Tag 974: Die slowakischen Karpaten

von Heiko Gärtner
09.09.2016 22:35 Uhr

18.08.2016

Trotz der langen Wartezeit war der Schlafplatz den wir gestern ergattern konnten, der beste, den wir hätten bekommen können. Nachdem wir ihn heute morgen verlassen hatten, bogen wir um eine Ecke und befanden uns direkt in einer großen und unglaublich schrecklichen Stadt, in der wir auf keinen Fall eine Unterkunft mehr hätten finden können. Die gesamte Umgebung schien nur von einer einzigen Fabrik zu leben. Es war ein riesiger Betrieb, dessen Ziel und Zweck wir nicht ausmachen konnten, doch soweit es sich erkennen ließ, hatte er etwas mit Erdöl und Erdgas, mit Stromgewinnung und mit der Verarbeitung von Unmengen an Holz zu tun. Bereits gestern und vorgestern waren wir immer wieder auf Infrastrukturen gestoßen, die zur Erdöl- und Erdgasverarbeitung dienten. Erst waren wir an einer Raffinerie mit elf riesigen Öllagerbecken vorbeigekommen, von denen jedes rund 800 Millionen Liter Öl umfasste. Dann kamen wir durch einen Wald, in dem überall versteckte Gasförderpumpen montiert waren. Neben einer von ihnen hatten wir dann sogar unser Zelt aufgeschlagen. Alle hatten ausgesehen, als wären sie schon längst nicht mehr in Betrieb, doch am Abend fuhr ein Jeep mit der Aufschrift "Security" an ihnen vorbei und einen knappen Kilometer weiter gab es eine Firma mit den Namen "Nafta", die noch immer vor sich hin werkelte. Auch unsere riesige Holding-Firma, die nun hier die Gegend beherrschte wirkte auf den ersten Blick als sei sie bereits im zweiten Weltkrieg geschlossen worden. Viele der Gebäude waren verfallen und baufällig und einige hatten sogar eingeschlagene Fenster. Ja es gab sogar Balkons auf denen bereits Birken wuchsen. Und doch war die Firma voll in Betrieb. Sie hatte sogar einen eigenen Busbahnhof, auf dem fast minütlich Busse ankamen und massenhaft Menschen ausspuckten, auf das Firmengelände strömten. Die Anwesenheit dieser Firma hatte dafür gesorgt, dass direkt am Fuße des Berges eine Stadt entstanden war, in der sich tausende von Menschen in ungemütlichen Betonklätzen stapelten. Hier gab es nun plötzlich auch wieder große Supermärkte wie Kaufland und Billa, die wir nun bereits seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatten. Neugierig nach dieser langen Zeit warfen wir einmal einen Blick hinein und es fühlte sich wirklich ein wenig wie zuhause an. Nur die Musik war in einer schier unerträglichen Lautstärke aufgedreht, so dass man kaum mehr sein eigenes Wort verstand. War dies in Deutschland auch schon so gewesen? Wir konnten uns nicht daran erinnern, aber so ganz ausschließen konnten wir es nun auch nicht mehr.

Das beeindruckendste an der Stadt waren jedoch wieder die Wohnblocks, die von den Sinti und Roma bewohnt wurden. Hier tummelten sich hunderte, wenn nicht tausende von Menschen in einem einzigen Wohnkomplex. Auf nur einer einzigen Etage gab es bereits zehn Menschen zwischen 3 und 90 Jahren, die am Fenster standen und hinaus starrten, als wollten sie die Luft durchlöchern. Vor einem anderen Wohnbunker stand eine Menschentraube von rund fünfzig Personen, die eine Frau umringte, die laut und verzweifelt weinte und schluchtze. Es waren Klagelaute, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie gerade einen Menschen verloren hatte, der ihr nahe stand. Direkt neben der Gruppe parkte ein Streifenwagen und zwei Polizisten waren damit beschäftigt, die Anwesenden zu befragen. Alles deutete darauf hin, dass hier vor wenigen Minuten jemand getötet wurde. Wie und warum konnten wir natürlich nicht sagen, doch wenn man bedachte, wie gedrängt die Menschen hier aufeinander lebten, dann wunderte es nicht, wenn es ab und zu einmal zu Ausschreitungen kam, die bis in den Tod führten. Eigentlich wunderte es eher, dass nicht viel mehr passierte, denn es war kaum vorstellhaft, wie man unter solchen Legebatterie-Bedingungen nicht durchdrehen konnte. Die Sintis mochten eine Art haben, die oft unangenehm und abschreckend war, doch sie waren auch gelassene und friedfertige Menschen, mit einer unglaublichen Frustrationstolleranz. Das musste man ihnen lassen.

Wir für unseren Teil waren dennoch heilfroh, als wir die Stadt hinter uns lassen konnten. Dummerweise dauerte es noch mehr als zehn Kilometer, bis der Verkehr wirklich soweit abgenommen hatte, dass wir das Wandern wieder genießen konnten. Dann machten wir eine Picknickpause am Wegesrand und testeten dabei auch mein Sanktionskonto aus. Mit allen Pannen und Macken, mit meiner Zeitverplämperei und mit der sturen undurchdachten Art, nach einem Schlafplatz zu fragen, war ich bereits bei über einer Stunde Brennesseltherapie angelangt. Diese Art der Sanktion wurde also langsam untragbar, denn ich konnte mich ja nicht den ganzen Tag in Brennesseln wälzen. Also münsten wir wir sie auf andere Sanktionen um, die schneller gingen, aber nicht weniger schmerzhaft waren. Auffällig dabei war, dass die Härte, die mein höheres Selbst für Vergehen gegen meinen Herzensweg stätig zu nahm, je mehr mit meine eigene Lebensunfähigkeit bewusst wurde. Auf der einen Seite machte mir dies eine immense Angst und hin und wieder glaubte ich nicht mehr daran, es überhaupt durchstehen zu können. Auf der anderen Seite reichte es aber noch immer nicht aus, um den Schalter in meinem Gehirn umzulegen und etwas zu verändern. Gerade befand ich mich in einem Zustand, in dem ich mich sebst beobachtete, wie ich ununterbrochen Scheiße baute, aber nichts dagegen tun konnte. Es wahrzunehmen war natürlich schon einmal besser als nichts, aber die Frage war dennoch, ob ich es irgendwann einmal auf die Reihe bekommen würde. Letztlich klappte ja fast immer alles, was ich erreichen wollte, ich machte es mir nur immer so schwer wie möglich und langsam war es schon soweit, dass ich damit ruhig einmal aufhören konnte.

Das Tal in das wir eingebogen waren enthielt drei kleinere Ortschaften. Hinter der dritten endete die Straße und von hier auf führte nur noch ein Feldweg weiter in die Berge. Wohin er führt, werden wir aber erst morgen rausfinden, denn heute bekamen wir einen Schlafplatz in der ehemaligen Schule des letzten Ortes. Der Pfarrer, der gerade eine Beerdigung betreut hatte, versorgte uns zwar mit Zwiebeln, Dosenwurst und einer Dusche, wollte uns jedoch keinen Schlafplatz anbieten, weil er sein Gästehaus als zu schmutzig, unaufgeräumt und schäbig empfand. Es war nicht, dass er uns nicht traute oder nicht helfen wollte, er schämte sich einfach so sehr für den Zustand des Gemeindehauses, dass er es niemandem zeigen wollte. Davon ließ er sich auch nicht abbringen. Stattdessen stellte er jedoch den Kontakt zur Bürgermeisterin her, die uns dann den Platz in der Schule anbot. Eine Schule übrigens, die seit Jahrzehnten geschlossen ist und seit dem nicht mehr gesäubert wurde. Egal wie dreckig das Gemeindehaus des Pfarrers auch gewesen sein mochte, schlimmer als dieses Gebäude war es sicher nicht. Doch für unsere Zwecke war es vollkommen ausreichend. Wie auch gestern Nachmittag wurden wir dabei sogar wieder mit einer ordentlichen Portion Gulasch versorgt, die vom Leichenschmaus übrig geblieben war. Wer hätte gedacht, dass wir einmal so sehr von Beerdigungen profitieren würden.

Spruch des Tages: Es gibt doch immer mehr Möglichkeiten als man denkt.

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 25 km, davon 10 innerhalb des KZs Gesamtstrecke: 17.667,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Gemeindezentrum der Saliziani, Auschwitz, Polen

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17.08.2016

Bereits am Abend hatte es immer wieder leicht zu regnen begonnen und nachdem wir uns in unser Zelt zurückgezogen hatten, fielen die Tropfen bereits verstärkt auf uns herab. Die Nacht über regnete es sich dann ein und auch als wir am Morgen aufwachten hatte sich daran noch nichts geändert. Dieses Mal tat uns das Wetter nicht einmal mehr den Gefallen einer kurzen Zusammenpack-Pause und so mussten wir alles im Regen einpacken. Erst nach einigen Kilometern wurde es dann langsam etwas trockener, doch bis dahin war unsere Regenkleidung bereits vollkommen durchnässt und das Wasser lief bereits innen an unseren Beinen herunter. Spannend war jedoch, dass der Regen nun den ganzen Staub aus der Kleidung spühlte, der sich in den letzten Monaten darin angesammelt hatte. An meinen Knien entstanden dabei sogar richtige braune Sandränder, die immer weiter nach unten wanderten und dabei immer dicker wurden. Dummerweise hörte der Regen auf, bevor sie ganz rausgespühlt wurden und so war meine Hose nun zwar faktisch etwas sauberer, sah aber praktisch deutlich schmutziger aus.

Gegen Mittag wurde es ein klein wenig wärmer und so nutzten wir das Dach einer kleinen Fußgängerbrücke in einem Park, für ein Picknick im Trockenen. Beim Schmieren und Belegen der Brote schaffte ich es wieder einmal, alles an Ungeschicklichkeiten anzuhäufen, was nur möglich war. Ich schüttelte den Senf in seiner Flasche nach vorne, vergaß aber den Deckel festzuhalten und spritze ihn so über meinen Rucksach und meine Füße. Dann warf ich aus versehen die Hülle unseres Gewürztstreuers in den Müll, legte das Brot in eine Pfütze, tropfte klebrigen Schmierkäse überall hin und so weiter und so fort. Ich kam mir vor wie Mr. Bean und wusste nicht, ob ich nun lachen oder weinen sollte, weil ich selbst nicht begreifen konnte, wie man so ein Trottel sein konnte. Heiko für seinen Teil entschied sich fürs Lachen und das kann man ihm auch nicht verübeln, denn für jeden außenstehenden war ich die reine Slapstickkommödie. Zunächst war ich schon wieder am Verzeifeln, weil ich nicht verstehen konnte, warum ich Plötzlich all diese Schusseligkeiten anstellte. Dann aber klärte mich Heiko auf, dass ich in letzter Zeit in diesen Sachen kein bisschen Schlimmer geworden war. Mir waren all diese dinge schon immer ständig passiert, auch schon als ich vor vielen Jahren das erste Mal zu Heiko kam.Ich hatte es nur geschafft, es nie richtig wahrzunehmen und deswegen hatte es mich auch nie wirklich gestört. Erst jetzt, wo ich wusste, dass jede dieser unbewussten Trotzhandlungen, mit denen ich mich selbst manipulierte, von meinem höheren Selbst sanktioniert wurden, wurde es mir richtig bewusst. Plötzlich verstand ich, warum ich immer so eine Angst davor gehabt hatte, mich selbst zu betrachten. Ich hatte stets geglaubt, dass ich schon viele meienr Schattenseiten kannte, aber es noch einmal so zu erleben, stellte alles andere in den Schatten. Als Robotter-Zombie hatte ich immer versucht, so gut wie möglich für alle anderen zu funktionieren, mir dabei aber selbst nur Verhaltensweisen antrainiert, die für mein eigenes Leben nicht im geringsten funktionierten. Sogar als ich unterm Weg kacken ging, stellte ich mich dabei so ungeschickt an, dass mein höheres Selbst entschied, dass dafür eine Sanktion nötig war. Es war nichts dramatisches, ich bin nicht in meine eigene Scheiße gefallen oder so etwas. Ich hab mich nur mit meinen Jacken und Hosen und meinem Gurt so verhaspelt, dass ich für´s an- und auskleiden doppelt so lange brauchte wie normal. Und das war eben nicht in Ordnung. Es war einfach nicht praktisch und machte mir das Leben unnötig schwer. Noch imer war ich am Kämpfen gegen mich selbst und noch immer waren all meine Handlungen von einer Rebellion gegen meine Mutter geprägt. Ich konnte und konnte einfach nicht loslassen. Und noch immer weiß ich nicht so genau warum.

Nach dem Picknick fing es wieder richtig heftig zu regnen an und erneut daurte es nur wenige Sekunden, bis wir wieder vollkommen durchnässt waren. Der Schmutz in meiner Hose blieb aber auch weiterhin. Bis zu unserem Ziel mussten wir nun einer kleineren, dann einer größeren Straße folgen. Beide kamen uns extrem laut vor, so dass es richtig in den Ohren weh tat. Entweder die Straßen sind hier noch einmal schlechter als in den letzten Regionen, oder unsere Sinne haben sich gerade wieder ein Stück weit geöffnet, so dass sie nun wieder mehr wahrnehmen. Im angenehmen, wie auch im unangenehmen Rahmen. Was unsere Schlafplatzsuche anbelangte hatten wir heute mehr Glück. Oder besser gesagt, ich stellte mich dabei nicht ganz so dämlich an. Der einzige Haken war nur, dass der Bürgermeister, der das endgültige Ja geben musste, zu Gast auf einer Beerdigung war, so dass wir erst noch eine Stunde warten sollten, bis wir unser Quartier beziehen konnten. Aus der Stunde wurden schnell zwei und so wurde auch dieser Nachmittag nicht der effektivste den wir je hatten. Dann aber bekamen wir ein Zimmer in einer Art Gästewohnung. Was es genau für eine Einrichtung war, verstanden wir nicht, aber es gab eine Küche, mehrere Badezimmr und mehrere Schlafräume mit mehreren Betten. Außer uns lebte hier noch ein kleiner dicker Mann, der immer mit seinem Schlafanzug herumlief und dabei jeden Fernseher aufdrehte, den er finden konnte. Hinschauen tat er jedoch nicht. Stattdessen las er einen Text auf seinem Computer und Telefonierte mit seinem Handy. Als ich ihn ansprechen wollte um zu fragen, ob er den Fernseher vielleicht etwas leiser drehen könnte, wies er nur knapp auf sein Telefon und meinte "Pst! Siehst du nicht, dass ich telefoniere?"

Spruch des Tages: Kann ich den gar nichts richtig machen?

Höhenmeter: 650 m Tagesetappe: 41 km Gesamtstrecke: 17.642,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Pfarrhaus, Piotrowice, Polen

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16.08.2016 Der Kaffe wirkte stärker als ich vermutet hatte. Er hatte zwar nicht dafür gesorgt, dass ich effektiver wurde, aber nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, sorgte er dafür, dass ich hellwach blieb. Ich schlummerte schon immer wieder ein, aber sobald irgendwo auch nur ein leises Geräusch auftauchte, lag ich wieder mit weit aufgerissenen Augen da. gegen halb Sechs kam der Bruder unserer Gastgeberin und klopfte an die Tür. Einen Moment lang glaubte ich, wir hätten verschlafen oder verpasst, dass mit dem Grenzübertritt auch die Uhrzeit wieder verstellt wurde. Doch der Mann war einfach ein passionierter Frühaufsteher und wollte uns einfach nur ein Frühstück mit frischer Milch und Brot vor die Tür stellen.

Gegen 8:30Uhr kam dann seine Schwester zur Verabschiedung vorbei. Sie bot uns an, noch etwas Obst und Wurst aus dem Minimarkt zu besorgen und verschwand dann für mehrere Minuten. In der Zwischenzeit warteten wir im Garten des Gemeindehauses und bekamen hier den ersten Hinweis, dass wir uns langsam der Grenze des ungarischen Bereichs der Slowakei näherten. Die reinen Slowaken waren offensichtlich leider nicht ganz so freundlich und hilfsbereit, wie ihre ungarischsprarigen Landsleute. Unser erster rein Slowakischer Kontakt war mit einem Mann, der mit dem Auto vorfuhr, neben uns anhielt und uns aus dem Grundstück der Gemeinde vertreiben wollte. Unsere Überstetzungen mit: "Wir sind vom Pfarrer eingeladen worden", überzeugten ihn wenig und er begann leicht zu stenkern. Erst als unsere Gastgeberin ihn überzeugte, dass wir wirklich geladene Gäste waren, stieg er in sein Auto zurück und raste davon. Als wir uns im Anschluss von unserer Gastgeberin verabschiedeten, hatte diese sogar Tränen in den Augen. Auf der einen Seite fühlten wir uns daurch geschmeichelt, wenngleich uns bewusst war, dass die Tränen weniger uns als Personen und mehr dem Lebensgefühl, den Sehnspchten und Träumen galten, die in ihr erwacht waren und nun wieder weiter zogen. Wir folgten zunächst dem Verlauf einer größeren und nicht allzu angenehmen Hauptstraße, konnten dann aber nach links auf einen Seitenarm in die Felder abbiegen. Hier kamen wir immer wieder durch vereinzelte kleine Dörfer und obwohl alle fast identisch waren, spürte man doch, wie sich mit jedem das Lebensgefühl änderte. Nach dem Zweiten stand nun bereits kein ungarisches Ortsschild mehr unter den slowakischen. Dafür nahm die Zahl der Sinti und Roma in den Ortschaften von Mal zu Mal zu, bis es schließlich kaum noch Urslowaken mehr gab. Langsam verstanden wir nun auch die Sorge der Einheimischen, dass sie aussterben und vollkommen durch die Sintis ersetzt wurden. Das Gefühl war hier ein ganz anderes als in Bulgarien. Hier gab es keien Slums in denen sich tausende von Menschen auf engstem Raum tummelten. Die Nachfahren der Nomaden lebten ganz normal in den Ortschaften, wobei sie es dennoch schafften, dass ihre Häuser immer schäbig und verwahrlost aussahen, so dass man bereits auf den ersten Blick erkennen konnte, wo wer lebte. Der Geburtendurchschnitt bei den Slowaken lag bei ein bis zwei Kindern, ähnlich wie bei uns Deutschen. Der der Sinti und Roma hingegen liegt bei sieben bis zwölf. Es reicht also wirklich etwas einfache Mathematik um festzustellen, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte. Grundsätzlich sprach ja auch nichts gegen die Anwesenheit der Sintis, wenn sie nur dieses Heuschreckenprinzip nicht so sehr perfektioniert hätten. Es dauerte immer nur ein paar Jahre, bis sie ein Haus vollkommen kaputgelegbt hatten, so dass es nicht mehr nutzbar war. Solange es ausreichend Häuser gab und auch ausreichend Menschen, die neue bauten, war das ein recht gut funktionierendes System. Doch bis in alle Ewigkeit konnte man es so nicht fortsetzen. Vor einem Kirchenplatz machten wir eine Picknickpause und aßen das Brot und den Schweinespeck, den wir von unseren Gastgebern bekommen hatten. Gerade als wir fertig waren, bekamen wir Besuch von einem Mann, der zunächst einmal direkt neben uns in s Gebüsch pinkelte. Dann kam er zu uns und begann ein Gespräch. Erstaunlicher Weise erzählte er dabei sogar eine Geschichte, die ganz spannend war. Vor vielen Jahren war er einmal durch Europa gereist, von Oslo bis nach Barcelona und zu allem was dazwischen lag. Als er nach Brüssel kam, entdeckte er etwas, das mit seinen Worten wie "Schuh" klang. Ich glaube jedoch, dass er nicht wirklich Schuh sagen wollte, sondern etwas anderes, dass dies aber nicht so richtig klappte, weil er einfach zu betrunken war. Auf jeden Fall fand er ein Irgendwas, das seltsam glitzerte und als er es aus der Nähe betrachtete, stellte er fest, dass lauter Gold und Silberschmuck darin lag. "Ein ganzes Kilo pures Gold!" sagte er, fügte dann aber hinzu, dass dies im übertragenen Sinne gemeint war. Als er heim kehrte, verteilte er den Schmuck erst einmal unter seinen Freunden und Verwandten. Dass es sich dabei aller Wahrscheinlichkeit nach um Diebesgut gehandelt hatte, störte weder ihn noch seine Familie.

Zwei Orte weiter versuchten wir das erste Mal einen Schlafplatz aufzutreiben. Dabei verhielt ich mich wieder genau so, wie ich es damals in Spanien gemacht hatte, nachdem ich von Frankreich gewohnt war, dass die Menschen von alleine hilfsbereit waren. Ich trabte an, hielt den Zettel vor und war anschließend sauer auf die Leute, weil sie mir nicht einfach helfen wollte, dafür aber eine Menge Zeit stahlen. Insgesamt verbrachte ich fast eine Dreiviertelstunde damit, mit einem Pfarrer, einem Bürgermeister und zwei Sekretärinnen zu diskutieren. Am Ende standen wir dann aber dennoch ohne Schlafplatz da und mussten noch einmal weiter ziehen. Das Problem lag nicht daran, dass es hier nichts gegeben hätte oder dass die Menschen vollkommen unfreundlich waren. Sie waren nur nicht so offen und hilfsbereit wie in Ungarn, sondern legten eine gewisse Skepsis an den Tag, die ich ihnen nicht nehmen konnte, da ich es nicht einmal versuchte. Wir hatten eine Pressemappe und zwei verschiedene Trailer von unserem Projekt dabei, doch ich präsentierte nichts davon, sondern verlangte, dass sie mir ihr volles Vertrauen schenkten, wenn ich einfach nur durch die Tür hereingeplatzt kam, einen knittrigen Zettel auspackte und mich mit meinen kaputten Schuhen, meiner geflickten Hose, meinem löchrigen Hut und meinem fleckigen T-Shirt vor sie stellte, wobei ich nicht einmal ein Wort ihrer Sprache sprach. Im Nachhinein betrachtet konnte das einfach nicht gut gehen, doch in diesem Moment fiel mir nicht einmal auf, wie absurd meine Idee war. Ich war wieder einmal in den alten Trott der Faulheit zurückgefallen und glaubte, mir alles sparen zu können, was zusätzliche Arbeit bedeutete. Auch in der zweiten Ortschaft hatte ich noch nicht aus meinen Fehlern gelernt und verplemperte noch einmal 45 Minuten erfolglos mit der gleichen Stategie. Als Heiko mir dies bewusst machte, brach wieder einmal alles über mir herein. Die Ängste, die ich mir nicht hatte anschauen wollen, wurden nun so präsent wie nie. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, jemals irgendeinen von meinen Lernschritten umsetzen zu können und stattdessen ewig auf der Stelle zu treten. Meine Angst war, dass ich den Lernweg nicht durchhalten konnte und wieder einmal kam das Gefühl in mir auf, alles hinschmeißen zu wollen und für den Rest meiens Lebens einfach gar nichts mehr zu tun. Im nachhinein finde ich es fast ein bisschen erschreckend, wie klein die Auslöser für diese Verzweifelungsanfälle nun nur noch sein müssen.

Am Abend kam Heiko jedoch auf einige Zusammenhänge, die meine Angst in diesem Bereich erklärten. Als kleines Kind hatte es einen Moment in meinem Leben gegeben, an dem mich mein Verstandesgegner vor eien Entscheidung gestellt hat. Wenn ich von nun an weiterhin versuchen würde, meinen Lebensweg zu gehen und meinem wahren Sein treu zu bleiben, dann würde ich automatisch einen inneren Sanktionator bekommen, der mir für jeden Verstoß und jedes Nichtvertrauen eine schmerzhafte Konsequenz in Form von Krankheiten oder ähnlichem schenkte. Wenn ich hingegen ihm, also dem Gegner folgen würde, und immer genau das tat, was er von mir wollte, dann würde er diesen inneren Sanktionator ausschalten, so dass ich ein lockeres und leichtes Leben führen konnte. Ich ließ mich damals auf diesen Deal ein und stimmte dem Gegner zu. Die ersten Jahre ging der Plan auf. Ich war nur wenig krank, hatte eine glückliche Kindeit und konnte fast alles tun, was ich wollte, ohne dafür eine Konsequenz zu erhalten. Heiko hingegen hatte sich damals dafür entschieden, seiner Herzensstimme zu folgen und den inneren Sanktionator anzunehmen, so dass er immer wieder Krankheiten und andere Leiden bekam, wenn er sich von seinem Weg entfernte. Irgendwann jedoch kam der Bruch. Ich war dem Gegner nun schon soweit gefolgt, dass sich ein immenser Druck aufgebaut hatte, der mich nun zurück zu meinem Lebensweg zog. Der Wunsch, wirklich ich selbst zu werden, wurde immer größer und irgendwann konnte ich dem Gegner nicht länger folgen. Und genau an diesem Punkt stehe ich nun. Das Problem dabei ist nur, dass der Gegner die Sanktionen, die in meinem bisherigen Leben nötig gewesen wären, nicht aufgehoben, sondern nur unterdrückt hat. Das bedeutet: Jedes Mal, wenn man von seinem Lebensweg abkommt, entsteht ein Leidensdruck, der einen darauf hinweist, dass man dabei ist, sich zu verirren. Dieses Leid entsteht immer, vollkommen gleich, ob man es nun direkt spürt oder nicht. Wenn ich mit meinem Gegner nun also den Deal eingegangen bin, dass ich kein Leid bekomme, wenn ich im Gegenzug dafür aufs Lernen verzichte und das Leben einer Marionette lebe, dann haben sich seit dem alle anfallenden Sanktionen, die nicht ausgeführt worden angesammelt. Wenn ich mich nun also für das Lernen und für die Rückkehr zu meinem wahren Selbst entscheide, wird mit dieser Entscheidung auch alles angestaute Leid auf mich zukommen. Und davor habe ich eine unglaubliche Angst. Ich habe so eine Angst, dass ich mir fast ununterbrochen in die Hose scheiße. (Vielleicht soll ich ja auch deswegen eine Robe tragen) und dass ich mich selbst immer wieder manipuliere, um nicht ins Lernen gehen zu können. Vielleicht ist dies auch ein Grund, warum ich Heiko das Leben so schwer mache. Denn unter normalen Bedingungen würde es ja einfach keinen Sinn machen, dass ich mich ständig genau so verhalte, dass ich meinen besten Freund so gut wie möglich von mir weg stoße. Ist meine Angst wirklich so groß, dass ich unterbewusst sogar unsere Freundschaft sabotiere, damit ich dann am Ende vielleicht doch einfach aufgeben und im Selbstmitleid versinken kann? Ich weiß es nicht, aber gerade macht es den Anschein. Und nach dieser Erkenntniss verstehe ich auch zum ersten Mal, warum ich eine solche Angst habe. Es hatte ja schon viele Bereiche gegeben, in denen ich glaubte, meine Angst sei unbegründet und am Ende kam dann doch genau das zum Vorschein, vor dem ich mich so sehr gefürchtet hatte.

Nach dem Abendessen testeten wir einmal aus, wie viele Leben wir bereits als Seele durchlaufen haten, in denen wir unseren inneren Sanktionator ebenfalls ausgeschaltet hatten, so dass wir weder im Leben noch im Tod etwas lernten. Bei Heiko waren es 16, bei mir 301 und bei Heidi sogar 1513 Leben, ohne dass wir in die Erleuchtung gekommen waren und ohne dass wir im Tod hatten lernen können. Auch die nicht gelebten Sanktionen aus diesen Leben, stauten sich natürlich noch mit auf. Mein Lebenskarren saß also ordentlich im Dreck und mir wurde immer mehr bewusst, dass die nächsten Schritte meines Lebens die wohl härtesten und schmerzhaftesten überhaupt sein würden. Und genau dies machte mir wirklich Angst

Spruch des Tages: Wenn es nicht klappt, probiert man es halt im nächsten Leben noch einmal

Höhenmeter: 650 m Tagesetappe: 41 km Gesamtstrecke: 17.642,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Pfarrhaus, Piotrowice, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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