Tag 1066: Bootsfahrt auf dem Bergsee

von Heiko Gärtner
09.12.2016 20:33 Uhr

25.11.2016

Anders hätten wir unsere Reise nicht timen dürfen, denn bereits heute hörte der warme Föhn auf und es wurde plötzlich wieder gut 10°C kälter, als es an den letzten Tagen war. Für die kommenden Tage war bereits wieder Schnee angesagt. Wären wir also nur ein paar Tage früher oder später nach Einsiedeln gekommen, wäre der Pass für uns unpassierbar gewesen.

Nun aber lag er hinter uns und wir konnten uns ganz in Ruhe aufmachen, um den Vierwaldstättersee zu überqueren. Die Fußgänger- und Radfahrerfähre sollte eigentlich sechs Franken pro Person kosten. Doch als ich mich am Kassenhäuschen auf dem Schiff in der Schlange bis ganz nach vorne gearbeitet (oder besser gewartet) hatte, sperrte der Kassenwart den Schalter einfach zu und winkte ab.

„Das passt schon so!“ meinte er mit einem Lächeln und kam dann zu uns an Deck, um sich mit uns über unsere Wagen und die Reise zu unterhalten. Er war viel zu fasziniert von diesen ungewöhnlichen Fahrgästen, als dass er ihnen auch noch Geld abverlangen wollte.

Aber nicht nur dass, er ließ uns auch gleich noch zwei Stationen weiter fahren, damit wir mit unseren Wagen nicht über den steilen Bergpass wandern mussten. So landeten wir gleich im Hafen von Beckenried, von wo aus wir relativ ebenerdig am Ufer entlangwandern konnten.

Nach der gestrigen Anstrengung war dies ein wahrer Segen. Meine Beine waren so verspannt und so voller Muskelkater, dass ich sie kaum mehr bewegen konnte. 500m Auf- und gut 1000m Abstieg gingen eben doch nicht spurlos an einem vorbei.

Auf dem Weg nach Stans, unserem Etappenziel kundschafteten wir bereits einen geeigneten Treff- und Umbauplatz aus. Denn morgen um 10:00 Uhr wollten uns Heikos Vater und Heikos Schwager Rainer besuchen. Rainer hatte die letzten Wochen damit zugebracht, ein neues Bremssystem für unsere Pilgerwagen zu konzipieren.

Nun war es fertig und einsatzbereit. Morgen war also der große Tag, an dem es eingebaut werden sollte. Wenn es so funktionierte, wie wir es uns erhofften, dann war es gerade für die Schweizer Berge ein wahrer Segen.

Spruch des Tages: Wir fahren über´n See, über´n See, wir fahren über´n See!

Höhenmeter: 190 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 19. 429,27 km Wetter: sonnig und freundlich, aber kalt Etappenziel: Pilgerzimmer der katholischen Kirchengemeinde, Thun, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

24.11.2016

Es ist nun noch genau Monat bis Weihnachten! Als mir dies heute bewusst wurde, konnte ich es kaum glauben. Seit unserem Weihnachtsfestessen in der Dachlosen Schule in Italien ist viel Zeit wahnsinnig viel passiert und doch kommt es mir noch immer so vor, als wäre es erst ein paar Tage her. Das Frühstück im Kloster Einsiedeln war noch weitaus spartanischer als das Abendessen und bestand im Grunde nur aus einem Laib Brot mit etwas Butter und einigen Portionen abgepacktem Schmelzkäse. Zumindest was dies anbelangte pflegten die Mönche hier also doch noch die Tradition des Lebens in Einfachheit.

Von Einsiedeln aus führte unser Weg zunächst an einem kleinen Bach entlang ins hintere Ende des Tals. Eigentlich hätte dieses langgezogene, schmale Tal einer der schönsten und ruhigsten Orte der Welt sein müssen. Links und rechts ragten die schroffen, schneebedeckten Felsen empor, um uns herum gab es nichts als saftig grüne Wiesen und hin und wieder kamen einige winzige Orte mit zehn bis zwanzig urigen, alten Häusern. Doch auf eine gekonnte Art und Weise schafften es die Menschen, auch dieses Tal unangenehm zu machen, in dem sie einige simple aber effektive Methoden aus dem Lehrbuch „Lebensraumzerstörung für Anfänger“ anwandten.

Schritt Nr. 1: Verteile so viel Scheiße in der Landschaft wie möglich. „Scheiße“ ist in diesem Fall übrigens wörtlich zu nehmen, denn nahezu jedes Feld und jede Wiese wurde mit Jauche überhäuft. Nach einigen Kilometern wurden wir allein durch die Beobachtung zu regelrechten Scheiße-Fachleuten und konnten bereits auf den ersten Blick erkennen, wer welche Methode anwendete. So gab es die Flüssigdungsprüher, die ihren Kuhmist mit Wasser verdünnten und ihn dann in hohen Fontainen über ihre Wiesen sprühten. Dies waren die häufigsten Vertreter ihrer Gattung. Weniger Häufig kam die Sprutz-Schiss-Methode zum Tragen, bei der man den kompletten Stallmist inklusive Stroh in eine Art Hechsler stopfte, der die übelriechende Masse in kleine mundgerechte Häppchen zerteilte und dann in einem großen Bogen in die Luft schleuderte.

Schritt Nr. 2: Erschaffe einen unangenehmen Grundton, der durch das ganze Tal hallt. Dieser Ton wurde hier mit Hilfe einer Biogasanlage erzeugt, zu der ein lautes, schrilles Motor-Pumpwerk gehörte. Schritt Nr. 3: Nutze die ganze Palette technischer Errungenschaften, um auf möglichst vielfältige Weise Lärm zu erzeugen. Dazu eignen sich vor allem Traktoren, die bei dieser Gelegenheit auch gleich noch etwas Kuhscheiße transportieren können, sowie Motorroller, Kettensägen, Laubbläser und dergleichen mehr. Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Wichtig dabei ist nur, dass man die einzelnen Lärmquellen so über das Tal verteilt, dass immer mindestens einer von ihnen in Hörweite ist, egal wo man sich befindet.

Schritt Nr. 4: Verändere die Natur so, dass auch sie zu einem Störfeld wird. Dieser Schritt ist schon eher eine Maßnahme für Fortgeschrittene, da er ein hohes Maß an logistischem Geschick, sowie einiges an Vorbereitung und Planung benötigt. Dafür ist es umso effektiver, da man am Ende ein verlässliches Störgeräusch erhält, das sogar dann noch aktiv ist, wenn keine Autos mehr fahren und alle Arbeiter bereits im Bett liegen. In diesem Fall waren die Grundvoraussetzungen für diesen Schritt bereits gegeben, denn es gab einen Bach, der mitten im Tal verlief. Dieser musste nun zunächst in seinem natürlichen Verlauf gestört werden, so dass er sich nicht mehr nach unten schlängelte, sondern gerade in einer Linie verlief, so dass das Wasser möglichst schnell wurde. Nun musste man das Wasser nur noch dadurch wieder verlangsamen, dass man künstliche Staustufen im Abstand von etwa 30 Metern einbaute. Über diese konnte der ansonsten ruhige Fluss nun hernieder rauschen, wodurch das Gefühl entstand, dass man sich permanent neben einem Wasserfall befand. Nur ohne den Wasserfall.

Wenn man all diese Schritte beachtete, konnte man es schaffen, dass man ein Gebiet voller Idylle und Schönheit so veränderte, dass es trotzdem keine Harmonie mehr gab. Eine reife Leistung, auf die man schon auf Stolz sein konnte. Dass dieses Konzept in der Schweiz blendend aufging wurde uns spätestens vier Stunden später in der Kantonshauptstadt Schwyz klar, als wir allein im Stadtkern an vier Fachgeschäften für Hörgeräte und Ohrakustik vorbeikamen. So sehr uns die Leistung in Sachen Harmonievermeidung auch beeindruckte, so sehr freuten wir uns doch, als wir das Tal schließlich verlassen konnten, um in die Berge hinaufzuwandern. Klar dauerte es keine drei Minuten, bis wir uns das flache Land zurücksehnten, denn nun ging es knapp 500 Höhenmeter in steilen Serpentinen hinauf. Vor uns lag der höchste Pass, den wir auf dem Schweizer Jakobsweg überwinden mussten. Er hatte eine Höhe von gut 1400 Metern über dem Meeresspiegel.

Bereits auf der Hälfte der Strecke tauchten die ersten kleinen Schneefelder auf und schon Bald war die Landschaft um uns herum mehr weiß als grün. Wir hatten nur Glück, dass in den letzten Tagen fast permanent der warme Föhnwind geblasen hatte, denn ohne ihn wäre der Schnee noch immer mehrere Meter hoch gewesen. So aber war er bis auf wenige Zentimeter zusammengeschmolzen und der Weg selbst war größtenteils vollkommen frei. Wenn uns vor drei Jahren jemand gesagt hätte, dass wir einmal mit unseren Pilgerwagen mitten im Winter eine Alpenüberquerung machen, dann hätten wir ihn für verrückt erklärt. Jetzt aber taten wir genau dies und waren uns nicht ganz sicher, ob wir uns deswegen nun nicht selbst für verrückt erklären sollten. Aber wie so oft war uns der Wettergott bislang hold gesonnen und wir vertrauten darauf, dass dies auch so blieb.

Oben auf der Alm war es dann wirklich so schön und idyllisch, wie man es von der Schweiz erwartete. Vollkommen verschwitzt aber glücklich erreichten wir den Pass und mit einem Mal wurde der Blick auf die andere Seite des Tals frei. Zunächst sah man nur das Kreuz einer kleinen Bergkapelle und als Heiko dies erblickte konnte er kaum mehr an sich halten. „Das gibt’s ja nicht!“ rief er, „Hier sind wir also! Jetzt musst du aufpassen, der Ausblick, der gleich kommt wird dich umhauen!“

Als Heiko das letzte Mal über diesen Pass gewandert war, war er als Steinzeitpilger und in Begleitung seiner damaligen Freundin unterwegs gewesen. Schon tagelang hatte es ununterbrochen wie aus Eimern geregnet und die Stimmung unter den beiden war bereits auf dem Siedepunkt. Der Umstand, dass sie an einem einzigen Tag vom Zürichsee, also etwa von Lachen aus hier her gewandert waren und erst Stunden später unten im Tal einen Platz zum Zelten fanden, machte es natürlich auch nicht unbedingt besser. Doch für diesen einen Moment waren die Sorgen, Probleme und Spannungen wie weggeblasen. Und Heiko hatte mit seinem Ausruf nicht übertrieben. Vor uns lag nun ein Bergpanorama wie man es nur an wenigen Orten auf dieser Welt zu sehen bekommt. Die Berge waren noch immer verschneit und ergaben gemeinsam ein epochales Gesamtbild. In der Mitte davon und gute 1000 Meter unter uns lag der Vierwaldstädtersee mit den Städten Brunnen und Schwyz an seinem Ufer. Am Himmel türmten sich die Wolken zu Bergen auf, die mit den Alpen durchaus mithalten konnten und an einer Stelle lugte ein klein wenig die Sonne hervor, die alles in ein mystisches Licht tauchte. Für diesen Anblick hatte sich der Aufstieg mehr als nur gelohnt.

Auch Heiko und seine Freundin hatten sechs Jahre zuvor für einige Augenblicke wie gebannt dagestanden und das atemberaubende Bergpanorama in sich aufgesogen. Dann hatte die junge Dame das Gipfelrestaurant entdeckt und ihr wurde wieder bewusst, dass sie vollkommen ausgemergelt und energielos war.

„Wir sehen uns später, Heiko!“ hatte sie nur noch gerufen und war Hals über Kopf hinunter in die Gaststube gejoggt, um sich dort einen großen, heißen Apfelstrudel mit Vanillesauce und eine Latte Macchiato zu gönnen. Heiko, dessen Mission es zu diesem Zeitpunkt war, sich rein von der Natur zu ernähren, hatte solange oben an einem Aussichtspunkt gewartet. Heute jedoch waren wir mit einer anderen Mission hier und somit sprach nichts dagegen, in besagter Wirtschaft nach einem Gipfelschmaus zu fragen. Doch das Glück war uns nicht hold und so mussten wir am Ende doch auf unser mitgebrachtes Wurstbrötchen zurückgreifen.

Der Abstieg ins Tal hinunter dauerte noch einmal gute zwei Stunden. Die Zeit, bis die Störfaktoren, die die Almidylle wieder zerstörten, zu uns zurückkehrten, war hingegen wesentlich kürzer. Bereits wenige Meter unterhalb des Passes stand schon wieder der nächste Jauchetransporter bereit und fast den kompletten Abstieg über liefen wir mit einer Hand an der Bremse und mit der anderen an der Nase. Der Gestank wäre sonst nicht zu ertragen gewesen. Teilweise war die Straße sogar so arg zugeschissen, dass wir aufpassen mussten, nicht auf der Dungschicht auszurutschen. Zum Glück hatte der Bauer, der für die Sauerei verantwortlich war eine Frau, die für ihn die Drecksarbeit erledigte. Mit einem großen und inzwischen dunkelbraunen Reisichbesen fegte sie den Mist nicht nur von der Straße, sondern auch von den zwei Meter hohen Pfählen, die man links und rechts davon als Schneemarkierungen aufgestellt hatte. Ihre ursprüngliche Farbe war ein leuchtendes Signal-Orange gewesen, nun aber waren sie bis zur Spitze mit einer dunklen, übelriechenden Schleimschicht bedeckt. Dass die Frau bei dieser Arbeit ebenfalls irgendwie scheiße drauf war, konnte man ihr eher nicht übel nehmen.

Unten im Tal kamen wir relativ unvermittelt in die Innenstadt von Schwyz. Die Stadt war an und für sich nicht groß und hatte von oben sogar recht einladend ausgesehen. Aus der Nähe betrachtet war sie jedoch das reinste Stressloch, in dem es keinen einzigen Platz zu geben schien, an dem man nicht ununterbrochen dem lauten Verkehr ausgesetzt war. Vielleicht war dies wirklich die lauteste und unruhigste Stadt, die wir je bereist haben. Vielleicht kam es uns auch nur so vor, weil wir gerade aus den Bergen kamen und nicht glauben konnten, dass beides so dicht beieinander lag. Gleich beim betreten der Stadt, hatten wir das dumpfe Gefühl, dass wir hier wohl eher keinen Schlafplatz auftreiben würden. Ein Gefühl, dass sich schon recht bald bestätigte.

Wie fast immer in solchen Hauptstädten, gab es auch hier leider keinerlei Infrastruktur, weder von Seiten der Kirche, noch von Seiten der Stadt. Arme kleine Hauptstadt! Wäre es hier nicht so unaushaltbar gewesen, hätten wir fast zu einer Spendenaktion aufgerufen, um für den Bau eines anständigen Gemeindehauses zu sammeln. Es ist ja schließlich kein Zustand, dass jedes kleine Dorf einen Platz für Reisende hat, eine so große Stadt aber nicht. Ich weiß nicht warum, aber die Pfarrsekretärin fand die Kommentare in dieser Richtung gar nicht so lustig, wie ich es erwartet hätte.

Eine knappe Stunde nach verlassen der Stadt erreichten wir das Kloster Ingenbohl, ein Frauenkloster das den Franziskanern zugehörig ist. Laut Aussage eines Kapuzinerbruders, den wir in Schwyz getroffen hatten, sollte es hier einen Platz für uns geben. Tatsächlich trafen wir gleich am Eingang auf eine kleine, fröhliche und sehr sympathische Nonne, die sich unser Anliegen in Ruhe anhörte.

„Ich denke, dass wir euch hier schon weiterhelfen können!“ meinte sie lächelnd, „aber ihr seit hier in der Schule gelandet!“ Sie schnappte sich zwei ihrer Schülerinnen und beauftragte sie damit, uns ins Pilgerhaus zu führen. Wenig später trafen wir hier auf zwei weitere Schwestern, die uns sehr freundlich aufnahmen. Nach einer wohltuenden und sehr nötigen Dusche trafen wir uns zu einem gemeinsamen Abendessen. Dabei erfuhren wir, dass der Orden ein weltumspannendes System war, das aber wie fast alle großen Orden der Heutigen Zeit ein echtes Problem mit dem Nachwuchs hatte. Es gab nur noch wenige Schwestern, die unter 60 waren und wo noch vor einigen Jahren der gesamte Schulunterricht von Nonnen geleitet wurde, gab es heute hier im Kloster keine einzige unterrichtende Schwester mehr.

Spruch des Tages: Eins steht fest, eine Alpenüberquerung machen wir auf diese Weise nicht!

Höhenmeter: 160 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 19. 421,27 km Wetter: vormittags eisiger Wind und -7°C, ab mittags sonnig Etappenziel: Besprechungsraum der Kirche, Interlaken, Schweiz

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23.11.2016

Uns war ja klar, dass wir nicht durch die Alpen wandern konnten, ohne dabei einen einzigen Berg hinaufzusteigen. Heute war der Tag X nun gekommen. Lachen war das letzte Dorf in der Flachebene und von hier aus mussten wir einen Pass auf knapp 1000hm überqueren um nach Einsiedeln zu kommen. Nicht gerade ein sanfte Einstieg, denn es bedeutete, dass wir an diesem Tag gute 600 Höhenmeter machen mussten. Dabei hatten wir an den letzten Tagen bereits die Autobahnunterführungen als anstrengend empfunden. Kaum hatten wir den Ort verlassen kamen wir auch schon ins Schwitzen und für die nächsten acht Kilometer sollte sich dies auch nicht mehr ändern. Zunächst führte uns eine kleine Straße den Berg hinauf und so sehr wir auch vor uns hin keuchten, so sehr freuten wir uns doch darüber, endlich von den Autobahnen und Hauptstraßen wegzukommen. Wenn wir jedoch geglaubt hatten, dass es weiter oben in den Bergen ruhiger war, dann hatten wir uns geschnitten. Bis wenige Meter vor dem Pass war das Rauchen der im Tal vorbeifahrenden LKWs noch immer deutlich zu hören. Dennoch war der Blick von hier oben atemberaubend. Unter uns lag nun der Zürichsee mit all den kleinen und großen Ortschaften an seinem Ufer. Es war fast ein wenig erschreckend zu sehen, wie vollbesiedelt auch die Schweiz war, die wir immer für ein idyllisches Bergland gehalten hatten.

Etwa auf halber Strecke bis zum Pass stießen wir wieder auf den Jakobsweg. Es dauerte keine Hundert Meter und er führte uns von dem kleinen asphaltierten Sträßchen (oder wie es hier heißt: „Sträßli“) mitten ins nichts auf eine Wiese. Wir hätten es uns auch denken können: Wenn der Jakobsweg die Möglichkeit hatte, einen irgendwo durch die Walachei zu führen, so dass alles gleich zehnmal so anstrengend wurde, wie es eigentlich sein müsste, dann nutze er sie auch. Man musste jedoch zugeben, dass der Weg ohne jede Frage wunderschön war und für einen Moment herrschte hier sogar einmal eine harmonische Stille. Dann kamen allerdings schon wieder die Düsenjets des Militärs, die über unsere Köpfe hinweg kreisten. Eine leise Stimme hallte in unseren Köpfen wieder: „Nein! So etwas konnte es nur in Italien geben! Deutsche, Österreicher und Schweizer würden es nicht so einfach hinnehmen, wenn man ihren Lebensraum zerstörte, nur weil der Staat einen Schwanzvergleich in Form einer Präsentation seines Waffenarsenals abhalten musste!“ Es war die Überzeugung, die wir vor knapp einem Jahr in Italien vertreten hatten. So sehr konnte man sich irren.

Kurz bevor wir den Pass erreichten, steckten wir plötzlich in einer Sackgasse fest. „Verdammt!“ rief Heiko, „Ich weiß wieder, was mich damals an der Schweiz immer so aufgeregt hat!“ Bereits bei der Steinzeitpilgertour war Heiko an den vielen Zäunen, die dieses Land in kleine mundgerechte Happen zerteilten, schier verzweifelt. Überall wo man hinkam stand einem ein Stacheldrahtzaun im Weg und die Durchgänge, die man für Wanderer gelassen hatte, waren meist so klein und verwinkelt, dass man sie kaum mit einem Wanderrucksack passieren konnte. Mit einem Pilgerwagen hingegen war es vollkommen unmöglich. Ungünstigerweise waren gleich mehrere Richtungen versperrt. Der Jakobsweg führte steil weiter den Hang hinauf, doch genau wie die kleine Autostraße rechts von uns lag er hinter einem Zaun. Die offenen Wege führten zurück ins Tal oder nach links in eine Richtung, in die wir nicht wollten. Mussten wir nun wirklich die Wagen über den Zaun heben?

Nein, zum Glück nicht! Das hätte uns an dieser Stelle auch sicher den Rest gegeben. Stattdessen entdeckten wir eine Stelle im Zaun, an der man den Stacheldraht aushaken konnte, so dass sich eine Lücke ergab. Durch diese kamen wir seitlich auf die Teerstraße, die ohnehin der angenehmere Weg von beiden war. Es folgten noch zwei Serpentinen, die uns fast zum Weinen brachten, dann waren wir oben. Schon von weitem strahlte uns ein großes Gebäude mit der Aufschrift „Speiselokal“ entgegen. Nach dem Anstieg war eine kleine Stärkung genau das Richtige. Als wir den Pass jedoch erreicht hatten, wurde deutlich, dass auf dem großen, hölzernen Herzen an der Tür nicht „Willkommen!“ sondern „Mittwochs und Donnerstags Ruhetag“ stand. Soviel also zu unserem Gipfelpicknick. Naja, wir hatten ja immerhin noch ein halbes Gnietschbrötchen vom Vortag.

Vom Pass aus ging es tief in ein Tal hinunter, in dem sich ein Fluss mit einer kleinen Brücke darüber befand. Dann ging es gleich noch einmal weitere hundert Höhenmeter wieder hinauf auf einen zweiten Pass. „Langsam erinnere ich mich wieder daran, warum ich die Schweiz als so anspruchsvoll empfunden habe!“ schnaufte Heiko. „Ich glaube, der Weg nach Einsiedeln war einer der zwanzig härtesten Tage, die ich hier erlebt habe!“ „Oha!“ antworte ich mit gemäßigter Begeisterung, „Und wie viele Tage hast du insgesamt in der Schweiz verbracht?“ „So rund 21!“ meinte er trocken. Hier, mitten auf der Alm, abgeschnitten von den Tälern war es jedoch das erste Mal richtig schön. Hier konnte man sich ein Leben vorstellen und es war, als wäre man plötzlich in einer vollkommen anderen Welt.

Als wir den ersten Blick auf Einsiedeln werfen konnten war uns sofort klar, dass wir auch diesen Ort vollkommen anders eingeschätzt hatten. Unter „Einsiedeln“ hatten wir uns ein kleines, verlassenes Bergdorf vorgestellt und nicht gerade eine Stadt mit zwei Schnellstraßen und mehreren Hochhäusern. Als die ersten Benediktinermönche vor vielen hundert Jahren das Kloster hier gründeten, hätten sie sich sicher auch nicht träumen lassen, dass man einmal eine Bundesstraße vor ihre Haustüre bauen würde, damit sie leichter erreichbar waren. Man hatte hier sogar eine Straße mitten über einen See gebaut und noch einmal zu betonen, dass uns wirklich gar nichts heilig ist. Wir mögen einfach keine Natur und wir mögen auch keine Menschen. Beides stört ja auch eigentlich immer nur bei dem Versuch, unsere Industrie noch effektiver und profitabler zu gestalten.

Wir stellten unsere Wagen vor dem Klosterportal ab und sahen uns erst einmal in Ruhe um. Ein Pfarrer führte mich zu einer Dame am Empfang, die ich wegen einer Übernachtungsmöglichkeit fragte. Nach unseren Erfahrungen in Österreich und Deutschland waren wir schon seit Tagen gespannt darauf, ob man uns hier aufnehmen würde oder nicht. Immerhin war Einsiedeln einer der berühmtesten Wallfahrtsorte Mitteleuropas. Tatsächlich war der Empfang hier bei weitem freundlicher als in allen anderen Klöstern im deutschsprachigen Raum zusammen. Und doch wurde auch hier deutlich, dass Klöster heute in erster Linie Wirtschaftsbetriebe waren. Einsiedeln hatte extra für Jakobspilger zwei Unterkunfsträume eingerichtet. Eines war ein Sechsbettzimmer, das andere ein Doppelzimmer. Da es Pilgerunterkünfte waren, waren sie natürlich deutlich günstiger als die üblichen Zimmer, die man hier mieten konnte. In diesem Fall bedeutete günstiger jedoch, dass es in der Bettenburg pro Person 35 Franken und im Doppelzimmer pro Person 45 Franken die Nacht kostete. Umgerechnet waren das knapp 40 und 50 Euro, für die man ein kurzes, knarrendes Jugendherbergsbett ohne Deckbett bekam, eine Dusche auf dem Gang, die nur teilweise heißes Wasser bot und ein Abendessen, das bei weitem nicht an das heranreichte, das wir vor zwei Tagen im Altenheim bekommen hatten. Für uns persönlich war das alles kein Problem, denn wir mussten den Preis nicht bezahlen und freuten uns über ein warmes Zimmer und ein ausführliches Abendessen. Aber wenn wir uns vorstellten, wirklich als normale Pilger unterwegs zu sein und für die Unterbringung tatsächlich zahlen zu müssen, dann fühlte sich das schon etwas hart an. Damals in Spanien hatten wir uns oft darüber aufgeregt, wie sehr die Pilger abgezockt wurden, aber nun musste man die Spanier doch wieder etwas in Schutz nehmen. Klar nutzen auch sie jede Gelegenheit um so viel Profit wie möglich aus den Pilgern zu schlagen, aber sie blieben zumindest noch irgendwo in einem Rahmen, den man als machbar erachten konnte. Wenn man hier wirklich 40€ pro Nacht nur für die Unterkunft zahlen musste, war man bei 20 Tagen Wanderung durch die Schweiz bereits bei 800€. Selbst wenn jetzt Frühstück und Abendessen immer mit dabei waren und man sich nur Mittags etwas kaufen musste kamen aber trotzdem noch einmal locker 10 bis 20 Euro hinzu. Denn allein ein gewöhnlicher Döner, der bei uns drei bis vier Euro kostet, kostet hier bereits 8 bis 12 Franken, also rund 9 bis 13 Euro. Im günstigsten Fall ist man dann also bei 1000 bis 1400€ für eine zwanzigtägige Wanderung durch die Schweiz, nach der man noch immer rund 2000km von Santiago entfernt ist. Das ist ja nahezu untragbar. Langsam wundert es nicht mehr, dass es nur so wenige Menschen gibt, die den ganzen Jakobsweg zurücklegen.

In unserem Fall erklärte mir die Dame am Empfang jedoch, dass es sich bei den Pilgerzimmerpreisen um „Richtpreise“ handele, die in besonderen Fällen durchaus auch geändert oder vollkommen gesenkt werden konnten. Eine Pilgerreise von 19.000km ohne Geld wäre als so ein Sonderfall durchaus denkbar. Sie versprach, dies mit dem zuständigen Mönch abzuklären und bat mich in einer halben Stunde wieder zu kommen. Diese Zeit nutzen wir, um uns das Kloster und die Innenstadt von Einsiedeln anzusehen. Das Kloster selbst war riesig, bestand jedoch hauptsächlich aus Bereichen, in die man nicht so ohne weiteres hinein durfte. Der linke Flügel beherbergte das Gymnasium und der hintere Bereich war den fünfzig hier ansässigen Mönchen vorbehalten. Dass diese an einem so touristischen Ort ihre Ruhe haben wollten, konnte man ihnen nicht verübeln. Der rechte Flügel beherbergte die Gästezimmer und noch etwas weiter rechts befanden sich die Stallungen, die heute von privaten und betuchten Pferdeliebhabern genutzt wurden. In der Mitte befand sich die Klosterkirche, die man in jeder Hinsicht mit dem Wort epochal beschreiben kann. Ähnlich wie in Santa Maria degli Angeli gab es auch hier in der großen Kirche noch einmal eine kleine Kapelle, in der eine schwarze Maria in vergoldeten Kleidern ausgestellt war. An jedem Eingang stand eine groß Hinweistafel, die den Besuchern klar machte, dass die Kirche ein Ort der Stille war, an dem man sich ruhig verhalten und an dem man weder fotografieren noch filmen sollte.

Die meisten Besucher nahmen das mit der Stille durchaus ernst. Ganz im Gegenteil zu den Kirchenpflegern, die gerade dabei waren, das Gotteshaus auf Vordermann zu bringen. Sie sorgten dafür, dass tatsächlich ein Kettenfahrzeug durch die heiligen Hallen rollte, das aussah wie ein Minipanzer. Mit seiner Hilfe versuchten sie in die oberen Bereiche der Kirche zu gelangen, um hier Reinigungs- und Reparaturmaßnahmen vorzunehmen. Natürlich durften die Ketten den Marmorfußboden nicht berühren, denn sonst hätte man ja gleich den nächsten Reparaturdienst gebraucht, der den Boden wieder aufpoliert. Um das zu verhindern musste der Minipanzer auf Holzbrettern fahren, die immer wieder vor ihm auf den Boden geworfen wurden. Jedes Mal gab es dabei einen lauten Knall, der durch die ganze Kirche hallte, wie ein Gewehrschuss. Einige ältere Damen versuchten dennoch vor der Maria zu beten, gaben es aber schließlich auf. Es war hoffnungslos. Selbst wenn sie es schafften, sich soweit zu konzentrieren, dass sie ihre Botschaft an Gott formulieren konnten, hätte er sie bei diesem Lärm wahrscheinlich nicht einmal hören können. Und irgendwie war es ja auch komisch, wenn man als Antwort auf ein Gebet von oben immer nur die Worte „Was?!? Kannst du bitte etwas lauter sprechen, ich hör dich so schlecht!“ erhielt.

Die Innenstadt von Einsiedeln war auch nicht gerade das, was man einen Ruhepol nennen konnte. Am Wochenende begann hier der Weihnachtsmarkt und nun war die ganze Stadt in heller Aufruhr wegen der Vorbereitungen. Überall wurden Marktstände sowie kleine und große Weihnachtsbäume aufgestellt und aus großen Lautsprechern wurden die Straßen bereits mit Weihnachtsmusik beschallt. Es war ein hektisches, wuseliges Treiben, aber es vermittelte trotzdem auch schon eine erste Weihnachtsstimmung. Vor allem am Abend, als wir noch einmal im Dunkeln durch den Ort liefen, wurde uns ganz weihnachtlich zumute. Vor der beleuchteten Fassade des Klosters stand nun ein riesiger Weihnachtsbaum, der bereits im hellem Glanz der Lichterketten erstrahlte. Auch einige der Marktstände waren schon weihnachtlich Dekoriert und gaben einen ersten Eindruck davon, wie es hier in ein paar Tagen aussehen würde.

Wieder in unserem Zimmer erfuhren wir passender Weise von Heikos Vater noch ein paar Details über das Kloster Nerenstetten, das wir vor einigen Wochen gemeinsam mit Heikos Eltern besucht hatten. Vor rund drei Jahren war dort der Abt verstorben. In seinem Nachlass hatte sein vollkommen überraschter Nachfolger zwei geheime Konten mit insgesamt 4,4 Millionen Euro gefunden, von denen niemand wusste, wo diese herkamen. Drei Jahre lang hatte es Nachforschungen darüber gegeben, um herauszufinden, ob es sich um Steuerhinterziehung, illegale Geschäfte, Geldwäsche oder etwas anderes in der Richtung handelte. Schließlich war dann auch noch ein ominöser Anwalt aus Krefeld aufgetaucht, der Anspruch auf das Geld erhob und behauptete, es gemeinsam mit dem Abt aus einem raffinierten Steuervermeidungsprogramm erwirtschaftet zu haben. Er uns der Abt kannten sich bereits aus der Schulzeit und so wie es aussah nutzten sie den Umstand, dass gemeinnützige, kirchliche Einrichtungen viele Steuervergünstigungen erhalten um sich selbst einiges auf die Seite zu schaffen. Es entstand ein Rechtsstreit zwischen dem Kloster und dem Anwalt, der sich über drei Jahre hinzog. Nun vor ein paar Tagen hatte das Stuttgarter Landesgericht beschlossen, dass die Mönche das Geld behalten dürfen.

Spruch des Tages: Mäh´n Äbte Heu? Äbte mäh´n nie Heu, Äbte beten! Oder horten Millionen

Höhenmeter: 280 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 19. 397,27 km Wetter: bewölkt, kalt und windig mit einigen Sonnenflecken Etappenziel: Veranstaltungsscheune der Kirche, Brienz, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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