Tag 1143: Pakinson als Vergiftungsfolge

von Heiko Gärtner
12.03.2017 01:03 Uhr

16.02.2017

Unsere Pilgerherberge war schön und erst vor kurzem renoviert worden, doch sie war auch so ungeeignet für eine Pilgerherberge wie sie nur hätte sein können. Es wirkte fast, als hätten sich die Erbauer eine Liste mit dem Titel „Dinge, die für einen Pilger besonders wichtig sind“ geschrieben, um dann ganz bewusst gegen jeden einzelnen Punkt davon zu verstoßen. Zunächst einmal war da die Zimmereinteilung. Es gab einen großen Saal, in dem sich die Küche, der Aufenthaltsbereich und ein Großteil der Betten befand. Dieser hatte keine Heizung, eine Deckenhöhe von gut fünf Metern und nur einen einzigen Lichtschalter neben der Eingangstür. Sobald man also das Licht über dem Esstisch einschaltete, ging automatisch auch das über den Betten an. Es war also unmöglich, dass sich jemand zum Schlafen legte, während die anderen noch beisammen saßen. Da die Fensterscheiben selbst so dünn waren, dass sie weder Kälte noch den Lärm der nahegelegenen Autobahn abhielten, musste man die Fensterläden schließen, wodurch es in dem Saal automatisch stockdunkel wurde. Selbst wenn man nur auf Toilette wollte musste man nun das große Licht einschalten und damit jeden wecken, der sich mit einem im Raum befand. Die Küchenzeile befand sich hinter einer Art Schrankwand, die man zur Seite schieben konnte, um an die Küchengeräte zu gelangen. Dies bedeutete jedoch, dass man beim Kochen ständig auf eine Stahlleiste im Boden trat, die genau den Abstand zum Herd hatte, an dem man seine Füße platzierte, wenn man davor stand. Rein theoretisch war diese Schiebetür dennoch eine gute Idee, denn in der Küche befand sich ein großes Lüftungsrohr, das nicht wie eine normale Abzugshaube ein- und ausgeschaltet werden konnte, sondern permanent durchlief. Jeder der einen Dunstabzug über dem Herd hat weiß, wie nervig diese Dinger sind, wenn man sie länger als ein paar Sekunden laufen lässt. Hier in dem großen Saal hallte es gleich noch schön wieder. Und weil das allein noch nicht genug war, gab es zwei weitere, baugleiche Lüftungssysteme im Klo und in der Dusche, die ebenfalls unabstellbar waren. Beim Versuch, die Küchenschiebetür zu verschließen, um etwas Ruhe in unser Heim zu bringen, fiel uns jedoch auf, dass eine der Türen fehlte. Man konnte also nichts damit gewinnen.

In unserem Fall hatten wir nun Glück, dass wir alleine hier waren, denn außer dem großen Saal und dem Badezimmer, gab es noch einen weiteren, kleineren Schlafraum, in dem noch einmal drei oder vier Personen untergebracht werden konnten. Dieser hatte keinen Lüfter, dafür als einziger Ort der Herberge aber eine funktionierende Heizung. Es war also gewissermaßen ein First-Class-Room für die Pilger, die zuerst kamen. Ideal also, um gleich von Anfang an für ein bisschen Anspannung zu sorgen. Diese wurde dann gleich noch einmal gesteigert, wenn man bedachte, dass es in der Regel zwei unterschiedliche Arten von Pilgern gibt. Die Frühpilger, die mittags ankommen, zeitig schlafen gehen und morgens in aller Hergottsfrühe zu ihrer Tagesetappe aufbrechen und die Spät- bzw. Partypilger, die sich bis mitten in der Nacht mit anderen Pilgern zusammensetzen, Bier und Wein trinken und dementsprechend auch spät aufstehen. In einer Herberge wie dieser ist es vollkommen unmöglich, dass sich diese beiden Gruppen nicht gegenseitig vollkommen auf den Sack gehen. Man kann nicht aufstehen ohne alle anderen zu wecken und man kann auch nicht aufbleiben, ohne alle anderen wach zu halten. Von diesen kleinen Unüberlegtheiten einmal abgesehen war es aber wirklich eine schöne Herberge.

Mitsamt dem 5km-Umweg war es nun doch wieder eine volle Tagesetappe bis in die nächste Ortschaft. Als wir dort eintrafen war gerade Markt und es bot sich an, hier gleich ein wenig Essen für den Abend zu besorgen. Dabei stieß ich auf eine Gemüsehändlerin in den Fünfzigern, die uns nicht nur mit einer großen Tüte voll Gemüse aushalf, sondern auch gleich noch all ihre Kollegen animierte und mit irgendeiner Form der Unterstützung zu sponsern. Sie war eine geborene Verkäuferin, daran gab es nun keinen Zweifel mehr. Fast spielerisch schaffte sie es, aus jedem zumindest eine Kleinigkeit herauszuholen. „Oh, schau mal, da ist der Bäcker!“ rief sie und war auch schon bei ihm, um ihm von den beiden Wanderern zu berichten, die durch ganz Europa zogen und gerade einen Schlafplatz suchten. Von Schlafplätzen hatte ich noch gar nichts gesagt, aber es war ihr selbstverständlich, dass wir irgendwo eine Bleibe brauchten. „Oh, da kann ich nicht weiterhelfen!“ antwortete der Bäcker, was für die hilfsbereite Frau aber nicht das Geringste mit einer Absage zu tun hatte. „Schade!“ meinte sie nur, „aber dann wirst du ihnen ja wenigstens eine Kleinigkeit zum Essen geben, nicht wahr?“

Dazu konnte der Bäcker unmöglich Nein sagen. Doch noch ehe er mit seinem Gebäck zurückkehrte, hatte die Frau bereits einen anderen Mann gefunden, der nur zufällig auf dem Markt erschienen war und der uns kurzerhand aufnahm. Er hieß Jann, war 82 Jahre alt, pensionierter Sicherheitsbeamter und multifunktionaler Hobby-Künstler. Sein Haus selbst war ein kleines Kunstwerk und viele der Gemälde, die hier aushingen hatte er selbst gemalt. Außerdem liebte er Musik und Tanz. Seit er sich von seiner zweiten Frau getrennt hatte lebte er allein, was ihn jedoch nicht davon abhielt, regelmäßig am Abend durch das Wohnzimmer zu tanzen. Auch Dichtung, Sterndeutung, Philosophie und dergleichen mehr zählten zu seinen Interessensgebieten, in die er uns immer wieder Einblicke gewährte. Nur entspannen und aufmerksam zuhören war nicht ganz so sein Ding. Kurioser Weise war er vom Grundtyp her ein äußerst ruhiger und gelassener Mensch, der aber aus irgendeinem Grund trotzdem keine Ruhe finden konnte. Sobald er sich irgendwo hinsetzte, fiel ihm irgendetwas ein und er sprang sofort wieder auf, wodurch alles was er tat gut drei Mal länger dauerte, als es hätte dauern müssen, wenn er konzentriert bei der Sache gewesen wäre. Vielleicht auch noch einmal ein guter Hinweis darauf, wohin meine Zeit ständig verschwindet.

Früher war er einmal sehr sportlich und aktiv gewesen, doch nun im Alter war das nicht mehr in dem Umfang möglich, den er sich wünschte. Unter anderem auch deshalb, weil er vor 6 Jahren eine Rücken-OP bekommen hatte, bei der man ihm 5 Wirbel mit Metallnägeln versteift hatte. Vor 5 Jahren hatte er dann erste Nervenaussetzer bekommen und seither hatte er ein permanentes Zittern und Schütteln in der rechten Hand. Sein Arzt hatte ihn jedoch beruhigt und verkündet, es sei kein Parkinson, sondern lediglich das Alter. Eine seltsame Aussage, da sie ja, wenn sie wahr wäre, bedeuten würde, dass jeder Mensch ab Mitte siebzig Schüttelanfälle in den Händen bekommt, ohne dass es dafür einen Grund gibt. Tatsächlich ließ sich nach einem intensiveren Diagnosegespräch feststellen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den Metallplatten im Rücken und der Schüttellähmung gab. Wie so oft bei metallenen Fremdkörpern in Form von Plomben, Prothesen und künstlichen Gelenken kam es auch hier zu einem permanenten austreten von Giftstoffen, die sich dann im Körper verteilten. Vor allem für den Körper giftige Metalle wie beispielsweise Aluminium, lagern sich gerne an den Nervenbahnen an und können dabei sogar die Blut-Hirn-Schranke überwinden, um so direkt ins Gehirn zu gelangen. Eine mögliche Folge davon ist Alzheimer. Eine weitere sind Nervenausfälle in einzelnen Körperteilen, die zu Lähmungen oder unkontrollierten Schüttelanfällen führen. Der biologische Sinn der Schüttellähmung im Falle unseres Gastgebers war recht gut erkennbar. Jann hatte sein ganzes Leben lang reichlich Sport betrieben und somit war es sein Körper gewöhnt, Giftstoffe vor allem über die Haut in Form von Schweiß auszuscheiden. Bei einem Menschen, der viel schwitzt, ist dies einer der effektivsten Wege, da die Haut unser größtes Organ ist. Bei Menschen, die wenig schwitzen hingegen sucht sich der Körper automatisch ein anderes Organ als Hauptentgiftungsweg aus. Seit der OP hatte Jann aber nahezu vollständig mit dem Sport aufgehört, wenn man von einigen Tanzeinlagen in seinem Wohnzimmer absah. Der Körper hatte also zeitgleich einen großen Haufen Gift bekommen, mit dem er fertig werden musste, und seine bevorzugte Entgiftungsmethode verloren. Um diese Wieder zu gewinnen und mit der Giftüberlastung zumindest einen Teil der Giftbelastung loswerden zu können. Dazu trieb er Janns Muskeln und seinen Kreislauf an um auf Hochtouren zu laufen, was sowohl die große Hektik des Mannes, als auch das Schütteln seiner Hand erklärte.

Gleichzeitig spürte er auch, dass er mit zusätzlichen Giftbelastungen wie beispielsweise durch die Nahrung kaum noch fertig werden konnte. Früher sei er einmal ein guter Esser gewesen, aber heute bringe er kaum noch etwas hinunter, erklärte er uns. Tatsächlich war diese Aussage sogar noch etwas untertrieben. Sowohl beim Mittag als auch beim Abendessen saßen wir jeweils rund drei Stunden zusammen. Und in dieser Zeit schaffte er nicht einmal einen halben Teller. Und das obwohl er ein hervorragender Koch war und uns mit den feinsten und leckersten Spezialitäten verköstigte, die wir seit Wochen zu Gesicht bekamen. Zum Mittag briet er unter anderem eine Pfanne mit Würstchen, die er fast vollständig zwischen Heiko und mir aufteilte. Er selbst behielt lediglich zwei kleine Enden von jeweils zwei Zentimeter Länge, die dann auch noch in der Mitte halbiert waren. Drei Stunden später hatte er gerade einmal eine halbe davon gegessen. Der Rest lag noch immer auf dem Teller, als er ihn von sich schob und meinte: „Mir reichts für heute“ Vor dem Abendessen rief er uns noch einmal zu sich und bat uns hinaus in den Garten, von wo aus wir den Sternenhimmel bewundern sollten. Direkt über uns funkelte klarer, stärker und heller als alle anderen Sterne zusammen ein leuchtender Punkt. „Das ist die Venus!“ erklärte er, „man sieht sie nur selten, aber heute hat man einen hervorragenden Blick darauf.“ Und das war nicht gelogen.

Spruch des Tages: Ich bin eher ein kleiner Esser!

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 20.924,27 km Wetter: sonnig, sommerlich und warm Etappenziel: Private Gästezimmer, 33770 Salles, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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