Strandtourismus

von Franz Bujor
20.04.2014 00:03 Uhr

Da es wieder weit nach Mitternacht war, bis wir ins Bett kamen, ließen wir uns heute in der Früh etwas mehr Zeit zum Aufstehen als sonst. Die freundliche Dame, der wir den Schlüssel übergeben sollten, hatte uns ihre Nummer gegeben und gemeint, dass wir ihr bescheid sagen sollen, wann immer wir aufbruchbereit wären. Man muss jedoch dazusagen, dass es zum Reisessen am Abend auch einige Gläser mit dem sprichwörtlichen Blut Jesu gegeben hatte und so konnte sich die Frau heute morgen nicht mehr ganz an ihre Aussage erinnern. So kam es, dass sie um Punkt 9:00 Uhr auf der Matte stand, während wir uns gerade aus unseren Schlafsäcken quälten.

„Wir brauchen 10 Minuten, dann sind wir soweit“, kündigten wir ihr an. Das hatte natürlich zur Folge, dass wir dann auch wirklich innerhalb von 10 Minuten alles fertig haben mussten. Der Tag begann also schon mit einem leichten Stressfaktor.

 
Der Strand auf dem Weg nach Saint Jean de Luz

Der Strand auf dem Weg nach Saint Jean de Luz.

 

Unser Frühstück verlegten wir aus diesem Grund auf einen Platz im Freien.

Der Weg nach Saint Jean de Luz war weitgehend entspannt. Nur kurze Passagen führten an Straßen entlang. Der größte Teil hingegen bestand aus gut ausgebauten Fahrradwegen, die sich entlang der Küste auf und ab schlängelten. Meine Reparaturaktion am Abend hatte ihre Wirkung erzielt. Mein Wagen gab keinen Ton von sich. Es war so einfach gewesen und so naheliegend, dass ich es fast nicht glauben konnte, dass ich nicht von selbst auf die Idee gekommen war.

In der letzten Bucht vor Saint Jean de Luz wand sich der Weg eine Anhöhe hinauf, von der man auf die Steilküste hinunterschauen konnte. Wir lehnten uns an die Brüstung und merkten erst ein bisschen zu spät, dass wir einer jungen Fotografin direkt ins Bild gelaufen waren.

Als wir die Anhöhe erklommen hatten, lag auf der anderen Seite die Bucht von Saint Jean de Luz vor uns. Der Anblick war überwältigend und erschreckend zugleich. Es war eine wunderschöne Bucht, mit weißen Sandstränden, die von steilen Felsen eingefasst wurden. Und dahinter reihte sich ein Hotelbunker an den nächsten. Vom Meer her zogen tiefschwarze Gewitterwolken herauf, die bedrohlich näher kamen.

„Ich glaube, wir sollten uns mit der Schlafplatzsuche etwas beeilen!“ sagte Heiko mit einem besorgten Blick in Richtung Unwetter, „Ich glaube, wir haben maximal noch eine Stunde, bis es hier richtig zum Schütten anfängt.“

Panorama von Saint Jean de Luz

Panorama von Saint Jean de Luz.

 

Leider hatten wir weder eine Karte der Stadt noch einen blassen Schimmer, wo es hier Schlafmöglichkeiten für uns geben könnte.

„Hey,“ rief Heiko in die Überlegungen hinein, „dort ist die junge Frau, die wir gerade beim Fotografieren gestört haben. Sie sieht wirklich sympathisch aus und ist vielleicht aus der Gegend. Meinst du wir sollten sie fragen?“

„Warum nicht!“ sagte ich und ging zu ihr herüber.

Saint Jean de Luz

Saint Jean de Luz.

 

Sie kam tatsächlich mehr oder weniger aus der Nähe. Zumindest, wenn man ein Auto hatte. Dann waren es etwa zwei Stunden. Zu Fuß damit ungefähr sechs bis acht Tage. Sie selbst konnte uns daher keinen Schlafplatz anbieten. Sie hatte aber einen Stadtführer, mit dessen Hilfe wir herausfanden, wo sich die Kirche und die Touristeninformation befanden. Da wir den selben Weg hatten, setzten wir unsere Wanderung von nun an gemeinsam fort. Unsere neue Stadtführerin hieß Florence und war ebenfalls zum ersten Mal hier. Sie studierte Management und arbeitete nebenbei in einer Fabrik. Als wir das Stadtzentrum erreicht hatten, setzten sich Heiko und sie auf eine Bank, während ich mich auf den Weg in die Touristeninformation machte. Sie erzählte Heiko, dass sie bereits 10 Mal aufgrund eines Jobwechsels hatte umziehen müssen. Jedes Mal hatte sie sich einen komplett neuen Freundeskreis aufgebaut, eine neue Wohnung eingerichtet und sich neu eingelebt. Doch die Arbeitslage in Frankreich war so schwierig, dass es nie lange dauerte, bis sie alles wieder hatte aufgeben müssen. Entweder sie wurde gekündigt oder versetzt, doch der Effekt blieb der Selbe. Schließlich hatte sie die Nase voll und beschloss, ihr Leben zu ändern. Aus diesem Grund hatte sie mit dem Studium angefangen. Wenn sie es abgeschlossen hatte, wollte sie Frankreich verlassen und ihr Glück in einem anderen Land versuchen. Kannada vielleicht, weil es ein schönes Land war und weil man dort sowohl Englisch als auch Französisch sprach.

 
Straßenkünstler in Saint Jean de Luz

Straßenkünstler in Saint Jean de Luz

 

„Was würdest du machen, wenn du überhaupt nicht Arbeiten müsstest?“ fragte Heiko, „Wenn Geld keine Rolle spielen würde und wenn du alle Möglichkeiten der Welt offen hättest?“

Florence überlegte eine Weile. Dann sagte sie: „Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich keine Ahnung habe. Ich war die ganzen letzten Jahre so sehr im Berufsstress, dass ich nie Zeit hatte, darüber nachzudenken, was ich eigentlich vom Leben will!“

„Hast du eine Passion?“ fragte Heiko weiter, „Eine Leidenschaft, oder irgendetwas was dich so sehr antickt, dass d es am Liebsten den ganzen Tag machen würdest?“

„Auch das weiß ich nicht!“ antwortete sie, „ich kann dir sagen, was ich gerne mache. Klavierspielen zum Beispiel oder wandern in den Bergen. Aber eine wirkliche Passion ist das glaube ich beides nicht.“

Als Heiko mir später von seinem Gespräch mit Florence erzählte, fügte er am Ende hinzu: „Ist es nicht krass, wie gut dieses System funktioniert? Dass du wirklich keine Chance hast auszubrechen, weil du nicht einmal mehr die Zeit hast, um dich zu besinnen, was du überhaupt willst? Ich meine, es ist ja nicht so, dass wir das nicht kennen würden, aber nochmal zu sehen, dass es wirklich überall so ist, macht mich wirklich fertig.“

In der Zwischenzeit hatte ich bei meinem Stadtrundgang einige Dinge herausgefunden. Zum einen, dass es wirklich schwer war, sich eine Pizza zu erfragen, weil jedes Restaurant so überfüllt war, dass man fast kein Bein an die Erde bekommen konnte. Dementsprechend gestresst, genervt und überarbeitet war das Personal, was nicht dazu beitrug, dass sie besonders offen für die Geschichte zweier mittelloser Weltreisenden waren. Dafür gab es aber unzählige Imbissbuden an denen man ohne Probleme Sandwiches oder Crépes bekommen konnte. Die Touristeninformation hingegen war dem Massentourismus hier vollkommen angepasst. Man bekam eine Fließbandabfertigung, nach der man fast genauso schlau war wie zuvor. Hier gäbe es nichts, im nächsten Ort könne es vielleicht etwas geben, aber dass wisse sie nicht und wenn wir einen Pfarrer suchten, dann fänden wir ihn wahrscheinlich am ehesten in der Kirche. Vielen Dank dafür!

Letztere Aussage war aber zumindest richtig. Als ich mich in der Kirche umsah, entdeckte ich einen gehetzten Pfarrer, der mit seiner Robe über dem Arm und einem Strauß Blumen gerade dabei war in einer Geheimtür unter dem Altar zu verschwinden. „Entschuldigen Sie!“ rief ich und erklärte ihm unsere Geschichte.

„Komm mit!“ sagte er dann und bat mich in den Raum unter dem Altar. Es war ein kleiner Saal ganz aus Holz in dem alles parat stand, was der Gottesdiener für seine Messe brauchte. Normalerweise war Fremden der Zutritt zu diesem Bereich absolut untersagt und ich freute mich sehr darüber, das Privileg zu haben, ihn sehen zu dürfen.

Der Hafen von Saint Jean de Luz

Der Hafen von Saint Jean de Luz

Der Pfarrer hatte leider keine Zeit, weil er die Ostermesse vorbereiten müsse und durch die Feiertage war es auch absolut nicht möglich, hier jemanden aufzunehmen. Es gäbe aber eine Einrichtung am Südlichen Ende der Stadt in der ein paar Mönche lebten. Dort könnten wir es versuchen. Er drückte sein Telefon einem Assistenten in die Hand und bat ihn, die Mönche anzurufen. Leider hob niemand ab und so stand ich weniger Minuten später mit der Nummer eines Mönchs und der Adresse des Klosters wieder auf der Straße. „Ruf auf jeden Fall vorher an,“ hatte mir der Assistent des Pfarrers noch einmal deutlich mitgeteilt: „Wenn du einfach hingehst und Anklopfst, werden sie euch sicher abweisen!“

Als ich Heiko und Florence von meinen Ergebnissen berichtet hatte, versuchte Florence ein weiteres Mal die Mönche zu erreichen. Doch wieder blieb der Erfolg aus. Wir aßen den Schokoladencrépes den ich geschenkt bekommen hatte und beschlossen dann, die Warnung des Geistlichen zu ignorieren und den Mönchen einen Besuch abzustatten. Wie sich herausstellte, war es überhaupt kein Problem dort einfach aufzukreuzen. Heute war es sogar besonders einfach, weil wir ja eine Dolmetscherin dabei hatten. Zum ersten Mal seit wir Frankreich betreten hatten, hatten wir eine Dolmetscherin dabei und das an unserem vorerst letzten Tag in diesem Land. Morgen würden wir mit Irun die erste spanische Stadt erreichen.

Tobi wird von der Welle erwischt.

Tobi wird von der Welle erwischt.

Nachdem wir unsere Wagen verstaut hatten, machten wir mit Florence noch eine weitere Stadtführung. Diesmal auf die andere Seite der Bucht. Dort besichtigten wir ein kleines Fort, dass direkt in den Hafeneingang gebaut wurde. Von dort aus konnte man auf der Hafenmauer ins Meer hineinlaufen. Links von uns schäumte das Meer und die Wellen spritzten in die Höhe. Rechts war die Bucht vollkommen still. Ein paar Mal schossen die Wellen so stark über die Mauer, dass wir eine ordentliche Dusch abbekamen. Das heißt, ich bekam eine ordentliche Dusche ab. Florence konnte rechtzeitig fließen und Heiko erwischte den einzigen trockenen Punkt auf der Mauer, so dass er von dort aus Fotos machen konnte. Ich war klatschnass aber glücklich über das Spiel mit den Wellen. Das Meer hat schon eine ganz besondere Kraft. So wunderschön und gleichzeitig so zerstörerisch. Wir kehrten wieder in die Stadt zurück und durchwanderten sie bis zu dem Punkt an dem wir Florence kennengelernt hatten. In der Dämmerung sah die Stadt noch einmal vollkommen anders aus. Ruhiger, stiller und bei weitem anmutiger. Noch einmal schauten wir auf das weite Meer hinaus. Es war unmöglich sich vorzustellen, dass die nächste Küste, an die die Wellen auf der anderen Seite schlugen, die von Amerika war.

Für Florence und uns war es nun Zeit, Abschied zu nehmen. Sie hätte eigentlich schon vor Stunden nach Bayonne fahren wollen, um sich dort auf dem Stadtfest mit ihren Freunden zu treffen.

Auf dem Heimweg zu unserem Kloster gingen wir noch einmal die Eindrücke des Tages durch. Saint Jean de Luz war ebenso wie zuvor Biaritz eine Stadt der absoluten Reizüberflutung gewesen. Auf der einen Seite war sie faszinierend, mit ihrer außergewöhnlichen Lage in der Bucht, mit den beeindruckenden Kirchen und den alten Burgen und Friedhöfen. Doch auf der anderen Seite war es auch brutal, was der Tourismus hier angerichtet hatte. Von der Anhöhe wanderten wir auf der Küstenpromenade zurück ins Zentrum. Links neben uns befand sich die Hauptstraße und dahinter waren die Bettenburgen mit ihren 10 bis 15 Etagen.

Der Leuchtturm von Saint Jean de Luz

Der Leuchtturm von Saint Jean de Luz.

 

Der Strand war das größte Kapital dieser Stadt und nun hatte man ihn komplett eingemauert. Am Mittag war Ebbe gewesen doch nun, da die Flut ihren Höhepunkt erreicht hatte, war der Strand vollständig verschwunden. An der einzigen Stelle, die noch sichtbar war, hatte man einen riesigen Berg Sand aufgehäuft. Wenn das Meer zu viel Strand abgetragen hatte, konnte man ihn damit wieder erneuern. Doch das war nur deshalb nötig, weil man zuvor die Promenade und die Hotels gebaut hatte. Ohne sie würde der Strand noch weit ins Landesinnere verlaufen. Wie konnte es sein, dass man mit dem Tourismus genau das Zerstörte, dass die Touristen überhaupt hier herbrachte? Doch nicht nur der Strand litt unter den Menschenmassen, die für ihren Urlaub hier abgeschwemmt wurden. Auch von der eigentlichen Stadt war fast nichts mehr übrig. Wo waren die Ruhe und die Erholung, für die man hierher kam? Die Hauptstraße verlief direkt am Strand. Dahinter kam dann die Nationalstraße und dahinter wiederum die Autobahn. Nur der Stadtkern war frei von Autos, doch hier drängten sich so viele Menschen durch, dass es sogar noch lauter war als an den Straßen. Wie konnte es sein, dass der ruhigste Ort der Stadt direkt am Meer war? Dort wo die Wellen gegen die Steine schlugen. Es war noch deutlich zu spüren, dass Saint Jean de Luz einmal ein Ort gewesen sein musste, an dem man Heilung, innere Einkehr und Entspannung finden konnte. Es war ein kraftvoller Platz gewesen, an dem man die Natur mit all ihrer Kraft hatte spüren können. Genau das war es gewesen, was die Menschen hier her geführt hatte, doch je mehr hier ihr Seelenheil suchten, desto mehr wurde der Platz zerstört. Wo war die baskische Tradition, auf die die Einheimischen so stolz waren? Wo war das Paradies, von dem alle sprachen? Wir haben Ostersamstag und schon jetzt ist die Stadt komplett überlaufen. Wie musste es erst im Sommer sein Die Strände waren so klein, dass man sich wie Sardinen in einer Dose zusammenpferchen musste, wenn man sich an den Strand legen wollte. Wieso taten Menschen dies? Zur Sommerzeit war es hier am teuersten und gleichzeitig am vollsten. Warum arbeiten Menschen das ganze Jahr über, um sich dann ihren hart verdienten Jahresurlaub an so einem Ort zu verbringen, wo sie sich noch mehr stressten, als in ihrem Alltag? Zur heißesten Zeit des Jahres legten sie sich dann an einen Strand, an dem sie sich nicht einmal umdrehen konnten, ohne jemanden dabei zu treten und ließen sich so sehr durchbraten, dass ihnen die Haut abpellte. Dafür gaben sie dann auch noch das Geld aus, dass sie sich in mühseliger Arbeit angespart hatten? Hatte das wirklich noch etwas mit Erholung, Entspannung und Heilung zu tun? Das klang nicht logisch in unseren Ohren. Oder ging es nur noch darum, Fotos von den wenigen freien Stellen zu machen, die es noch gab um hinterher seinen Freunden und Bekannten zeigen zu können, wie schön doch der Urlaub war?

Selbst jetzt in der Nacht war die Stadt noch immer laut und hektisch. Im Sommer würde sie wahrscheinlich niemals zur Ruhe kommen. Wir ließen die Innenstadt hinter uns und erreichten das Kloster. Von hier aus waren es nur noch wenige Meter bis zur Autobahn. Eine ruhige Nacht würde es also auch hier nicht werden. Ob das wohl im Sinne der Mönche war, die diesen Ort vor langer Zeit gegründet hatten?

Spruch des Tages: In der Ruhe liegt die Kraft

 

Tagesetappe 28 km

Gesamtstrecke: 2177,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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