Tag 1144: Bürokratie für Fortgeschrittene

von Heiko Gärtner
12.03.2017 01:08 Uhr

17.02.2017

Nach unseren Erfahrungen mit dem Mittag- und Abendessen hatte ich bereits gefürchtet, dass sich auch das Frühstück recht stark in die Länge ziehen würde. Wie sich zeigte, war die Sorge durchaus berechtigt. Nicht, dass es nicht interessant gewesen wäre, denn Jann präsentierte uns eine große Auswahl der unterschiedlichen Kunstwerke, die er im Laufe seines Lebens geschaffen hatte. Doch vor uns lag eine weitere, endlose Strecke durch die Pinienwälder und je später wir aufbrachen, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis in den späten Nachmittag wandern mussten, weil während der Siesta alles geschlossen hatte. Als wir uns von Jann verabschiedeten, war es bereits 10:00 Uhr. Wir gingen mit gemischten Gefühlen, denn auf der einen Seite waren wir dem Mann für die Einladung und die freundliche Bewirtung sehr Dankbar und wir hatten ihn sehr ins Herz geschlossen. Auf der anderen Seite war er jedoch auch sehr einnehmend gewesen, so dass wir im ersten Moment vor allem froh waren, dass wir nun wieder alleine weiterziehen konnten.

An der Landschaft änderte sich zunächst einmal wieder gar nichts, obwohl wir nun bereits kurz vor der Küste waren. Jann hatte uns jedoch ein paar Hintergrundinformationen über die Entstehung der Wälder gegeben, die sogar recht spannend waren. Gepflanzt worden waren sie ursprünglich von keinem geringeren als Napoleon. Das heißt, Napoleon hat sie natürlich nicht selbst gepflanzt, auch wenn es ihm vielleicht gut getan hätte. Aber er hat den Auftrag dafür erteilt. Ursprünglich ging es ihm dabei aber nicht um die Holzgewinnung, sondern um die Harz-Produktion. Die Bäume wurden jeweils an einer Seite großflächig angeritzt und mit Auffangbehältern versehen, so dass man ihr Harz sammeln konnte, um es für die Herstellung von Klebstoffen und anderen Mitteln zu verwenden. Mit der Entdeckung des Erdöls, das einen chemischen Ersatzstoff für fast alles bot, das zuvor mit Harz gemacht wurde, versiegte dieser Geschäftszweig jedoch vollständig. Harze wurden nahezu nicht mehr gebraucht und schon gar nicht in diesen Mengen. Von da an spezialisierte man sich auf die Holzproduktion. Wenige Kilometer weiter entdeckten wir auch einen Verwendungszweck, an den wir bislang noch gar nicht gedacht hatten. Gleich in der ersten Stadt am Meer gab es ein großes Holzkraftwerk. Hier verbrannte man tatsächlich große Mengen der Baumstämme, um daraus Strom zu gewinnen. Mit erreichen der Küste tauchten auch die üblichen Probleme wieder auf, die wir hier fast immer hatten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund waren die Menschen am Meer fast immer komplizierter und auch hier machten sie keine Ausnahme. In der ersten Kleinstadt gab es nicht nur ein Rathaus, sondern auch eine extra Abteilung, die mit unserem Sozialamt vergleichbar ist und die keine andere Aufgabe hat, als sich um bedürftige Menschen zu kümmern. Wenn man nun aber glaubt, dass dadurch die Dinge leichter würden, dann hatte man sich geschnitten. „Ja, ich bin für Anfragen wie Ihre zuständig“, erklärte mir die Frau am Schalter, „aber wir haben leider keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr in diesem Ort! Es gab einmal ein Haus mit Wohnungen und Zimmern für alle, die aus irgendeinem Grund eine Unterkunft brauchten, aber das war baufällig und wir haben es geschlossen. Seither gibt es hier nichts mehr!“

Auf meine Bitte, die Bürgermeisterin nach dem Veranstaltungssaal zu fragen, begleitete mich die Frau zunächst ins Rathaus und bat mich dann, im Flur auf sie zu warten. Zwei Mal lief sie an mir vorbei von einem Büro ins nächste und wieder zurück, bis sie sich mir erneut zuwandte. „Um mit der Bürgermeisterin in Kontakt zu treten“, eröffnete sie mir dann, „müssen Sie ihr bitte einen Brief schreiben. Ich kann Ihnen gleich ihre Anschrift geben, das ist überhaupt kein Problem. Schreiben Sie einfach einen Brief mit Ihrer Bitte und sie wird sich dann in den nächsten Tagen bei Ihnen melden.“ „Bitte was?“ fragte ich und musste laut loslachen. „Es tut mir Leid, dass ich Sie auslachen muss“ fügte ich hinzu, „aber das ist wirklich das lächerlichste an Ausrede, was wir bislang auf unserer Reise gehört haben. Sie haben schon verstanden, dass wir zu Fuß unterwegs sind und einen Platz für heute Nacht brauchen, oder?“ „Ja, das ist mir klar!“ sagte sie unsicher. „Was also in aller Welt soll mir da ein Brief nützen, der mit Glück in ein oder zwei Wochen beantwortet wird. Bis dahin sind wir mindestens 200km weiter. Sollen wir dann etwa noch einmal zurückkommen und hier eine Extra-Nacht einlegen?“ Jetzt, wo sie noch einmal darüber nachdachte, kam ihr ihr Vorschlag auch eher lächerlich vor und sie konnte mir kaum noch in die Augen blicken. „Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte!“ sagte sie schnell, fügte dann noch ein gepresstes „Au Revoir!“ hinzu und verschwand wieder in ihrem Büro.

In der nächsten Ortschaft sah es zunächst nicht viel besser aus. Die Sekretärin empfing mich mit einem Headset im Ohr, das sie zwar nicht brauchte, durch das sie aber mindestens doppelt so wichtig aussah, wie jede andere Rathaus-Sekretärin. Auch ihre erste Reaktion war es, mir zu erklären warum es nicht möglich war, dass sie uns unterstützen konnte. Dann versuchte sie mich an ein anderes Amt abzuwälzen und als das auch nicht funktionierte, erklärte sie sich schließlich bereit, mich mit dem Bürgermeister sprechen zu lassen. Auch dieser war nicht der offenste und herzlichste, den wir jemals getroffen hatten, doch er war bei weitem hilfsbereiter als seine Angestellten. Dennoch schaffte es die Sekretärin gemeinsam mit der Hilfe eines jungen, bürokratieverliebten Mitarbeiter fast, den Bürgermeister zu überzeugen, dass es rechtlich und versicherungstechnisch nicht korrekt war, wenn sie Reisenden ein Obdach gewährten. Man bräuchte hier die Genehmigung von einer noch höheren Stelle. Für einen kurzen Moment war der Stadtvorsitzende bereits drauf und dran ihnen Recht zu geben und mir sein Bedauern darüber auszudrücken, dass ihm die Hände gebunden waren. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er ja der Bürgermeister und damit auch die größte Autorität in diesem Ort war und wischte seine Zweifel beiseite. „So ein Blödsinn!“ sagte er sinngemäß zu seinen Kollegen, „wenn hier eine Genehmigung benötigt wird, dann erteile ich eben eine Genehmigung!“

Wir wurden an den Bürokraten übergeben, der uns an einen weiteren Kollegen vermittelte. Dieser wiederum war im Besitz des Schlüssels und zeigte uns den Weg zu unserem Quartier. Er war ein kräftiger, muskulöser Mann mit volltättowierten Armen, langen schwarzen Haaren, einem beeindruckenden Bart und einer dunklen Sonnenbrille. Auf den ersten Blick war er also durchaus eine respekteinflößende Gestalt, doch bereits bei seiner Begrüßung wurde klar, dass er ein sanfter und freundlicher Mensch war. Der erste, sanfte und freundliche Mensch, dem wir hier begegneten. Er zeigte uns eine kleine, leerstehende Wohnung über einer Schule, die seit Jahren nur noch als Abstellkammer verwendet wurde. Um unsere Wagen unterzustellen mussten wir erst einmal einen großen Berg von Kühltruhen, Schränken, Ventilatoren und Heizkörpern umschichten. „Wenn ihr morgen Früh geht“, meinte der sanfte Riese, „werft den Schlüssel einfach hier hinter der Treppe an die Hauswand. Ich hole ihn dann später ab!“ Soviel also zum Thema „Alles muss in korrekten, bürokratischen Bahnen laufen“. Seit wir die Küste erreicht hatten, war es mit der Ruhe der Wälder wieder vorbei. Die Küstenstraße war stark befahren und wie so oft schienen auch hier wieder alle Leute durchzudrehen, um so viel Lärm wie möglich zu veranstalten. Die Zeit, die ich benötigte um die Rathausmitarbeiter zu überzeugen, verbrachte Heiko damit, sich mit einem Hund herumzuärgern, der ihn ununterbrochen ankläffte. Und wenn dieser durch einen dummen Zufall doch einmal schwieg, hörte man Kettensägen, Laubbläser, Motorroller und schreiende Kinder im Hintergrund. Nach verlassen der Pinienwälder hatte es keine einzige ruhige Sekunde mehr gegeben. Auch in unserer kleinen Wohnung wurde es nicht viel besser. Auf der einen Seite befand sich ein Kindergarten in dem gerade eine Grillparty stattfand, auf der anderen saß ein weiterer Hund im Garten und schrie alles an, was an ihm vorüber kam. Die Wände in unserer Wohnung waren so dick, dass man vom hintersten Raum aus einzelne Worte verstehen konnte, die vorne auf der Straße gesprochen wurden. Allein menschliche Stimmen in normaler Lautstärke durchdrangen hier also die Außenwand, die Wand zum Flur und die Wand zu unserem Zimmer. Wie man auf so eine Weise bauen konnte, war uns ein Rätsel.

Da wir nun schon einmal am Meer waren, wollten wir nun natürlich auch einen kleinen Abstecher an den Strand machen. Es herrschte gerade Ebbe und das bedeutete hier, dass es wirklich überhaupt kein Wasser gab. Es war ein Wattenmeer, das locker fünf oder sechs Kilometer hinein in den Atlantik ragte. Ich kannte ähnliche Bilder von der Nordsee, aber für Heiko war es das erste Mal, dass er aufs Watt hinausblickte. Die Sonne war kurz vor dem Untergehen und spiegelte sich in dem nassen, glatten Schlamm. Am beeindruckendsten war jedoch der kleine Jachthafen, in dem die Boote, die normalerweise an der Wasseroberfläche schwammen, nun alle im Matsch herum lagen. Auch hier war der Stadtlärm noch immer unerträglich und weil er allein nicht auszureichen schien, dröhnte aus einer benachbarten Hafenbar laute Schlumpf-Techno-Musik, die so ganz und gar nicht in die sanfte Abendstimmung passen wollte. Es war ein Widerspruch der Sinne. Die Ohren sagten: „Lauf schnell weg, hier ist es hässlich! Geh irgendwo hin, wo es ruhig und angenehm ist!“ Und die Augen sagten: „Waow, schau dir diese unglaubliche Schönheit an und genieße sie so lange wie nur möglich!“

Spruch des Tages: Ihr wollt hier heute übernachten? Na dann schreibt ab Besten erst einmal einen Brief und schickt ihn per Post an die Bürgermeisterin!

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 25 km Gesamtstrecke: 20.949,27 km Wetter: sonnig, sommerlich und warm Etappenziel: leere Wohnung der Gemeinde, 33138 Lanton, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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