Tag 1150: Leben im Caravan

von Heiko Gärtner
18.03.2017 16:11 Uhr

Fortsetzung von Tag 1149:

Die zweite Gästegruppe war ein Pfadfindertrupp, der sich hier versammelte hatte, um zukünftige Fahrten und Programme zu planen. Bereits im Wald vor dem Kloster hatten wir einen von ihnen angetroffen, der nach seien Kameraden gesucht hatte. Als wir ihn daraufhin nach dem Kloster fragten, konnte er uns nicht sagen, wo es sich befand. Erst als wir hier auf seine Gleichgesinnten trafen wurde uns klar, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen seinem Ausdruck allgemeinen Verloren-Seins und dieser fehlenden Ortskenntnis gab. Unter den Anwesenden Pfadfindern konnten wir ihn später nicht mehr ausmachen, was vielleicht kein allzu gutes Zeichen ist. Seine Kollegen schienen sich hingegen keine großen Sorgen zu machen und gingen munter all den Tätigkeiten nach, die man als Pfadfinder eben so macht. Im Kreis im Garten herum stehen und singen zum Beispiel. Oder ausgefallene Knoten üben. Oder ein Kaminfeuer in der Bibliothek anzünden, das so dermaßen raucht, dass man Angst hat daran zu ersticken. Aber auch wenn sie kein Feuer machen konnten waren es doch sehr liebe und freundliche Jungs, die man einfach gern haben musste.

Unsere Gastgeber hingegen waren tendenziell etwas unterkühlt und sogar noch neutraler als die Botin, die uns hier her gelotst hatte. Sie beschränkten den Kontakt auf die Zuweisung unseres Zimmers und (gezwungenermaßen) das Zeigen der Bibliothek ein. Am liebsten wäre es ihnen gewesen, wenn wir uns draußen im Hof in die Kälte gesetzt hätten, um das Internet zu nutzen, aber in Anbetracht des Wetters sahen sie schließlich doch ein, dass dies unzumutbar war. Eine Versorgung mit Essen war aber anders als Angekündigt nicht angedacht. Gut also, dass wir im Wald zuvor ein großes Feld mit Bärlauch entdeckt hatten, aus dem wir uns eine Bärlauchbutter machen konnten und dass uns die Pfadfinder freundlicher Weise mit Baguette aus ihren Lagerbeständen versorgten.

So neutral und unspektakulär diese Gegend auf der einen Seite ist, so kontrastreich ist sie auf der anderen. Nicht in Bezug auf die Natur oder das, was es hier zu sehen gibt, denn das gibt es beides nicht. Aber in Bezug auf die Lebensweise der Menschen. Nirgendwo auf unserer ganzen bisherigen Reise haben wir so viele Wohncontainer, Bauwagen, Campervans, Caravans und Wohnmobile gesehen, die fest an einem Ort standen und komplett als Wohnung genutzt wurden.

Teilweise standen sie in den Ortschaften ganz normal auf den Grundstücken, wie normalerweise die Häuser. Manchmal befanden Sie sich auch in Hinterhöfen, auf Parkplätzen oder unter alten, baufälligen Scheunendächern. Wieder andere waren im Wal versteckt und wirkten nicht einmal so, als gäbe es hier überhaupt eine offizielle Genehmigung oder dergleichen. Und teilweise gab es sogar richtige Wohnwagen-Dörfer in denen ganze Gruppen zusammen auf einem Platz lebten. Letztere erinnerten uns ein bisschen an die Sinti und Roma Orte, die wir in Bulgarien gesehen hatten. Nur dass diese hier ganz normal von Franzosen bewohnt wurden, was aber nichts an der legeren Einstellung gegenüber Ordnung, Müllvermeidung und Ästhetik änderte.

Auf der einen Seite waren wir immer wieder fasziniert und angetan von diesem Lebensstil, doch gleichzeitig hatten wir nie das Gefühl, dass es dabei um echte Freiheit ging. Die Plätze lagen meist an unmöglichen Orten, direkt an den Hauptstraßen und die Menschen wirkten meist eher verloren und ausgebrannt als frei und unabhängig. Am frühen Vormittag kamen wir einmal an einem Wohntruck vorbei, der auf einem Parkplatz stand und sogar etwas in die Richtung ging, wie wir uns unseren eigenen für Amerika vorstellen. Als wir vorüber gingen, kam der Besitzer heraus, schaute uns aus glasigen Augen an und begann sofort auf unangenehme Weise loszugröhlen. Er wollte nicht unfreundlich sein, sondern sprach dabei sogar eine Einladung aus, aber er war so unangenehm, dass wir nur versuchten, so schnell wie möglich weiter zu kommen. Die ganze Begegnung wirkte schon wieder so platziert, dass sie fast nur eine Illusion vom Gegenspieler sein konnte. So nach dem Motto: „Lasst lieber die Finger von einem mobilen Heim, denn dann kommt am Ende das dabei heraus!“

Die Unterschiede zwischen den Wohnwagen-Bewohnern waren bereits beachtlich. Es gab reine Verschläge in denen sich nicht einmal die Kakerlaken wohl fühlen konnten und es gab kleine, mobile Individualheime, die einen weitaus besseren Eindruck machten, als viele der kleinen lieblos hin gezimmerten Häuser in ihrer Nachbarschaft. Insgesamt betrachtet konnte die Schere zwischen Arm und Reich aber kaum weiter auseinander gehen als hier. Es war keine Seltenheit, dass wir an einem verramschten Bauwagenplatz vorbei kamen und direkt danach an einem Anwesen, das sogar alte Könige vor Neid erblassen ließ. Es waren keine Gärten, es waren Parkanlagen in Privatbesitz, in deren Mitte sich ein einsames Herrenhaus befand, vor dem mehrere Luxuswagen standen.

Spannend war jedoch, dass sich der gefühlte Wohlstand bei den Menschen beider „Klassen“ nur sehr wenig unterschied. Wenn ich abends herum ging und nach etwas zu essen fragte, dann lautete die Antwort hier wie da in den meisten Fällen, dass man leider nur wenig bis gar nichts im Haus habe und daher auch nicht viel Teilen könne. Natürlich waren dies zum großen Teil Ausflüchte aber sie spiegelten doch sehr stark die Selbstwahrnehmung der Menschen wieder. Wenn wir etwas bekamen, dann waren es fast immer Konserven mit Fertiggemüse oder gar Fertiggerichten für die Mikrowelle und das durch die Bank hinweg, egal wie arm oder reich ein Anwesen wirkte. Das Gefühl, im Überfluss zu leben und daher auch mit Freude etwas gutes verschenken zu können, gab es nur sehr selten. Vor allem, wenn man dies noch einmal mit dem Balkan oder Moldawien verglich, war dies kaum zu erklären. Denn obwohl die Menschen dort oft fast nichts hatten und obwohl wir immer wieder das gleiche bekamen, gab es doch nie ein Gefühl von Mangel. Klar war es nicht ideal, sich sein ganzes Leben nur von Tomaten und Gurken zu ernähren, aber sie waren immerhin frisch gewesen. Auch hier aßen die Menschen überwiegend das gleiche, nur dass sie es nun auch noch aus der Dose in den Teller kippten und dann in die Mikrowelle warfen. Ob das wirklich so viel mehr Lebensqualität ist, wie in den armen, osteuropäischen Ländern, die wir oft so mitleidig betrachten, wage ich zu bezweifeln.

Spruch des Tages: Frage dich selbst: Will ich lernen, das hässliche aushalten zu können, oder will ich lernen, wie ich es mir überall schön machen kann?

Höhenmeter: 90 m Tagesetappe: 15 km Gesamtstrecke: 21.083,27 km Wetter: bewölkt, kalt und regnerisch Etappenziel: Veranstaltungssaal, 17500 Ozillac, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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