Der Umgang mit Obdachlosen

von Franz Bujor
01.04.2014 09:07 Uhr

In Sainte Foy la Grande waren gerade Bürgermeisterwahlen und so konnten wir wieder einmal im Rathaus um Unterstützung bitten, obwohl Sonntag war. Diesmal brachte es uns jedoch deutlich weniger. Es gäbe ein Pfarrhaus, aber ansonsten könne man in dieser Stadt nichts für Pilger oder Wanderer tun. Soziale Einrichtungen, die uns helfen könnten, gäbe es nicht und der einzige Saal, den die Stadt besaß, war der, in dem die Wahlen stattfanden. Den könne man uns also nicht anbieten. Zumindest was die Sache mit dem Saal und den Wahlen anbelangte, hatte die Frau die Wahrheit gesagt. Das Pfarrhaus existierte auch, war jedoch geschlossen. Damit waren die von ihr genannten Möglichkeiten erschöpft. Auf dem Platz vor der Kirche, trafen wir jedoch auf eine Frau, die uns empfahl im Krankenhaus nachzufragen. Dort wurden wir dann in die Pilger- und Obdachlosenherberge geführt, in der wir die Nacht verbrachten. Warum uns die Frau im Rathaus diese Option verheimlicht hatte, blieb uns ein Rätsel. Natürlich war es möglich, dass sie nichts davon wusste, aber das Heim war eine städtische Einrichtung und es war schon komisch, dass dies einer Bürgermeistersekretärin unbekannt war.

 
Die Patisserie von Saint Voy la Grande

Die Patisserie von Saint Voy la Grande.

 

Wir jedenfalls wurden von einer kleinen, leicht rundlichen Dame in das Haus geführt. Es bestand aus einem schmalen, dunklen Gang, von dem aus drei Zimmer abgingen und einem Innenhof, in dem sich eine kleine Küche, ein Klo, eine Dusche und ein Vorratsraum befanden. In der ersten Etage gab es zwei Zimmer für Pilger. Als Wanderer auf ihrem heiligen Weg durften wir unsere Sachen im Lager abstellen und uns dort auch einige Lebensmittel auswählen. Den Obdachlosen, die sich in der Küche und im Innenhof aufhielten, warf die Frau hingegen nur abfällige Blicke zu. Sie gab uns einen Schlüssel für das Lager, wies uns aber darauf hin, immer alles sorgfältig wieder zu verschließen, damit „diese da“ keinen Unfug anstellen konnten. Die Art, wie sie die Männer behandelte und wie sie über sie sprach, traf uns zutiefst. Für sie waren diese Obdachlosen Abschaum, den man weder mit Respekt noch mit Herzlichkeit behandeln musste. Als wir uns später etwas zu Essen machten, sprachen wir kurz mit zweien der Männer. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie jede Menge Probleme hatten, die sie in zu viel Alkohol, Zigaretten und anderen Drogen zu ertränken versuchten. Doch es waren herzensgute Menschen. Insgesamt mussten hier neun oder zehn Männer wohnen, verteilt auf drei Zimmer, die sich alle eine Küche, eine Dusche und ein Bad im Hof teilten. Die Wände waren so dünn, dass man jedes Wort im Nebenzimmer so gut verstehen konnte, als wäre man direkt am Gespräch beteiligt. Privatsphäre war damit also ausgeschlossen. Dann es den Männern unangenehm war, wie sie hier lebten, merkte man daran, dass sie sich sofort zurückzogen, als wir kamen. Wir luden sie sogar zum Essen ein, aber niemand wollte unsere Einladung annehmen.

 
Unser Zimmer in der Obdachlosenunterkunft von Saint Voy La Grande

Unser Zimmer in der Obdachlosenunterkunft von Saint Voy La Grande.

 

„Ich finde diese Einrichtung hier schon wieder sehr spannend!“, sagte Heiko, als wir später auf unserem Zimmer saßen. „Auf der einen Seite ist es hier wirklich nicht schlecht, wenn man es mit anderen Obdachlosenunterkünften vergleicht. Es ist bei weitem nicht so gut wie bei der Heilsarmee, wo es sogar Fernseher und Badewannen auf dem Zimmer gab, aber für eine Notunterkunft ist es in Ordnung. Aber überleg dir jetzt mal, du kommst als Pilger hierher und hast nicht schon 14 Tage unter Obdachlosen auf der Straße gelebt. Sei mal ein junges Mädchen. Die Jungs hier sind echt in Ordnung, aber sie sehen wirklich etwas beängstigend aus. Und wenn sie genug intus haben, weiß man auch wieder nicht, wie gut sie sich zurückhalten können. Da bist du doch traumatisiert für dein Leben! Die Türen hier vermitteln auf jeden Fall keine Sicherheit, so wackelig und zusammengeflickt wie sie sind.“

Die ruhigste und entspannteste Nacht wurde es nicht. Unsere Betten waren so weich, dass sie sich eher wie Hängematten anfühlten und auch jetzt sind unsere Rücken noch so verspannt, als hätte man uns ans Kreuz geschlagen. Die Jungs unten im Innenhof feierten noch bis tief in die Nacht hinein und trotz der zwei Wände und des Bodens, die dazwischen lagen, hatten wir das Gefühl mitten unter ihnen zu sein.

Dementsprechend unausgeschlafen starteten wir heute in den Tag. Gut, dass wir uns vorgenommen hatten, ein wenig zu wandern, denn das brachte den Kreislauf in Schwung.

Die Landschaft war gewohnt hügelig. Doch die Hügel dieser Gegend wurden wieder einmal auf eine neue Weise genutzt. Wir kamen durch ein Tal, das komplett aus Apfelplantagen bestand. Es war ein äußerst skurriler und auch beeindruckender Anblick. Die Frage, wie die Äpfel in unseren Supermarkt kommen, war damit dann wohl auch geklärt. Gibt es eigentlich wirklich keinen Flecken auf dieser Erde mehr, der nicht mit irgendeiner Art der Plantage bedeckt ist? Wie weit sind diese Äpfel von einem natürlichen Lebensmittel entfernt, wenn sie auf diese Weise wachsen? Und dann sagen wir hinterher: „Esst mehr Äpfel, die sind gesund und haben viele Vitamine.“ Und ja,  es stimmt, verglichen mit dem Anbau von den meisten anderen Lebensmitteln, war dies wirklich noch das natürlichste und gesündeste. Es gab sogar noch so etwas wie Leben in diesen Plantagen. Wildblumen wuchsen zwischen den Bäumen, Bienen tummelten sich und sogar ein paar Rehe liefen in den unendlich langen Baumreihen herum. Sucht so etwas mal in einem Mais- oder Weizenfeld! Und doch ist es auf eine Art pervers, dass wir diese Plantagen, die in Reih und Glied gepflanzt werden, damit man sie in Massenproduktion mit Gift tränken und später abernten kann, als natürlichen Lebensraum ansehen.

Dort wo gerade keine Apfelbäume wuchsen, wurde Wein angepflanzt. Wir konnten einen merkwürdigen Traktor, der speziell für Weinplantagen gebaut worden war, dabei beobachten, wie er über die langen Reihen an Weinreben hinwegfuhr. Eines fiel uns jedoch besonders auf. Überall auf den Weinhängen wuchsen Gras und andere Kleinpflanzen. Direkt neben den Reben gab es jedoch immer einen Streifen, an dem alles komplett vertrocknet und verwelkt war. Die Kante zwischen dem gesunden und dem toten Gras war wie mit einem Lineal gezogen. Es gab keinen Zweifel, dass die Todesursache hierbei ein Pflanzengift war, dass von den Bauern versprüht wurde. Die jungen Weinreben waren in Plastikrohre eingepackt, damit sie das Gift nicht direkt abbekamen und die älteren waren an den unteren Stellen, an denen sie dem Gift ausgesetzt waren dünner und verkümmert. Ob das Gras dort wuchs oder nicht, machte für den Wein keinerlei Unterschied. Es bedeutete lediglich etwas mehr Arbeit, weil man es hätte mähen müssen. Da war ein Gift natürlich die billigere und einfachere Variante. Es bedeutete aber auch, dass die Pflanzen bereits vor der ersten Traube das erste Mal mit chemischen Giftmitteln in Verbindung kamen. All das Gift musste in den Boden sickern und kam damit unweigerlich in das Wasser, von dem sich die Reben ernähren. So verführerisch das Flair des französischen Weines auch ist, selbst ohne einen einzigen Tropfen Alkohol ist er damit eine ordentliche Belastung für die Leber. Und das ist nur das Gift, das im Frühjahr verteilt wird. Was mag da noch kommen, wenn die Pflanzen Blüten und später Früchte tragen?

Französischer Friedhof

Französischer Friedhof.

Unsere Mittagspause machten wir diesmal auf einem Friedhof. Ich weiß, das mag ein ungewöhnlicher Ort für ein Mittagessen sein, aber es war der einzige windgeschützte Platz. Und die Friedhofsbewohner machten sich nicht allzu viel aus unserer Anwesenheit. Außer einem vielleicht, über den wir uns leider ein wenig lustig machen mussten. Ich weiß, so etwas macht man nicht und schon gar nicht auf einer heiligen Pilgerreise, aber auf dem Foto auf seinem Grabstein sah er so sehr aus wie Adolf Hitler, dass wir einfach nicht anders konnten. Und vielleicht stimmt es ja wirklich, dass der alte Diktator nach dem Untergang seines doch nicht so unendlichen Reiches nach Frankreich ausgewandert ist und hier sein restliches Leben unter falschem Namen als Weinbauer verbracht hat. Man weiß ja nie.

 

Spruch des Tages: Ein Feind ist jemand, dessen Geschichte wir nicht kennen.

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 1823,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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