Tag 954: Wann kommen wir endlich aus diesem Gebirge heraus?

von Heiko Gärtner
06.09.2016 02:59 Uhr

28.07.2016

Nur wenige Minuten, nachdem wir gestern auf Anton gestoßen waren, hatte sich auch ein kleiner Hund zu uns gesellt, der uns die komplette Strecke über begleitet hat. Selbst am Abend lag er nun geduldig neben unserem Zelt und bellte nur zwei Mal, weil er irgendwo im Wald ein Tier hörte. Er war nicht der erste Hund, der uns bis zu unserem Schlafplatz begleitet hatte und so waren wir auch dieses Mal der Überzeugung, dass er am nächsten Morgen wieder verschwunden war. Doch er war noch da und auch heute folgte er uns auf Schritt und Tritt. Noch einmal ging es gute 400 Höhenmeter den Berg hinauf und der Weg wurde dabei immer schlechter. Weil wir irgendwann aus der Puste waren und immer langsamer wurden, lief der kleine Hund nun immer wieder vor und zurück, so als wollte er sagen: "Wo bleibt ihr denn? Sagt nicht ihr findet das hier anstrengend!" Selbst ganz oben, kurz vor dem Pass gab es noch immer eine dünne Besiedelung. Hier waren nun zum ersten mal Orte, an denen man verstehen konnte, warum hier jemand lebte, denn zum ersten Mal herrschte Ruhe. Jedenfalls hätte sie geherrscht, wenn die Menschen, die sich hier angesiedelt hatten nicht selbst mit aller Macht wieder dafür gesorgt hätten, dass sie zerstört wurde. Jedes Gundstück hatte einen aggressiven Hund und mindestens eine Kuh mit einer schrillen Glocke. Ich habe keine Ahnung warum aber aus irgendeinem Grund stehen wir Menschen wohl einfach nicht auf Harmonie und Schönheit.

Oben auf dem Pass legten wir eine Pause ein, um uns zu trocknen, auszuruhen, zu stärken und zu entspannen. Hier führten wir nun auch zum ersten Mal die Sanktionen ein, die wir in unserem Kodex festgelegt hatten. Zu diesem Zeitpunkt kam es mir bereits recht ordentlich vor, doch ich ahnte noch nicht, dass es im Vergleich zu den kommenden Tagen nicht einmal ein Vorgeschmack war. Auffällig war, dass weder bei Heiko noch bei mir Wut mit im Spiel war und dass ich in diesem Moment auch keinen Selbsthass spürte. Es war zwar schmerzhaft, ansonsten aber eigentlich sogar ein freudiges Ereignis, das die Stimmung deutlich aufhellte. Unser neuer Herdenhund wartete geduldig und war sogar so brav, dass er keine Anstalten machte, sich unserem Essen zu nähern. Wahrscheinlich verstand er, dass solche Versuche bei uns Konsequenzen haben würden. Als wir weiterzogen kamen uns einige Kühe entgegen, die natürlich wieder einmal ihre Bimmelglocken um den Hals trugen. Sie wurden von drei kleinen Kindern gehütet, die rund 3, 4 und 5 Jahre alt waren. Trotz ihres geringen Alters trieben sie die Kühe an wie die Großen: Ohne jedes Mitgefühl, ohne eine Idee davon, was die Tiere benätigen, aber mit viel Geschrei und Gewalt. Der älteste von ihnen hatte eine Peitsche, mit der er auf die Kühe einschlug, wenn sie nicht gehorchten. Die anderen beiden erledigten den gleichen Job mit Ästen oder Brennesseln.Es war ein skurriler Anblick, die kleinen Kinder auf diese Weise arbeiten zu sehen, während ihre Eltern wahrscheinlich irgendwo in der Sonne lagen und sich mit Alkohol zulaufen ließen. Der Abstieg ins Tal auf der anderen Seite des Berges war ein Traum. Es war ein wunderschöner weg inmitten eines wunderschönen Bergpanoramas und zum ersten mal seit Wochen fühlte es sich hier friedlich und harmonisch an. Der Ort, der im nächsten Tal lag war nur klein, doch hier war es mit dem Frieden wieder vollkommen vorbei. Kaum hatten wir die ersten Häuser erreicht, kreischten auch schon wieder die Hähne, Hunde und Autos um die Wette. Der einzige ruhige Ort, den wir finden konnten, war der verlassene Schulhof einer Grundschule. Hier machten wir eine kurze Pause, um die Wassermelone zu essen, die wir zuvor von einem Minimarkt geschenkt bekommen hatten. Kaum hatten wir uns an die Wand der Schule gesetzt, kam auch schon eine grimmige alte Frau und fragte uns irgendetwas auf Ukrainisch. Ihre ganze Körpersprache und ihr Ausdruck deuteten darauf hin, dass sie uns vertreiben wollte. Doch der Eindruck täuschte, denn kurz darauf verschwand sie und kam mit zwei Stühlen wieder. Man musste die Menschen hier schon wirklich gut kennen, um ihre Freundlichkeit erkennen zu können.

Langsam begannen wir, uns ernsthafte Gedanken wegen unseres kleinen, vierbeinigen Begleiters zu machen. Irgendwie war es ja lustig, das er bei uns war und nun schon seit über fünfzig Kilometern mit uns mit lief. Außerdem war er, oder besser gesagt, war sie, denn es war eine Hündin, eine wirklich coole Socke. Sie war ruhig, machte keinen Stress und abgesehen davon, dass sie uns immer wieder vor die Füße oder anderen vor das Auto lief, fiel sie eigentlich kaum auf. Trotzdem war klar, dass wir sie nicht dauerhaft mitnehmen konnten. Spätestens, wenn wir an die Grenze kamen, hatten wir ein Problem. Da hier niemand englisch sprach, konnten wir den Grenzbeamten ja auch nicht erklären, dass sie eigentlich gar nicht unser Hund war, sondern nur neben uns her lief. Wir mussten also dafür sorgen, dass sie uns wieder allein ließ, und das möglichst bald, denn je länger sie bei uns war, desto schwieriger wurde es. der Schulhof schien dafür der perfekte Ort zu sein. Hier gab es ein Tor, so dass wir sie einsperren konnten und dank der alten Dame wussten wir mit Sicherheit, dass man sie später wieder befreien würde. Doch wir hatten diesen Plan ohne die Raffinesse der kleinen Hündin gemacht. Sie brauchte gerade einmal zehn Sekunden, um aus ihrem Gefängnis wieder auszubrechen und schon lief sie wieder treu neben uns her. Auch unser zweiter Besucher tauchte wie aus dem Nichts plötzlich wieder auf. Aufgrund des Regens und unserer Passüberquerung hatten wir Anton gestern abend aus den Augen verloren und wir glaubten auch nicht mehr daran, ihn noch einmal zu treffen. Auch er hatte die Suche längst aufgegeben und wollte sich schon wieder auf den Heimweg machen, als er uns plötzlich auf der Straße entdeckte. Für die nächsten Kilometer waren wir also wieder zu dritt. Und wie beim ersten Mal verbrachten wir die meiste Zeit davon auf einer unangenehmen Hauptstraße. Auf halber Strecke starteten wir dann einen zweiten Versuch unsere Hundedame davon zu überzeugen, dass sie nicht länger ein Teil unserer Herde sein konnte. Dieses Mal schnappte ich sie und setzte sie über einen Zaun in einen Garten. Dieses Gefängnis war deutlich besser als das erste, aber noch immer nicht gut genug für unsere Hündin. Etwa zehn Minuten nachdem wir uns von ihr verabschiedet hatten, lief sie schon wieder neben uns her.

Am Abend war es dann Zeit, sich von Anton zu verabschieden. Wir bogen nach rechts in die Berge ab und er folgte der Hauptstraße zurück zur rumänischen Grenze. Zum Abschied schenkte er uns noch den Rest seiner Reisekasse in ukrainischer Währung. Dafür möchten wir uns noch einmal herzlich bedanken. Unser Zelt schlugen wir heute auf einem kleinen Pass neben einem Mini-Restaurant auf. Unsere Hündin war noch immer bei uns und blieb auch über Nacht, obwohl wir ihr ganz bewusst noch immer nichts zu essen gaben. Langsam wurde es für uns unbegreiflich, wie sie es schaffte, solche Strecken zurückzulegen, ohne wirklich etwas zu Essen. Andererseits sah es Nahrungstechnisch auch für uns heute nicht viel besser aus. es reichte gerade einmal für ein Notgericht aus Reis, Zwiebeln und einer Erbstwurscht-Suppe.

Spruch des Tages: Wann kommen wir endlich aus diesem Gebirge heraus?

Höhenmeter: 20 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 17.173,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Kleines, privates Gästehaus, Tiszabercel, Ungarn

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27.07.2016

In der Früh wurden wir von einem lauten Motorengeräusch geweckt. Ich kann nicht sagen, ob es ein Freischneider oder eine Kettensäge war, aber es war irgengetwas, das ständig aufhäulte und das man einfach nicht ignorieren konnte. So packten wir unsere Sachen und machten uns wieder an den Abstieg zur Hauptstraße. Vor vielen Jahren hatte Heiko einige Male ein Intensiv-Camp im Winter geleitet, das von einem Teilnehmer in Polen gebucht wurde. Dieser Teilnehmer, nennen wir ihn einmal Anton, lebte heute in Rumänien und hatte uns bereits vor ein paar Tagen angeschrieben, ob wir uns nicht irgendwo in der Region einmal treffen wollten. Da es für ein Treffen in Rumänien jedoch bereits zu spät war, hatte er sein Fahrrad geschnappt und war und kurzerhand hinter uns hergefahren. Nun trafen wir ihn auf einer Bank direkt an der Hauptstraße, wo er gerade den letzten Bissen seines Picknicks verdrückte. Der Versuch, einen angenehmeren Platz zum Quatschen zu finden schlug leider fehl und so setzen wir uns für einen kurzen Augenblik ans Ufer des Flusses, um hier gemeinsam ebenfalls ein paar Happen zu essen. Das Brot dafür trieb ich in einem Minikarkt auf, doch darüber hinaus sah es mit der Nahrungsversorgung hier eher mau aus. Die Freundlichkeit und Großzügigkeit war nun vollkommen verloren gegangen und wenn wir bei den Märkten überhaupt noch etwas auftreiben konnten, waren wir glücklich. Bei den Privatpersonen sah es leider noch schlechter aus. Hier hatte ich am Vortag nicht einmal mehr ein Leitungswasser bekommen. Nach außen hin, war dieser Teil der Ukraine durchaus eine wohlhabende Region, mit gut gepflegten Häusrrn, teuren Autos, vielen Hotels und den unzähligen Touristen. Die Armut, die die Menschen hier im inneren trugen war aber bei weitem größer, als die Armut, die wir in Moldawien beobachtet hatten.

Als zusätzlich zum Motorenlärm nun auch noch eine Motorsäge zu kreischen begann, beschlossen wir, weiter zu ziehen und unser Gespräch im Gehen fortzusetzen. Anton war unter anderem Geschichtslehrer und kannte sich mit der Politik und der Geschichte der osteuropäischen Länder bestens aus. Von ihm erfuhren wir einige spanndende Details über das Land, das wir gerade bereisten. Dazu zählte, dass wir uns hier mit den Kaparten in einem Gebiet befanden, dass erst seit dem letzten Weltkrieg zur Ukraine gehörte. Zuvor war es ein Teil von Ungarn und davor ein Teil des Österreichisch-Ungarischen Königreichs gewesen. Wie ich es anhant der Google-Karten bereits vermutet hatte, gab es tatsächlich nur drei Staßen, die durch die Berge führten und alle drei waren noch von den Österreichern erbaut worden. Im Weltkrieg hatte dann Russland diesen Teil des Gebirges eingenommen. Nicht weil ihnen die Berge so gut gefielen, sondern weil es strategisch günstiger war, die Panzer auf der anderen Seite sammeln zu können. Seitdem hatte sich an der Infrastrukur nicht mehr viel verändert, außer dass die weniger benutzten Straßen immer mehr verfielen und nicht instant gehalten wurden. Da die Kaparten abseits der österreichischen Straßen nahezu unerschlossen waren, hatten sich dann natürlich sämtliche Bürger entlang der Hauptstraßen angesiegelt, bis es hier kaum noch eine freie Stelle gab. Anton war davon ebenso überrascht wie wir, doch da er normalerweise in einer Stadt lebte und somit Straßenlärm gewohnt war, machte ihm das Verkehrschaos nichts aus. Er hatte in der letzten Nacht sogar in einer kleinen Lücke zwischen zwei Häusern direkt an der Straße gezeltet.

Die Hauptstraßen waren jedoch nicht das einzige, was die Österreicher in dieses Land gebracht hatten. Sie hatten ihm auch den illegalen Raubbau der Wälder geschenkt, von dem auch Rumänien betroffen war. In der Regel waren es jene Forstinstitute, die eigentlich für den Schutz und die Pflege der Wälder zuständig waren, die hier am stärksten mit verwickelt waren. Sie bekamen meist keine Gelder vom Staat und mussten sich ihre Existenz daher mit den Wälden direkt erwirtschaften. Dass einen ein solches System offen für Korruption machte, lag an sich auf der Hand. So gaben die Forstämter das Holz für die illegalen Baumfäller frei und diese gaben es dann weiter an einen von zwei oder drei österreichischen Großkonzernen, die sich so eine goldene Nase verdienten. Hier in der Ukraine war es sogar noch eine Nummer härter. Unter den Förstern, die sich von den Holzriesen hatten bestechen lassen gab es einen, der damit besonders erfolgreich war. Von den Bestechungsgeldern finnanzierte er seinen Wahlkampf und so schaffte es es schließlich, das Amt des Außenministers zu besetzen. Seitdem traut sich niemand mehr etwas gegen den Raubbau der Wälder zu sagen. Denn auch die Polizei ist eingeweiht, und es passiert nicht selten, dass jemand, der doch einmal den Mund zu weit aufmachte, plötzliche schwere finanzielle Verluste erlitt, einen tragischen Unfall hatte oder auf wundersame Weise spurlos verschwand.

Aber auch die Bauern, die in den bereits abgeforsteten Gebieten lebten und dort ihre Brötchen mit der Landwirtschaft verdienten, hatten es nicht besser. Die großen Nahrungsmittelkonzerne hatten bereits nahezu alles Land aufgekauft oder enteignet. Da sie natürlich nicht alles selbst bewirtschaften konnten, verpachteten Sie das Land dann wieder zurück an ihre alten Besitzer, die nun wie Sklaven für ihren neuen Herren schuften mussten. Seit kurzem nun hatte die Ukraine begonnen eine neue Inlands-Propaganda zu starten, der die Einwohner zu neuem Patriotismus animieren sollte. Die Ursache dafür war wahrscheinlich der Krieg, der gerade zwischen Russland und der Ukraine stattfand. Eine der Maßnahmen zur Steigerung des Nationalstolzes war es, alle Kirchen neu zu verkleiden und sie in metallic-glänzendem Gold-Blau erstrahlenzu lassen. Die Kirchengestaltung hatte also keienn religiösen Hintergrund, sondern bezog sich einfach auf die Nationalfarben der ukrainischen Flagge.

Nach einigen Stunden, die wir gemeinsam wanderten, zog ein Gewitter herauf. Anton hatte bei seiner Packliste für die Reise übersehen, dass es regnen könnte und er vielleicht einen wasswrfesten Beutel für seien Schlafsack brauchen könnte. Ohne einen solchen Beutel konnte er bei Regen nicht unterwegs sein, jedenfalls nicht, wenn er zusätzlich auch die Nacht überleben wollte. Also stellten wir uns einen Moment lang an einer Bushaltestelle unter. Dann zogen Heiko und ich jedoch weiter, denn noch immer lag ein gewaltiger Teil der Strecke vor uns. Kurz nach unserer Trennung kamen wir an einer alten Skisprunganlage vorbei, die heute fast vollkommen verfallen war. Das hinderte die Einheimischen jedoch nicht daran, die Touristen mit einem ganzen Arsenal an kleinen Souvenierläden anzulocken. In jedem dieser lädchen gab es genau die gleichen Dinge und dochströmten die Menschen in Scharen hier her. Insgesamt legten wir gute 45km zurück, bis wir den Ort erreichten, von dem aus die Straße hinauf in die Berge führte. Es war nur noch eine winzige Schotterpiste und doch gab es auch hier noch immer Verkehr. Vollkommen erschlagen bauten wir unser Zelt am Wegesrand, etwa auf halber Strecke zwischen dem Canyon und dem Pass auf.

Spruch des Tages: Auch die Holzfäller haben Dreck am Stecken

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 17.152,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Umkleidekabine der Sporthalle, Kótaj, Ungarn

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26.07.2016

So heiß die Sonne am Vormittag vom Himmel gebrannt hatte, so gut versteckte sie sich am Nachmittag hinter den Wolken. Solarstrom zu generieren war also nicht möglich. An dieser Stelle sollte ich vielleicht noch erwähnen, dass wir tatsächlich eine Möglichkeit gefunden haben, die Segel trotz der fehlenden Ersatzteile wieder zum Laufen zu bekommen. Sie funktionierten also wieder einwandfrei, aber natürlich funktionierten sie noch immer nur mit Sonne. Ohne sie gab es auch keinen Strom und so machte ich mich am Abend auf um nach einer Steckdose zu suchen. Dabei kam ich zu einem Soldatenlager, das ebenso auch ein Holzfällercamp sein konnte. So genau konnte man es nicht sagen. Entweder waren es Holzfäller, die einfach gerne Tarnkleidung trugen, oder es waren Soldaten, die gerade Holz verarbeiten. In jedem Fall aber luden sie mich in ihr kleines Aufenthaltsräumchen ein, wo ich mich an den Tisch setzte und zu schreiben begann. Zunächst war ich hier alleine, doch dann versammelten sich alle Arbeiter/Soldaten in dem Raum, um gemeinsam zu Abend zu essen. Spannend war, dass ihr Essen dabei tasächlich aus nichts anderem bestand, als den Sachen die wir auch in den Minimärkten finden konnten. Es gab Brot mit Tomaten, Gurken, Schmalz und Schweinespeck, dazu chinesische Fertignudelsuppen und einen Schlunz, der sowohl aus Fisch als auch aus Fleisch oder oder aus dem drei Mal wiedergekäuten Mageninhalt einer Kuh hätte stammen können. Ich bekam auch etwas angeboten, beschränkte mich dabei aber auf Brot und Gurken. Das andere war mir dann doch ein bisschen zu riskant. Vor allem auch deshalb, weil selbst die Holzfällersoldaten nur sehr sparsam davon aßen.

Als das Essen vorbei war, war es kurz vor zwölf Uhr. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Jungs nun ins Bett gehen würden, was die meisten von ihnen auch taten. Dies beduetete jedoch nicht, dass nun Feierabend war, denn zwei kehrten in die Sägerei zurück und sägten fröhlich weiter. Als ich gegen halb eins den Heimweg antrat, waren sie noch immer fleißig am Werkeln und beschallten dabei das komplette, kleine Dorf neben ihnen. In der Früh konnten wir es kaum erwarten, den Ort wieder zu verlassen und weiter zu ziehen. Er war definitiv wieder der Beste Platz im Umkreis gewesen, den wir hätten nehmen können, doch das bedeutete nicht, dass er nicht trotzdem vollkommen schrecklich war, was die Lärmbelästigung anbelangte. Es war schon ein wahnsinn, welche Orte wir nun überhaupt als Schlafplätze in Betracht ziehen mussten. Im Balkan hätten wir hier nicht einmal überlegt, ob er in Frage gekommen wäre.

Nach einer knappen Stunde der Wanderung erreichten wir einen Pass. Hier gab es zum ersten Mal seit langem keine Besiedelung mehr sondern nur noch saftige, tiefe Wälder. Genau so hatten wir uns die Ukraine vorgestellt. Hier hätte es auch großartige Zeltplätze gegeben, doch wir waren leider erst ein paar Kilometer unterwegs und brauchten zu diesem Zeitpunkt noch keinen. Wenn wir gewusst hätten, dass es später wieder ein vollkommenes Desaster werden würde, hätten wir wahrscheinlich trotzdem unser Zelt aufgebaut. Doch das hätte das Unvermeidliche auch nur ein bisschen hinausgezögert. Gegen 13:30 Uhr hatten wir unser eigentliches Tagesetappenziel erreicht und für einen kurzen Moment schien es, als hätten wir genau an dieser Stelle den perfekten Schlafplatz gefunden. er lag kurz vor der Stadt, so dass man problemlos hineingehen und Essen besorgen konnte. Direkt in der Nähe gab es ein Hotel, um Strom abzuzapfen, sowie einige Wanderhütten um ungestört zu arbeiten. Gleichzeitig lag der Platz versteckt im Wald und war nicht zu nahe an der Straße, so dass man den Verkehrslärm kaum noch hören konnte. Vollkommen perfekt also. Bis auf ein kleines Detail. Ein Bauer hatte genau hier an dieser Wiese eine Kuh angepflockt, die eine riesige, schrille Glocke um den Hals trug. Man hörte sie bereits von mehr als 100m Entfernung und schon nach wenigen Minuten machte einen das Gebimmel wahnsinnig. Hier konzentriert zu arbeiten war vollkommen unmöglich, von Schlafen ganz zu schweigen. Es war einfach unfassbar. Wir konnte es sein, dass ein einziger Bauer mit einer einzigen Kuh einen ganzen Landstrich unbenutzbar machte. Wieso um alles in der Welt, hatte diese Kuh überhaupt eine Glocke um den Hals, wenn sie doch ohnehin an einer Leine hin?

Doch alles Fluchen und Schimpfen half nichts. Der Platz, so schön er auch war, war unbenutzbar und uns blieb nichts anderes übrig, als weiter zu ziehen und unser Glück woanders zu versuchen. Für die nächsten fünf Kilometer brauchten wir uns dahingehend jedoch keine Hoffnung machen, denn über diesen Bereich erstreckte sich die Stadt. Es war noch immer ein Dorf, wenn man sich an der Einwohnerzahl orientierte, aber die Häuser erstreckten sich eben entlang der einzigen Straße und bildeten Schließlich ein Zentrum mit einer Einkaufsmeile. Wie schon bei der letzten Stadt dieser Art waren auch hier die Gebäude plötzlich heruntergekommen, alt und hässlich, obwohl sie sonst überall top gepflegt waren. Die Touristen hielt dies jedoch nicht davon ab, in Scharen in dieses Zentrum zu strömen. Allein in der Zeit, die wir für das Durchwandern benötigten, kamen mehr als 15 Busse an, die voll beladen mit einkaufswütigen Menschen waren. Und mit vollbeladen meine ich nicht, dass es keine freien Sitzplätze mehr gab. Ich meine, dass jede Sitzbank mit mindestens vier Personen belegt war während der Mittelgang bis zum zerplatzen stehenden Fahrgästen gefüllt wurde. Unweigerlich musste ich an die Chicken-Busses in Guatemala denken, die einen änhlichen Standart hatten. Der Name "Chicken-Bus" kam daher, dass man sich in ihnen fühlte wie in einer Legebaterie. Wobei dies vielleicht noch ein bisschen harmlos ausgedrückt war. Die Hauptfrage war jedoch, was all diese Menschen hier wollten. Klar war die Stadt etwas größer als die umliegenden, doch dies bedeutete nicht, dass sie außer der Hässlichkeit auch mehr bot. Es gab noch immer die gleichen Minimärkte, die das gleiche Sortiment aus Plastikwurst, Keksen und Fertignahrung boten wie überall sonst. Sehenswürdigkeiten, Kinos, Schwimmbäder oder sonstige Attraktionen, die einen solchen Andrang hätten erklären können, suchten wir jedoch vergeblich. Erst am Ende der Ortschaft kamen wir in einen Bereich, der ein bisschen was rechtfertigen konnte. Hier gab es eine Kneipenmeile die an den Ballermann erinnerte und in denen man sich als Jugendlicher nach allen Regeln der Kunst gnadenlos abschießen konnte. Wenn es schon nichts schönes gab, dann konnte man es sich hier wenigstens schön saufen.

Für unsere Schlafplatzsuche war eine Partymeile natürlich nicht besonders Hilfreich und es war klar, dass wir noch einmal einiges an Abstand gewinnen mussten. Sobald wir die Stadt jedoch hinter uns gelassen hatten, verengte sich der Canyon soweit, dass es gerade noch genpgend Patz für den Fluss und die Straße gab. Dies war auch der Grund, warum hier keine Häuser mehr standen. Nicht weil man sie nicht hätte bauen wollen, sondern nur weil man sie unmöglich hatte hineinquetschen können. Kaum aber weitete sich der Canyon wieder, begannen auch wieder die Häuser. Jeder Platz, der breit genug für ein Zelt war, war auch breit genug, um einen Zaun darum zu bauen und eine Haus hineinzustellen. Es war einfach aussichtslos! Doch noch immer hatten wir nicht den Höhepunkt des ukrainischen Bau- und Verkerswahnsinns erreicht. Mitten in der nächsten Stadt begann traf unsere Straße auf eine Querstraße, die nun durch einen neuen Canyon führte. Dieser durchzog fast das ganze Gebirge bis hin zur Rumänischen Grenze. Es war eine von drei Straßen, die überhaupt durch die Kaparten führten und dementsprechend hoch war auch das Verkehrsaufkommen. Sie war nun keine Hauptstraße mehr. Es war eine Autobahn, nur mit schlechtem Asphalt, so dass jedes einzelne Auto drei mal so unangenehm war, wie normal. Hinzu kam natürlich, dass nun in der Hauptsaison noch einmal deutlich mehr los war, als zu anderen Jahreszeiten. Kurz: Die Straße war für uns eigentlich unbegehbar. Es war eine wunderschöne Landschaft mit großartigen Bergen und tollen Waldsystemen, doch der gesamte Verkehr wurde mitten durch dieses Tal geleitet. Es war, als würden wir direkt auf der A1 durchs Ruhrgebiet wandern. Nur eben mit großartiger Aussicht und schönen Häuschen links und rechts, die aussahen, als würden sie irgendwo einsam oben auf einer verlassenen Alm stehen. Wäre es nur eine ekelhafte Straße in einem ekelhaften Gebiet gewesen, hätte man sich vielleicht noch damit abfinden können. Doch so hatten wir permanent die absolute Schönheit der Bergen vor Augen und konnten doch nichts davon genießen, weil die Menschen alles zerstört hatten. Dummerweise gab es keine Alternative und der Canyon hatte eine Länge von gut 80km, bis es das erste Mal einen Abzweig gab. Als Heiko realisierte, in was für ein Gebiet ich uns hier manövriert hatte war er gelinde gesagt etwas ungehalten. Er konnte nicht verstehen, warum ich beim Raussuchen der Strecke nicht gemerkt hatte, dass diese Straße so unglaublich gräßlich und aber auch gefährlich war. Ich konnte seinen Ärger verstehen, hatte aber noch immer das Gefühl, dass ich keine Wahl gehabt hatte, da es einfach keine Wege durch dieses Gebirge gab, die nicht über einer dieser drei Hauptstraßen führten. Erst später wurde mir klar, dass genau hierin mein Denkfehler gelegen hatte. Ich hatte erkannt, dass es ein unpassierbares Gelände war und hatte versucht, uns auf dem besten Wege hindurchzuschläusen. Ich war also wieder dem gleichen Fehler unterlaufen, wie bereits in Süditalien: Nicht einzusehen, dass es keine gute Lösung gab und daher einen vollkommen neuen Weg zu suchen. Niemand hatte mich gezwungen, uns so durch die Kaparten zu lotsen. Wir hätten auch einen kurzen Abstächer in die Ukraine machen und dann wieder nach Rumänien abbiegen können. Doch auf diese Idee war ich nicht gekommen. Nun konnte man es nicht mehr ändern und ein Blick im Internet eines Hotels auf die große Google-Übersichtskarte zeigte, dass es hier wirklich keine Ausweichmöglichkeiten gab. Die Devise lautete also: Ohren zu und durch!

Erst nach rund acht Kilometern nahm der Verkehr etwas ab. Wir hatten uns nun immer höher auf einen Pass hinaufgeschraubt und die Zahl der Hotels nahm nun etwas ab. Gegen 19:00 Uhr erreichten wir den höchsten Punkt des Passes. Von hier aus nahmen wir eine steile Schotterstraße, die uns bis über den Berggipfel führte, so dass wir dahinter auf einer Wiese landeten, die von der Straße abgewand lag. Nach 45km Wanderung war also nur noch ein Extremanstieg auf einem Geröllfeld nötig um einen Schlafplatz zu finden, der nicht vollkommen grausam war. Als wir ihn erreicht hatten, waren wir kurz vor dem Exodus. Mein Lungenvolumen reichte nun kaum mehr aus, um unsere Luftmattratzen aufzupusten. Dennoch musste ich noch einmal hinunter zur Straße, um dort in einer Bar nach einer Alternativroute zu suchen. Man mochte nicht viel abkürzen können, doch jeder Meter, den wir uns auf dieser Straße sparen konnten, war ein Reingewinn. Und tatsächlich. Ich entdeckte einen Steilpass, bei dem wir nur rund 600 Höhenmeter überwinden mussten, um auf die andere Bergseite zu kommen und in einem Nebental zu landen. Dort gab es eine Straße, die nur halb so stark befahren war. Ideal war das noch immer nicht, aber es war schonmal besser als nichts. Erst jetzt wurde mir klar, dass dieser Höllenscanyon der perfekte Spiegel meiner aktuellen Situation und meiner Lernaufgabe war. Mein erster Impuls war es wieder einmal, die aktuelle Situation zu verurteilen, weil ich sie als nicht angenehm empfand. Es gefiel mir hier nicht, genauso wenig, wie mir gefiel, wer ich war und wo ich gerade im Leben stand. Doch es war nun einmal mein Standort, sowohl geografisch als auch auf das Leben bezogen. es half nichts, ihn zu verurteilen und zu verleugnen und mich in Gedanken ganz woanders hin zu sehnen. Normalerweise war ich bei sochen Strecken immer damit beschäftigt, die Kilometer zu zehlen und mein ganzes Bewusstsein befand sich von Anfang an eigentlich schon am Ziel. So verfiel ich jedes Mal in einen inneren Stress und eine Hektik, nahm überhaupt nichts mehr wahr, weil ich nur noch einen Tunnelblick auf das erlösende Ende richtete und konnte so weder etwas lernen, noch die Schönheit des Augenblicks wahrnehmen. Denn wie gesagt, es war ja nicht alles hässlich hier. Wir waren umgeben von kraftvollen und wunderschönen Bergen, die es verdient hatten, das man sie wahrnahm und ehrte. Das konnte man aber nur, wenn man wirklich ganz da war, wo man sich befand.

Und genau wie mit dieser elenden Straße durch den Horrorcanyon ging es mir auch mit meinem inneren Weg. Ich mochte ihn nicht, nein ich hasste ihn sogar und sehte mich nur danach, endlich irgendwo anders anzukommen, weil ich glaubte, dass ich von da dann leichter und mit mehr Freude ins Erwachen gehen konnte. Doch das war natürlich Blödsinn. Zum einen gibt es keinen Grund und auch keinen Beweis dafür, dass es mir besser ginge, wenn irgendetwas in meinem Leben anders wäre, als es jetzt gerade ist. Die aktuelle Situation und der aktuelle Schritt sind genauso gut und wichtig, wie alle anderen. Zum anderen wurde mir nun auch etwas klar, das ich bereits vor einem Jahr über Paulina geschrieben, dabei selbst aber nicht verinnerlicht hatte. (Ich finde es echt immer wieder beeindruckend, wie gut ich Sachverhalte verstehen und anschaulich darstellen kann, ohne sie aber jemals in einen Bezug zu mir selbst zu setzen und ohne sie auch nur im geringsten zu verinnerlichen). Wenn man versucht, irgendwo anders hinzukommen, ohne die aktuelle Ist-Situation anzunehmen, dann ist das so, als würde man irgenwo durch einen Wald irren, aber glauben, man sei am Strand. Irgendwo weiß man natürlich, dass man im Wald ist, denn man sieht ja ständig die ganzen Bäume, doch man will es einfach nicht wahr haben und bildet sich deswegen ein, irgendwo an einem Strand entlang zu laufen, weil man glaubt, dass es dort bestimmt schöner sei. Um nun dahin zu kommen, wo man eigentlich hin will, sucht man sich nun lauter Landkarten der Küste und bestimmt den Weg, der einen vom Strand aus ans Ziel führt. Gleichzeitig kann man einfach nicht verstehen, warum man nicht weiter kommt, obwohl man sich doch so gut informiert. Erst wenn man sich eingesteht, dass man im Wald ist, kann man auch das passende Kartenmaterial suchen, um seinen Weg von hier aus zu finden. Als ich das damals geschrieben habe, hörte es sich so wunderbar einläuchtend und schlüssig an. Doch bis jetzt habe ich es trptzdem nie verstanden. Oder besser gesagt, ich habe nie verstanden, dass ich genau das tat, was ich für Paulina beschrieben hatte.

Spruch des Tages: Ohren zu und durch!

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 17.138,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Gemeindehaus der katholischen Kirche, 4531 Nyirpazony, Ungarn

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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