Kiefern-Prozessionsspinner

von Franz Bujor
01.04.2014 08:32 Uhr

Langsam gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass wir südlichere Gefilde erreichen. Die Häuser bekommen langsam einen spanischen Flair und im Garten des Pfarrers, der uns gestern aufgenommen hat, stand sogar schon eine Palme. Die Gegend, durch die wir heute wanderten, vermittelte mit ihren trockenen Kiefernwäldern und den Sandböden wirklich den Anschein, als kämen wir den Subtropen immer näher.

 
Zentrum von Mussidan

Zentrum von Mussidan.

 

Mussidan, der Ort, in dem wir übernachtet hatten, lag schon bald hinter uns und mit ihm auch seine Ortsschilder, die bei jedem Lesen unweigerlich einen schrecklichen Ohrwurm hervorriefen: „Muss I dann, muss I dann zum Städtele hinaus, Städtele hinaus ...“ Bereits beim ersten Schild, dass auf die Stadt hindeutete, hatte ich gestern Mittag die Musik im Kopf und seither konnte ich keinen Wegweiser mehr lesen, ohne in Gedanken vor mich hinzusummen. Ich dachte schon ich wär verrückt, aber dann begann Heiko neben mir, das gleiche Lied zu trällern. Wenn wir schon durchdrehen, dann wenigstens beide gleichzeitig.

 
Unsere Unterkunft in Mussidan

Unsere Unterkunft in Mussidan

Nachdem wir Mussidan verlassen hatten, wurden wir Zeuge eines ganz besonderen Naturschauspiels, dass man nur sehr selten zu Gesicht bekommt. Quer über die ganze Straße lag eine Schnur mit einem Durchmesser von etwa 8 Millimetern. Sie fiel mir zwar auf, aber ich maß ihr keinerlei Bedeutung bei, bis mich Heiko mit einem energischen „Stopp!“ zum Stehen brachte.

„Siehst du das?“, fragte er und deutete auf die Schnur.

 
Eine lange Kette an Kieferprozessionsspinnern.

Eine lange Kette an Kieferprozessionsspinnern.

 

Ich schaute noch einmal genauer hin. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich die Schnur ganz langsam bewegte. Dann erst erkannte ich, was es wirklich war. Die Schnur bestand aus lauter kleinen, pelzigen Raupen, die sich alle aneinander gekettet hatten und so in einer langen Prozession über die Straße krabbelten.

„Das sind Eichen-Prozessionsspinner“, klärte mich Heiko auf, als er mein verwirrtes Gesicht sah. „Hast du so etwas schon einmal gesehen?“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Nein! Du etwa?“

„Ja, ein einziges Mal zusammen mit meinem Professor bei der Ausbildung zum Nationalparkranger. Es sind wirklich faszinierende kleine Viecher, aber sie sind saugefährlich. Wenn sie sich bedroht fühlen, können sie ihre kleinen Härchen abschießen. Geraten diese in die Lunge, verätzen sie deine Atemwege und es dauert etwa sechs Monate, bis sich der Körper davon wieder erholt und alle Gifthaare ausgeschieden hat. Halt dir dein Halstuch vors Gesicht, wenn wir an ihnen vorbeigehen!“

 

Als er das gesagt hatte, hielt auch er sich sein eigenes Tuch vor Mund und Nase. Dann nahm er die Kamera, machte ein paar Bilder und ging an der Prozession vorbei. Ich folgte ihm, während ich noch immer fasziniert auf die kleinen Insekten starrte, die im Gleichschritt über die Straße marschierten.

„Gut, dass sie das Ende noch nicht ganz erreicht haben,“ sagte ich, als wir sie hinter uns gelassen hatten. „Sonst hätten wir echt ein Problem gehabt.“

„Ja,“ bestätigte Heiko, „wenn sie die ganze Straße blockiert hätten, hätten wir umdrehen und uns einen anderen Weg suchen müssen. Mit denen ist echt nicht zu spaßen!“

Kieferprozessionsspinner in Frankreich

Sind diese niedlichen, kleinen Raupen gefährlich?

Kaum hundert Meter weiter wurden wir von einem Auto überholt. Da es nur eine Straße gab und die ersten Raupen nun ohne jeden Zweifel das andere Ende der Straße erreicht hatten, konnte das nur eines bedeuten. Die Prozession war zumindest an zwei Stellen unterbrochen und platt gemacht worden. Im Laufe des Tages sahen wir noch viele weitere dieser Prozessionen. Zunächst waren sie noch intakt, doch je später es wurde, desto mehr waren dabei, die durch die vorbeifahrenden Autos zerquetscht worden waren. Einmal wurden wir genau in dem Moment von einem Auto überholt, als wir um eine Raupen-Prozession herumgingen. Ich deutete noch mit dem Finger auf die kleinen Krabbel Wesen und versuchte, den Autofahrer darauf aufmerksam zu machen, aber er zeigte sich absolut ungerührt und fuhr einfach weiter. Es knackte unschön und die dicken Reifen des Jeeps rissen ein dickes Loch in die Raupenkette.

Die Kieferprozessionsspinner blockieren fast die ganze Straße

Die Kieferprozessionsspinner blockieren fast die ganze Straße

Für die kleinen Babyschmetterlinge tat es mir leid, aber gleichzeitig machte ich mir auch etwas Sorgen um mich selbst. Was war, wenn dieser Überfall sie dazu veranlasst hatte, ihre kleinen Gifthaare in der Luft zu verteilen? Dem Autofahrer war das egal, denn durch seine Scheibe kamen sie ja nicht durch. Aber was war mit uns? Ehe ich mich versah, juckte und kratzte es mich überall und ich hätte schwören können, dass ich schlechter Luft bekam als zuvor. Spürte ich da nicht sogar ein leichtes Brennen im Hals? Unsinn, sagte ich mir, das bildest du dir ein! Ich wusste, dass all diese Symptome nichts als ein Placebo-Effekt waren und doch blieb ein Zweifel.

Aber die Gifthaare der Eichen Prozessionsspinner waren nicht das einzige, dass heute in der Luft herumflog. Der Frühling verschoss all seine Geschütze und überall wimmelte es vor Pollen. Meine Augen brannten und juckten und meine Nase war fast ununterbrochen verstopft. Heiko spürte es eher in der Lunge. Sie brannte und kratzte und das Atmen fiel ihm deutlich schwerer als an anderen Tagen. Auch sonst war unsere allgemeine Leistungsgrenze heute niedriger als sonst. Wir fühlten uns träge und erschöpft und hatten deutlich mehr Lust auf Pausen, denn aufs Wandern. Doch für ein gemütliches Picknick war der Wind zu stark. Er blies uns zum Teil mit gut und gerne 70 bis 90 km/h ins Gesicht und machte uns das Gehen noch schwerer. Wenn er von der Seite kam, machte er es teilweise sogar unmöglich grade zu gehen.

Am Abend konnten wir unser Schlaflager wieder einmal im Gemeindesaal einer kleinen Ortschaft aufschlagen. Der Ort war so klein, dass er von Pilgern im Allgemeinen ignoriert wurde und es gab keinerlei Übernachtungsmöglichkeiten. Und schon war der Bürgermeister wieder bereits, uns ohne weiteres in dem Gemeindesaal aufzunehmen. Es ist wirklich spannend, wie das hier gehandhabt wird. Später schauten wir noch einmal nach genaueren Informationen über die Raupen mit dem Hang zum Karnevalsumzug. Wie wir herausfanden, gab es zwei Sorten von Prozessionsspinnern. Die Eichen-Prozessionsspinner sind tatsächlich äußerst gefährlich und ihre Haare können sogar noch Jahre später Verätzungen auslösen, wenn sie auf die Kleidung geraten. Unsere Freunde hier waren jedoch Kiefern-Prozessionsspinner, die zwar genauso behaart sind, ihre Haare jedoch bei sich behalten. Die Kiefern Prozessionsspinner sind also keine Gefahr für Wanderer, sondern nur für Kiefern. Sie fressen ihre Wirtsbäume komplett kahl und ziehen dann als lange Raupe auf die nächste Kiefer. So können sie ganze Schonungen vernichten.

Jetzt war es also endgültig klar, dass meine Symptome reine Hypochondrie waren. Was allerdings nicht daran ändert, dass mir aus irgendeinem Grund die Ohren jucken.

Spruch des Tages: Wer fliegen will, muss den Mut haben, den Boden zu verlassen. (Walter Ludin)

 

Tagesetappe: 16,5 km

Gesamtstrecke: 1791,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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