Obdachlosenunterkunft

von Franz Bujor
01.04.2014 08:51 Uhr

Als wir heute in der Früh aufstanden, stellten wir als allererstes fest, dass man uns in der Nach eine Stunde geklaut hatte. Mit der Zeitumstellung war es nun bereits halb 10 und nicht mehr halb neun, wie eigentlich geplant. Dennoch fühlten wir uns, als hätten wir mindestens eine Stunde zu wenig geschlafen.

Der Tag wurde genauso schwül wie der letzte und die vielen kleineren und größeren Berge brachten uns ordentlich ins Schwitzen. Heiko hatte seit gestern Abend Halsschmerzen und durch dass drückende Wetter begann nun auch sein Schädel zu brummen. Ich hatte seit gestern Morgen einen entzündeten Bauchnabel. Ich weiß, das klingt komisch und ich kann mir auch nicht erklären, woher das kommt, aber es ist so. Das einzige, was ich weiß ist, dass der Bauchnabel auf psychologischer und energetischer Ebene mit der Verbindung zu Mutter Erde, der Verbindung zu den eigenen Eltern und dem Kontakt zur eigenen Seele zusammenhängt.

 
Auf dem Weg nach Santiago

Auf dem Weg nach Santiago

 

Auf unserem Weg nach Sainte-Foy-la-Grande führten wir ein langes und intensives Gespräch, dass ich gerade nur schwer wiedergeben kann. Es begann mit der Frage, ob mir irgendetwas im Moment fehlen würde. Dabei kamen wir schließlich wieder einmal auf das Thema Geld und auf die Frage, welchen Wert ich mir selbst zumesse. Heiko stellte mir viele Fragen und auf die meisten davon, hatte ich keine Antworten. Wieso hast du das Gefühl, dass alles in deinem Leben ein Kampf sein muss? Wieso glaubst du, dass du nicht locker und leicht leben kannst? Warum hast du so einen negativen Bezug zu Geld?

 
Camino de Santiago

Camino de Santiago

 

Jetzt im Nachhinein, wo ich versuche, das Gespräch wiederzugeben, merke ich, dass ich mich an vieles bereits nicht mehr erinnere. Ich weiß dass es wichtig war und dass es mich ein großes Stück weiterbringen würde, wenn ich die Zusammenhänge begriffe, aber irgendetwas in mir weigert sich noch immer, das anzunehmen. Wenn ich einfach alles verdränge und mir keine Gedanken darüber mache, dann wird es schon wieder vergehen!

Das zentrale Thema, war die Frage, welchen Wert ich mir selbst beimesse. „Was sind deine besonderen Talente? Was kannst du besser, als jeder andere Mensch auf der Welt?“

 

Ich stockte und hatte keine Ahnung, was ich sagen soll. Ich wusste es nicht und dass erschreckte mich zutiefst.“

„So was wie: ‚ich kann mich am besten überall durchschnorren!’ vielleicht“ schlug Heiko scherzeshalber vor.

Ich lachte kurz und sagte: „Ja, darin bin ich wirklich gut, aber das kann ja nicht alles sein!“

„Denke ich auch!“ meinte Heiko, „also, was noch?“

„Schreiben kann ich ganz gut!“

„Ganz gut!“ widerholte Heiko, „also so gut wie der Nachbar oder sonst irgendjemand.“

„Naja, schon etwas besser. Besser als die meisten, denke ich.“

„Das klingt aber auch noch nicht besonders überzeugend!“ sagte Heiko skeptisch.

Ich schüttelte den Kopf.

„Was macht das mit dir?“ fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Wie ich diese Frage in solchen Gesprächen hasste! Woher zum Teufel sollte ich denn darauf eine Antwort wissen?

„Du bist gerade wütend!“ bemerkte Heiko, was ich ehrlich gesagt eine Frechheit fand, denn ich war mir sicher, dass ich ganz und gar nicht wütend war.

„Ich seh’s an deiner rechten Hand, wie du sie zusammenballst“, erklärte er seine Feststellung.

‚So ein Blödsinn!’ dachte ich mir, ‚Vielleicht macht mich das gerade traurig, aber sicher nicht wütend! Verfickt! Warum quietscht eigentlich mein Wagen die ganze Zeit so Nerv tötend, obwohl ich ihn gestern erst geölt habe! Und was wollen diese beschissenen Fliegen hier, die mir ununterbrochen ins Gesicht und in die Ohren fliegen!’

Ok, vielleicht war ich doch wütend! Mir wurde klar, dass ich nicht wirklich sauer auf den Wagen und auf die Fliegen war. Aber warum war ich dann sauer?“

 
Ein schöner Entenvogel

Ein schöner Entenvogel.

 

„Ok, ich glaube du hast Recht!“ sagte ich. „Ich bin traurig und ich bin wütend!“

„Warum oder worüber bist du traurig und wütend?“

„Ach was weiß denn ich!“ schnauzte ich zurück. „Reicht es nicht, dass ich einfach traurig und wütend bin?“

„Ja, ist schon mal ein Anfang! Du weißt zumindest schon mal, wie du dich gerade fühlst! Du kannst ruhig heulen! Früher oder später hat der Weg jeden soweit, du musst das nicht unterdrücken!“

Ich spürte tatsächlich einen dicken Klos im Hals und meine Augen waren fast soweit, dass ich heulen musste. Aber die Tränen kamen nicht. Mir fiel auf, dass ich schon immer Schwierigkeiten damit hatte, zuzugeben, dass es mir nicht gut ging.

„Warum?“ fragte Heiko, als ich diesen Gedanken ausgesprochen hatte.

Tobias als Fährtenleser

Tobias in der Orientierungsphase...

„Ich glaube, weil ich dass Gefühl hatte, dass ich die schöne Welt in der ich lebte, nicht kaputt machen darf und weil ich nicht wollte, dass sich jemand Sorgen um mich macht.“

„Na, das hast du dann ja super hinbekommen, du alter Weltreiseabenteurer!“ sagte er mit einem Lächeln.

Jetzt musste auch ich lächeln. „Stimmt wohl! Aber trotzdem fällt es mir auch jetzt noch schwer, es offen zu zeigen, wenn es mir einmal nicht gut geht.“

„Ist mir fast nicht aufgefallen!“ kommentierte Heiko. „Aber glaub mir, es merkt eh jeder, ob du nun darüber sprichst oder nicht! Das Ding ist dabei eher, dass du dich selbst nicht ernst nimmst. Da ist wieder das alte Thema mit der Harmoniesucht. Du versuchst es immer allen Recht zumachen und damit machst du dein Leben zu einem Kampf für dich selbst.“

„Das versteh ich grad nicht!“ sagte ich verwirrt.

„Du hast es doch gerade selbst gesagt!“ fuhr Heiko fort, „Weil du nicht willst, dass andere sich Sorgen machen, glaubst du, dass du all deine Probleme alleine lösen musst. Damit machst du dir das Leben doch selbst zur Hölle. Steh doch dazu und sag, es geht mir gerade scheiße, ich brauche Hilfe. Ist doch kein Problem. Das klappt doch beim Fragen nach Essen und einem Schlafplatz auch immer. Ich glaube, du bemisst dir selbst einfach zu wenig Wert zu. Nimm mal die kleinen Dinge. Wenn du dich irgendwo vorstellst, dann sagst du ‚Tobi’ Glaubst du nicht, dass du es Wert bist, dass die Menschen deinen ganzen Namen erfahren? Du könntest ja auch sagen: ‚Hallo ich heiße Tobias aber meine Freunde nennen mich Tobi.’ Oder: ‚Hallo ich bin Tobias, aber du kannst Tobi sagen!’ Das ist etwas ganz anderes. Du versuchst dich immer so klein wie möglich zu machen. Aber wenn du dir selbst keinen Wert beimisst, wie wollen es dann andere tun?“

 
Frankreichs Wanderwege

Frankreichs Wanderwege.

 

Ich schluckte. Ich verstand ziemlich gut was er meinte, aber ich konnte es noch immer nicht fühlen. Was sollte ich denn anders machen, damit ich mich selbst ernster nahm, oder ein höheres Selbstwertgefühl bekam?

„Was ist die größte Summe Geld, von der du dir vorstellen kannst, dass du sie an einem Tag verdienst?“ unterbrach er meine Gedanken.

Ich versuchte in mich hineinzufühlen. „Keine Ahnung, vielleicht so zwei bis drei Tausend Euro?“

„Ok,“ antwortete er, „und womit?“

Wieder musste ich überlegen. „Mit den Büchern vielleicht.“

„Und wie würde das dann aussehen?“

„Ich würde eine Mail bekommen oder eine andere Nachricht und darin erfahren, dass viele Exemplare verkauft wurden.“

„Mh, das ist dann aber nicht an einem Tag verdient. Du bekommst an einem Tag die Nachricht aber verdient hast du das Geld dann über Monate hinweg. Nehmen wir einmal an, du hast nur ein halbes Jahr zum Schreiben gebraucht, dann wären dass 3000€ durch 175 Tage. Dass sind dann nicht einmal 20€ am Tag.“

„Mh, verdammt!“ murmelte ich. „Straßenkunst könnte ich mir vielleicht noch vorstellen.“

„Ok! Und wie würde das aussehen?“ stellte Heiko seine Frage erneut.

„Mit den Lightpois. Aber dann kommt sofort auch wieder der Gedanke, dass ich dafür noch ordentlich lernen muss.“

„Also wenn du dann 2.000€ einnehmen willst, dann brauchst du rund 1.000 Menschen, die dir ein bis drei Euro geben. Wenn wir sagen, dass jeder 50. ungefähr etwas spendet, dann wären es  50.000 Menschen, die an dir vorbeilaufen müssten. Also etwas mehr als in Nevers gelebt haben.“

„Ok, wenn du das so sagst, dann klingt es doch wieder unrealistisch!“ gab ich zu.

„Merkst du, wie schwer du es dem Universum machst, dir etwas zu schenken? Wie soll etwas eintreten, dass du dir nicht einmal vorstellen kannst? Was bräuchtest du überhaupt an Geld um so locker leben zu können, dass du dir keine Gedanken mehr machen würdest? Also um weiter Reisen und deine Ausrüstung beieinander halten zu können, um ab und zu mal Urlaub von der Reise zu machen, um deine Familie zu besuchen und so weiter.“

Ich überlegte und merkte, dass ich keinerlei Vorstellung hatte.

Heiko half mir auf die Sprünge: „Unterscheiden wir jetzt einmal nicht, ob es sich dabei um Geld oder um Warenwert handelt. Also das Essen, was wir geschenkt bekommen, die Unterkünfte, die Ausrüstung von den Sponsoren und so weiter. Dann kann man denk ich von 250€ pro Tag für uns beide zusammen ausgehen, ohne dass wir uns Gedanken machen müssten. Das wären dann für jeden von uns knapp 45.000€ im Jahr. Wie fühlt sich das für dich an?“

„Oha,“ sagte ich, „nach ner ordentlichen Menge! Es baut auf jeden Fall einen Druck auf!“

„Wo ist dieser Druck?“

Ich deutete auf meinen Brustkorb.

„Lunge!“ sagte Heiko, „also in dem Bereich, der für Freiheit steht. Was macht dieses Gefühl von ‚viel’ mit dir? Ich meine es ist ja eigentlich egal, wie hoch die Summe ist. Wenn es dabei um 10€ geht, dann hast du ja das gleiche Gefühl von ‚viel’ oder?“

„Ja, das stimmt!“ gab ich zu.

„Wie ist es, wenn dir jemand Geld schenkt? Dann hast du ja auch keinen negativen Bezug dazu, oder?“

 „Nein!“ sagte ich.

„Und als du damals die Kurse und die Klassenfahrten geleitet hast bei denen du zum Teil 24 Stunden für einen Hungerlohn arbeiten musstest, hattest du ihn auch nicht, oder?“

„Nein!“

„Da ist doch die Frage, warum du Geld annehmen kannst, wenn du es entweder geschenkt bekommst oder aber wenn es wirklich Plackerei und Kampf bedeutet. Warum kannst du es nicht mit etwas verdienen, was leicht ist und dir Freude bereitet. Du könntest zum Beispiel eine riesige Party schmeißen, einen Fetzen Spaß haben und damit 50.000€ verdienen. Es gibt genug Menschen, die das tun. Natürlich meine ich nicht, dass du jetzt die größte Party von Frankreich aufziehen solltest, aber du verstehst was ich meine, oder?“

 
Eine neugierige Haussperling-Dame

Eine neugierige Haussperling-Dame

 

„Ja, ich weiß was du meinst!“ sagte ich etwas zögerlich, „Ich weiß nur noch nicht, was ich damit jetzt anfangen soll!“

„Jetzt hör endlich auf zu denken, du elender Studentenkopf!“ rief Heiko, „Dein Schädel wird dir dafür auch keine Lösung bieten. Das muss dein Herz machen!“

„Toll, aber ich hab doch keine Ahnung, was mein Herz sagt und was mein Verstand!“

„Keine Angst! Das kommt noch! Bis wir in Jerusalem sind, hast du noch gut 10.000 Kilometer vor dir. Das ist genügend Zeit um zu lernen, was deine Herzensstimme sagt!“

Am Abend bekamen wir diesmal eine Unterkunft in einer Herberge, die gleichzeitig als Pilgerunterkunft und als Obdachlosenheim verwendet wurde.

„Spannend, dass wir ausgerechnet heute hier gelandet sind, wo wir gerade über dieses Thema gesprochen haben...“ bemerkte Heiko als wir im Innenhof saßen und ein undefinierbares Bohnengericht in uns hineinspachtelten. „Denk noch einmal darüber nach! Oder besser: Fühl einmal, was es mit dir macht!“

Spruch des Tages: Die Welt ist das, wofür wir sie halten.

 

Tagesetappe: 16,5 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare