof und das Restaurant eröffnet. Nun brachten sie ihre Spezialität nicht mehr zu den Menschen, sondern die Menschen kamen hier her. Das machte einiges einfacher, brachte aber natürlich auch neue Herausforderungen mit sich. Aus dem Familienunternehmen ist so inzwischen ein Stattlicher Pensions- und Restaurantbetrieb geworden, der mit gutem Recht floriert. Es war ein Ort, an dem man einfach gerne ankam und sich sofort zuhause fühlte. Neben dem leckeren Essen aus eigener Landwirtschaft gab es auch eigenen Wein und viele verschiedene Tiere. Alles hatte seinen eigenen, ursprünglichen und rustikalen Charme und lud direkt zu einer längeren Pause ein. Gleichzeitig lockt uns jedoch die Umgebung wieder hinaus in die Natur auf einen kleinen Waldspaziergang.

Spruch des Tages: Wie es Leute gibt, die Bücher wirklich studieren und andere, die sie nur durchblättern, gibt es Reisende, die es mit den Ländern ebenso machen: sie studieren sie nicht, sie blättern sie nur durch. (Fernandino Galiani)

Höhenmeter: 40

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 8888,77 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel:

Seoski turizam Kezele,

Vinogradska 6, Šumećani,

10313 Graberje Ivanićko,

Kroatien

Nachdem wir uns von der Feuerwehrgemeinde verabschiedet hatten, wandten wir uns noch für eine Weile unseren Studien und Berichten zu. Plötzlich sagte Heiko in die Stille hinein: „Tobi, klatsch mal in die Hände!“

Etwas verwirrt über diese unerwartete Aufforderung unterbrach ich meinen Text und klatschte zwei Mal.

„Welche Hand lag dabei oben?“ fragte Heiko.

„Die rechte“, antwortete ich und hatte noch immer keine Idee, worum es eigentlich ging.

„Das ist sonderbar!“ meinte Heiko, „hast du nicht gesagt, du bist Linkshänder?“

„Doch, das bin ich ja auch!“ antwortete ich.

„Das denkst du, aber dein Körper sagt etwas anderes. Ich habe gerade gelesen, dass man beim Klatschen automatisch immer die Hand oben hat, die die bevorzugte Hand ist. In deinem Fall wäre es also die rechte. Kann es sein, dass du zum Linkshänder umerzogen wurdest?“

„Nein!“ sagte ich, „nicht, dass ich wüsste. Ich weiß aus Erzählungen, dass ich sogar als Kleinkind schon den Spielzeughammer immer mit der linken Hand gehalten habe. Und sobald ich Malen und Schreiben konnte habe ich es auch immer mit links gemacht. Nur wenn ich mit einer Schere schneide, mache ich es mit Rechts, denn das ist mit einer normalen Schere mit der linken Hand unmöglich.“

„Ist es das?“ fragte Heiko.

Ich war zu 100% davon überzeugt, dass man entweder gar nicht oder zumindest nicht genau schneiden konnte. Doch da Heiko noch immer skeptisch war probierten wir es aus. Zu meinem großen Erstaunen funktionierte es einwandfrei.

„Das kann doch nicht sein!“ rief ich entsetzt, „ich weiß dass es früher unmöglich war.“

Mir fiel ein, dass ich früher nicht nur mit der linken Hand geschrieben hatte, sondern dazu auch noch spiegelverkehrt. Ich machte also exakt das, was ein Rechtshänder tat nur eben umgekehrt. Jetzt wo ich schreibe fallen mir noch weitere Ungereimtheiten ein. So konnte ich beispielsweise immer leichter einhändig Fahrrad fahren, wenn ich die rechte Hand am Lenker hatte, als wenn ich es mit der linken versuchte. Wenn ich auf den Wildniskursen Beeren oder Kräuter sammelte, dann machte ich es ebenfalls mit rechts, während die linke Hand die ehrenvolle Aufgabe hatte, den Sammelbeutel zu halten. War ich am Ende also vielleicht wirklich gar kein richtiger Linkshänder?

„Gehen wir einmal davon aus, dass du intuitiv eigentlich ein Rechtshänder wärst. Dann musst du dich irgendwann einmal dazu entschieden haben, die Hände zu wechseln. Wenn dich niemand bewusst zum Linkshänder erzogen hat, dann muss es dafür einen anderen Auslöser gegeben haben. Wahrscheinlich schon sehr bald nach deiner Geburt.“ Wir überlegten noch eine weile hin und her, wobei ich zugeben muss, dass sich in mir zunächst alles dagegen sträubte, den Gedanken zuzulassen, dass ich vielleicht kein Linkshänder war. Die Theorie zur Ursache und vor allem zu den Folgen, fühlte sich jedoch gleich noch unwohler an. So wie es bei den Muskeltests herauskam, hatte irgendein Ereignis in meiner frühsten Kindheit dazu geführt, dass ich mich dagegen entschieden hatte, auf herkömmliche Art und Weise zu lernen. Normalerweise lernen wir in erster Linie durch Beobachten und Nachahmen. Irgendetwas musste ich jedoch gefühlt, gewusst oder beobachtet haben, dass mich dazu veranlasste, dies nicht mehr zu tun. Ich wollte die Dinge nicht so machen, wie es die anderen um mich herum taten. Ich vertraute ihnen nicht mehr und machte deshalb alles irgendwie entgegengesetzt. Ich weiß von meinen Unterrichtsstunden in der Tanzschule, dass ich intuitiv alle Schritte und Bewegungen andersherum machte, als sie mir vorgeführt wurden. Weitere Überlegungen führten uns dahin, dass es sogar nicht unwahrscheinlich war, dass auch meine Kurzsichtigkeit in einem direkten Zusammenhang mit dieser Lernresistenz stand. Denn durch die Unfähigkeit, Dinge zu sehen, die nicht in meiner unmittelbaren Nähe sind, verweigerte ich unbewusst die Fähigkeit, meine Außenwelt zu beobachten und so von ihr zu lernen.

„Wenn du jemanden beobachten willst, so dass du von ihm lernen kannst, dann muss er so nahe bei dir stehen, oder?“

Ich nahm die Brille ab und Heiko kam soweit auf mich zu, dass ich ihn klar und deutlich sehen konnte. Er stand nun nur noch etwa 20cm von meinem Gesicht entfernt.

„Wie fühlt sich das an?“ fragte er.

„Überhaupt nicht gut!“ antwortete ich. „Eng und beängstigend!“

„Ich denke,“ sagte er, nachdem er wieder einen Schritt zurückgetreten war. „Darin liegt auch ein Schlüssel. Aus irgendeinem Grund verweigerst du das Lernen durch Nachahmung und du willst nicht sehen, was nicht unmittelbar bei dir ist. Das ist auch das Prinzip, dass dich immer wieder in die Bredouille bringt, weil du nicht vorrausschauend Denkst. Du beachtest das, was dich im Moment betrifft, schaust aber nicht, was auf dich zukommen kann.“

Genau dieses Prinzip wurde mir heute dann noch einmal vor Augen geführt. In der Früh wollte der Reißverschluss meines großen Packsackes nicht mehr zugehen. Man konnte ihn hin und herschieben, doch die Tasche blieb offen. Erst nach einigen Versuchen gelang es uns wieder. Doch das konnte auf Dauer keine Lösung sein. Also schauten wir uns das Debakel am Nachmittag noch einmal genauer an und stellten fest, dass sich der Reißverschluss bereits so abgenutzt hatte, dass er nicht mehr richtig griff. Es bestand kein Zweifel, die Tasche musste getauscht werden. Hätte ich früher darauf geachtet und die Abnutzungsspuren gesehen, dann hätten wir uns problemlos von Heikos Eltern einen Ersatzsack mitgeben lassen können. Doch nun, da sie gerade abgereist waren bedeutete ein Tausch wieder eine menge Aufwand und zusätzliche Kosten. Es waren wieder die alten Themen: Geld, Voraussicht, Aufmerksamkeit. Fürs erste blieb uns nichts anderes übrig, als den Sack mit dem von Heikos zu tauschen und alle Dinge darin aufzubewahren, die wir nur äußerst selten brauchten. Doch es muss nun so schnell wie möglich ein neuer her. Beim Einpacken spürte ich, wie eine Wut in mir aufstieg. Ich konnte gar nicht genau sagen, warum sie da war. Ich war sauer auf mich, sauer auf den Packsack, sauer auf Heiko, weil er mich darauf hingewiesen hatte, dass es mit ein bisschen Vorausschauen möglich gewesen wäre, das Problem zu verhindern und sauer auf den Rest der Welt. Ich kann wohl ehrlich sagen, dass es mir in diesem Moment nicht besonders gut gelang, das Positive in der Situation zu sehen.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte und auch die Dinge wieder etwas distanzierte sehen konnte. Im schlimmsten Fall konnte man erst einmal alles mit einer Tüte und Panzertape regulieren. Es war also alles kein Weltuntergang. Wenn man sich hier umsah, dann stellte man fest, dass die meisten Häuser hier noch weitaus improvisierter waren. Kaputte Fenster wurden mit Klebeband und Pappkarton repariert oder einfach mit losen Ziegelsteinen zugestellt. Und die Menschen hier kamen damit auch zurecht. Solange der Wagen lief, würden also auch wir eine Lösung finden.

Kurze Zeit später war es mit dem Grübeln dann eh vorbei. Die Straße wurde zu einem Feldweg, der durch die schweren Landmaschinen vollkommen zerstört worden war. Wir kamen also in die Gelegenheit zum ersten mal die Autdoortauglichkeit unserer neuen Wagenkonstruktion zu testen. Und man muss sagen, wir waren sehr zufrieden. So viel Kontrolle hatten wir nie zuvor über unsere Pilgeranhänger gehabt.

Das Land war nun deutlich offener und flacher als zuvor und damit waren auch die Felder wieder größer geworden. Die kleinen Hausbetriebe waren hier durch große Industrieflächen abgelöst worden. Langsam schien es uns, als würde es auf unserer Welt ein Gesetz geben, das besagte, dass es auf einer flachen Ebene niemals einen Wald geben durfte. Sobald etwas flach wurde, war es eine landwirtschaftliche Fläche. Wälder gab es nur in Regionen, in denen es auch Hügel gab.

In einem kleinen Ort namens Lupoglav kamen wir an eine Kirche. Auf dem Dach des Nebengebäudes brütete gerade eine Storchenfamilie. Der Pfarrer kam genau in dem Moment nach Hause, in dem wir bei ihm vor der Tür standen. Er bot uns zunächst ein verlassenes Caritas-Haus an, das jedoch so verfallen war, dass wir Angst hatten durch den Boden zu fallen. Da es außerdem keinen Strom hatte, baten wir ihn um eine Alternative. Die fanden wir dann in Form eines Kommunions-Unterricht-Raumes. Wir waren also wieder beim alten Prinzip und irgendwie war uns das deutlich lieber, als das Geisterhaus der Caritas.

Spruch des Tages: Zum Reisen gehört Geduld, Mut, Humor und dass man sich durch kleine widrige Zufälle nicht niederschlagen lasse. (Adolph von Knigge)

Höhenmeter: 20

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 8863,77 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt und schwülwarm

Etappenziel: Pfarrhaus, 10370 Lupoglav, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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