Tag 1149: Leben als Webnomaden

von Heiko Gärtner
18.03.2017 15:30 Uhr

23.-25.02.2017

Die Tage und Nächte der letzten Woche beginnen bereits jetzt schon wieder ineinander zu verschwimmen. Im außen passiert zur Zeit recht wenig, denn wir befinden uns nun wieder einmal in einer ausgedehnten Agrarregion mit ewig weiten Feldern und kleinen Dörfern die einander ähneln wie ein Ei dem anderen. Auch das Wetter präsentiert sich gerade in einem tristen Einheitsgrau mit viel Regen. Außer, dass es hier relativ kalt und ungemütlich ist, gibt es also nicht allzu viel zu berichten. Das ist aber auch ganz gut so, denn seit einigen Tagen befinden wir uns in der heißen Phase eines neuen Projektes, dass unsere ganze Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch nimmt. Es geht dabei um unser Erlebnisgeschenke-Vergleichsportal, das vor vielen Jahren begonnen wurde und nun endlich fertig gestellt wird. Im Moment kann ich noch nicht allzu viel darüber sagen, außer dass weit mehr Arbeit ist, als wir zunächst vermutet hatten, dafür aber auch weitaus cooler wird, als wir zu träumen wagten. Gleichzeitig hält es auch wieder einmal einige Übungsfelder für mich parat, vor allem was die Bereich Organisation, Strukturierung, Effektivität und vorausschauendes Denken anbelangt. Es ist ein immenser Berg an Daten, Texten, Bildern und Grafiken, die alle sortiert und so abgelegt werden müssen, dass unser Programmierer sie anschließend zuordnen kann. Außerdem haben wir gleich einen ganzen Berg an Kooperationspartnern, die koordiniert werden müssen. Was das anbelangt habe ich gleich wieder einmal mit der Gold-Edition der Patzer angefangen: Ich habe vergessen sie einzuladen, damit sie überhaupt eine Partnerschaft mit uns eingehen können. Oder besser gesagt, ich habe dieser Aufgabe auf meiner To-Do-Liste einen eher niederen Stellenwert gegeben und habe es daher immer weiter hinausgezögert, was natürlich nicht besonders hilfreich ist, weil man so mit Dingen Planen muss, von denen man nicht weiß, ob sie überhaupt funktionieren.

Wie oft an Tagen, an denen man eigentlich viel an Projekten arbeiten will, kamen nun auch in der letzten Zeit häufig Etappen, an denen wir bis spät am Nachmittag durchwanderten, weil wir zuvor einfach keinen Platz finden konnten. Gleich am 23.02. wurden wir von einem Bürgermeister zum nächsten geschickt, bis wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit in einem Dorf landeten, in dem wir im Kinderhort schlafen durften. So abweisend die Bürgermeister zuvor gewesen waren, so herzlich wurden wir hier empfangen. Offensichtlich war er sich bewusst darüber, dass die Einwohner seiner Gemeinde nicht gerade zu den freundlichsten der Welt zählten, denn er kam am Abend extra noch einmal vorbei, um uns etwas zum Essen zu bringen. Das war auch unsere Rettung, denn außer dass ich von einem Grundstück verjagt und von Hunden verbellt wurde, hatte meine eigene Essenssuche hier kaum Erfolg gebracht. Lediglich ein Nachbar hatte freundlich reagiert und uns gleich eine warme Suppe vorbei gebracht. Gemeinsam mit den Vorräten vom Bürgermeister waren wir nun gut versorgt. Vor allem was Süßigkeiten anbelangte. Unter anderen Umständen hätten wir diese wahrscheinlich abgelehnt, aber für heute waren sie die richtige Nervennahrung um eine Nachtschicht mit Bildbearbeitung einzulegen.

Die nächsten Tage verliefen weitgehend gleich. Es regnete, war kalt und ungemütlich und wir bekamen mal früher und mal später einen Platz um weiterarbeiten zu können. Zweimal in einem ganz normalen Veranstaltungssaal, einmal in einem Veranstaltungssaal, der nach frischer Holzpolitur stank (was wahrscheinlich daran lag, dass man hier den Parkettboden gerade frisch poliert hatte) und einmal in einer Art Kloster. Letzteres war eine Notlösung rund 8km abseits des Weges, weil es zuvor einfach unmöglich gewesen war, einen Verantwortlichen von der Stadt aufzutreiben. Das einzige, was wir in den Orten auf unserem Weg angeboten bekommen hatten, war ein alter Caravan-Anhänger mit eingeschlagenen Fenstern gewesen. Es war hier also ein klein wenig ungemütlicher, kälter und schmutziger, unterschied sich sonst aber nicht großartig von unserem Zelt. Leicht frustriert trat ich den Rückweg zu unserem Treffpunkt an, als plötzlich ein Auto neben mir anhielt. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und fragte: „Sind Sie ein Pfarrer oder ein Mönch?“ „Ein Mönch“, antwortete ich und hatte schon die Hoffnung, dass er uns vielleicht einen Schlafplatz anbieten würde. „Dann sollten Sie auf jeden Fall weiter gehen!“ antwortete er stattdessen und fügte mit eindringlicher Stimme hinzu: „Bleiben Sie auf keinen Fall hier! Verstehen Sie? Übernachten Sie hier auf keinen Fall! Die Leute hier sind kriminell und voller Drogen! Alle nehmen Drogen hier! Viele Drogen! Schauen Sie bloß, dass Sie hier verschwinden, bevor es zu spät ist!“

Dazu machte er immer wieder eine Geste, als würde er sich eine Spritze in den Arm setzen und schaute mich mit wild funkelnden Augen an. Es wirkte fast ein bisschen so, als wäre es noch nicht allzu lange her gewesen, dass er sich die besagte Spritze ganz real selbst gesetzt hatte. Noch einmal betonte er, wie wichtig es sei, weiter zu ziehen. Dann rauschte er davon. Nach der seltsamen Begegnung von der ich bis heute noch nicht genau weiß, was ich davon halten soll, beschloss ich meine Herangehensweise noch einmal zu überdenken. Ich war schon wieder dabei, die Schuld für unsere Situation an die Menschen abzuwälzen und mich darüber zu ärgern, dass uns niemand wirklich helfen wollte, obwohl ich keinerlei Bild erzeugt hatte, wie eine Hilfe überhaupt aussehen sollte. Die letzten Nächte waren kurz gewesen, weshalb ich so gut wie nie zum Visualisieren gekommen war. Ich überließ also schon wieder alles dem Autopiloten, ohne eigene Entscheidungen zu treffen und wunderte mich dann, wenn die dinge nicht so liefen, wie ich es gerne hätte. Einen Moment lang hielt ich inne, schloss die Augen und ließ im Geiste das Bild eines freundlichen, netten Menschen entstehen, der zu uns kam und uns eine Übernachtungsmöglichkeit anbot. Einen Platz, an dem wir Internet hatten und an dem wir ungestört für uns sein konnten.

Zunächst schien es nicht, als hätte dies irgendetwas verändert, denn obwohl ich von einigen Einwohnern Tipps und Adressen bekam, die uns vielleicht weiterhelfen konnten, verlief jede Spur am Ende im Sand und kostete nur Zeit. Schließlich gab ich es auf und sah ein, dass wir unser Glück wohl im Nachbarort versuchen müssen. Da tauchte plötzlich eine junge Frau auf dem Platz auf und sprach uns an. Ich hatte sie zuvor definitiv noch nicht gesehen und doch wusste sie genau wer wir waren und was wir brauchten. Sie sei eine Botin, erklärte sie, die man geschickt habe, weil wir einen Schlafplatz suchten. Sie habe deshalb im Kloster der Brüder des heiligen Josef nachgefragt und diese hätten sich bereiterklärt uns aufzunehmen. Dann beschrieb sie uns den Weg anhand einer recht wagen dafür aber hübschen Karte uns verschwand. Das beeindruckendste an der Begegnung war ihre vollkommene Neutralität. Sie hatte keinerlei Interesse an uns oder unserer Reise gezeigt und das ganze Gespräch in einem äußerst geschäftlichen Stil gehalten. Sie war weder freundlich noch unfreundlich gewesen, sondern hatte wirklich die Rolle eines Boten übernommen, ein bisschen so, als wäre Sie von der DHL oder vom Pizza-Bringdienst.

Das Kloster selbst war etwas eigensinnig und befand sich überraschender Weise in einem kleinen Gebäudekomplex, der ganz in der Näher einer wahrhaft beeindruckenden Klosteranlage stand. Während die Mönche und ihre Gäste sich nun also auf dem kleinen Platz tummelten und dabei mit ungemütlichen Außentoiletten und eiskalten Duschräumen vorlieb nehmen mussten, hatte man den Milliarden teuren, mittelalterlichen Klosterkomplex mit seinen unzähligen Räumen, Sälen, Zimmern und Kapellen dem Verfall übergeben. Warum auch immer. Außer uns gab es noch zwei weitere Gästegruppen. Die erste waren eine Familie aus Belgien, die hier für eine Art Retreat hergekommen war. Sie bestand aus zwei Großeltern, einem Vater, einer Mutter und drei kleinen Kindern. Die drei anwesenden gehörten zu einer Gruppe von insgesamt 18 Enkelkindern von 7 Kindern. Die Großeltern hatten viele Jahre lang in Afrika, vorzüglich an der Elfenbeinküste gelebt und waren irgendwann nach Europa zurückgekehrt, um ihren Kindern hier ein Studium zu ermöglichen. Eine Entscheidung, die vor allem der Großvater bitter bereute. „Man muss sich irgendwie damit abfinden, dass es so etwas wie Freundlichkeit und vor allem Lebensfreude auf diesem Kontinent nicht gibt“, meinte er, „jedenfalls nicht im Vergleich zu Afrika.“

Er konnte nicht genau beschreiben, was es war, aber es war die Grundmentalität der Menschen, die er vor allem vermisste und die sein Fazit den Europäern gegenüber sehr traurig werden ließ. Was uns dabei am meisten betroffen machte war, dass er seine europäischen Erfahrungen dabei vor allem aus Frankreich schöpfte, also einem der mitteleuropäischen Länder, in dem die Freundlichkeit der Menschen noch mit am Größten war.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Manchmal vergeht die Zeit wie im Flug.

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 32 km Gesamtstrecke: 21.068,27 km Wetter: bewölkt, kalt und regnerisch Etappenziel: Kinderhort, 17130 Chamouillac, Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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