Tag 1094: Die Kirche in Frankreich

von Heiko Gärtner
10.01.2017 03:25 Uhr

27.12.2016

Heute war der Wind so stark, dass wir kaum noch gegen ihn anwandern konnten. Da traf es sich gut, dass wir bereits nach 6km einen Pfarrer trafen, der uns in seine Pfarrei einlud. Es lebte gemeinsam mit einem Kollegen in einem ehemaligen Kloster und war für insgesamt 45 Gemeinden verantwortlich. Am Nachmittag kam seine ganze Familie zu Besuch, was ihm einiges an Stress bereitete, da er alle bekochen musste. Als am Abend alle gegangen waren, setzte er sich erschöpft zu uns und erzählte uns einige spannende Details über das Leben als Pfarrer in Frankreich. Dass es hier ein vollkommen anderes System gab, als in Italien, Deutschland oder Österreich. Bislang hatten wir jedoch nie so wirklich verstanden, woran das lag.

In Italien gab es eigentlich nur die Kirche, die irgendetwas zu sagen hatte. Rund der halbe Staat gehört dem Vatikan und auch wenn jeder Ort einen Bürgermeister hat ist es in der Regel der Pfarrer, der das Oberhaupt in der Gemeinde darstellt. Ohne seine Einwilligung geht nichts und wenn irgendjemand irgendetwas braucht, ist er stets die erste Adresse. Mönch oder Pfarrer zu sein bedeutet hier zudem, dass man in einem wirtschaftlich schwachen Land einen sicheren und gut bezahlten Job hat, aus dem man nicht gekündigt werden kann und der zudem immer ein hohes Ansehen mit sich bringt. Im deutschsprachigen Raum ist das System subtiler. Die Kirche hat bei uns bei weitem nicht die Präsenz wie in Italien, doch auch hier gibt es ein fest installiertes und gut ausgeklügeltes System. Offiziell sind Kirche und Staat bei uns getrennt, aber trotzdem arbeiten beide Hand in Hand. Die Kirche darf eigene Steuern eintreiben, von denen sie sich finanzieren kann und die hohen Amtsträger haben darüber hinaus sogar einen Beamtenstatus. Selbst wenn ich aus der Kirche austrete, zahle ich über die regulären Steuern also noch immer das Gehalt der Bischöfe und Kardinäle. Auch dies führt dazu, dass man als Pfarrer einen relativ sicheren und gut bezahlten Job hat, bei dem man sich über seine Existenz keine Gedanken machen muss. In Frankreich hingegen sieht es vollkommen anders aus. Hier gibt es keine Kirchensteuer und auch sonst keine Zuschüsse vom Staat an die Kirche. Das Geld, das die Kirchendiener also bekommen, muss irgendwie auf andere Weise erwirtschaftet werden und dies ist einer der Gründe, warum es heute so gut wie keine Pfarrer mehr gibt. Trotz der geringen Zahl, ist das Gehalt, dass man als Geistlicher bekommt rechtlich betrachtet aber noch immer weit unter dem Existenzminimum. Frankreich hat einen Mindestlohn von 1100€, den jedes Unternehmen seinen Angestellten zahlen muss. Ein Pfarrer hingegen verdient gerade einmal 600€ im Monat, also etwas mehr als die Hälfte. Über die Kollekte in der Messe kommen im Schnitt noch einmal 300€ als Spenden für den Pfarrer hinzu, womit er bei 900€ landet, was aber noch immer deutlich unter dem Minimum liegt. Damit zählen die Pfarrer in Frankreich relativ betrachtet zu den ärmsten weltweit. Unser Gastgeber brachte es noch einmal ziemlich auf den Punkt. Im letzten Sommer hatte sein Kollege einen Motorradunfall, der ihn für mehrere Monate außer Gefecht setzte. Dadurch gab es nun also nur noch einen Pfarrer für 45 Gemeinden, der aber nicht nur für die Gottesdienste, Hochzeiten, Beerdigungen und Seelsorgestunden verantwortlich ist, sondern auch für die komplette Jugendarbeit, die Koordination aller festen und ehrenamtlichen Mitarbeiter, die Planung, Durchführung und Nachbereitung sämtlicher Veranstaltungen, die Betreuung kirchlicher Altenheime, Schulen und Kindergärten und für alles, was sonst noch anfällt. Der heutige Abend war der erste freie Abend den er sich in diesem Jahr gönnen konnte und bereits jetzt wartete oben in seiner Wohnung schon wieder ein dicker Stapel mit Dokumenten, die durchgearbeitet werden wollten. Trotzdem reichte das Geld nicht einmal, um sich ein neues Auto zu kaufen, falls sein jetziges den Geist aufgeben sollte. „Es ist auch eine Art, um ins Vertrauen zu kommen!“ meinte er, „Ich fühle mich nicht arm, denn ich habe alles, was ich brauche. Wenn ich etwas benötige, dann bete ich darum und es kommt zu mir!“

Auf diese Weise hatte er auch das Auto bekommen, dass er jetzt in diesem Moment fuhr. Er hatte gebetet, vertrauensvoll losgelassen und in seiner Gemeinde hin und wieder erwähnt, dass er einen Van brauchte, um die Jungendfreizeiten durchführen zu können, die er veranstaltete. Nach kurzer Zeit war jemand auf ihn zugekommen und hatte ihm einen Wagen geschenkt, den er selbst nicht mehr fuhr. So in der Richtung lief es immer.

Durch die Erzählung verstanden wir nun auch, warum so viele Kirchengebäude verfallen waren und warum man fast nie eine offene Kirche fand. Der Staat hatte die Kirche in Frankreich in den letzten 200 Jahren gleich zwei Mal enteignet. Fast alles, das man der Kirche zuschrieb gehörte also dem Staat. Von den 45 Kirchen, die in der Gemeinde unseres Gastgebers lagen, waren gerade einmal zwei im Besitz der Kirche. Alle anderen gehörten den Städten. Nicht anders war es mit den Pfarrhäusern, den Kindergärten und sogar mit dem kompletten Inventar. Die Pfarrer durften es nutzen, aber nichts gehörte ihnen. Und selbst das Nutzungsrecht war keine Selbstverständlichkeit. Nach dem zweiten Weltkrieg waren es vor allem Nonnen, Pfarrer und Mönche gewesen, die sich um die Verwundeten und um die zerrissenen Familien kümmerten. Dies hatte ihnen die Sympathie des Volkes eingebracht und so hatten sie die französischen Bürger dafür eingesetzt, der Kirche zumindest einen Teil der Rechte zurückzugeben. Seither gab es ein Gesetz, dass die Städte dazu verpflichtete, die Kirchengebäude mit allem was dazugehörte auch für kirchliche Zwecke verwenden zu lassen und alles zumindest einigermaßen in Stand zu halten. Je nachdem wie motiviert die Gemeinden dabei waren, gab es daher einige schöne und einige arg verfallene Kirchen.

Das Kloster hier hatte dabei auch eine besondere Geschichte. Es war von Nonnen erbaut worden, die später durch die staatliche Enteignung vertrieben wurden. Jahre später kehrten die Nonnen zurück und bauten das inzwischen verfallene Gebäude wieder auf. Kurz darauf kam es zu einer erneuten Enteignung und die Nonnen mussten nach Belgien ins Exil auswandern. Als sie wieder zurückkehrten, mussten sie ihr eigenes Gebäude vom Staat abkaufen. Zu einem stolzen Preis, denn es war ja erst frisch renoviert worden und daher in einem guten Zustand. Ähnlich erging es auch vielen anderen Klöstern im Land. Bis heute gibt es hier auf dem Klostergelände zwei Kirchen, von denen aber nur eine dem Kloster und eine dem Staat gehört. In den letzten Jahrzehnten waren es dann Mönche gewesen, die hier gelebt hatten, doch vor sechs Jahren waren auch sie im Rahmen eines Einsparungsprogramms ihres Ordens abberufen und mit einem anderen Kloster zusammengelegt worden. Seither standen die Gebäude größtenteils leer und wurden nur noch zum Teil von den beiden Pfarrern bewohnt. Einen anderen Teil hatten sie Sozialflüchtlingen aus Serbien zur Verfügung gestellt.

Spannend war aber auch, was dieses System für eine Auswirkung hatte. Denn in Frankreich war uns nicht nur aufgefallen, dass es wenig kirchliche Einrichtungen gab, sondern auch, dass hier noch die größte Tiefe in den Klöstern zu finden war. In Italien waren die Mönche meist vor allem Hausverwalter gewesen. In Deutschland und Österreich waren es in erster Linie Touristenmagnete oder Seminarhäuser. Hier aber wurde niemand Mönch, Nonne oder Pfarrer, weil er sich davon ein leichtes Leben erhoffte, sondern weil er eine Überzeugung hatte. Der Kollege unseres Gastgebers hatte eine Zeit lang in der Schweiz gelebt und dort als Pfarrer gearbeitet. Finanziell war es ihm hier natürlich bei weitem besser gegangen, aber langfristig stellte er fest, dass ihm das Schweizer System noch weitaus weniger zusagte, als das Französische. Denn das Geld gab es nicht einfach so. Die Kirche wollte hier verdienen und damit sie das konnte, musste sie sich darauf verlassen, dass ihre Pfarrer die Knete an Land zogen. Zu seinem Entsetzen bekam der französische Austauschpfarrer daher eine Art Katalog mit Dingen, die er in der Messe sagen bzw. nicht sagen durfte. Er konnte nicht frei sprechen, so wie ihm der Schnabel gewachsen war. Er durfte nicht das predigen, was ihm sein Herz und seine Überzeugung sagten. Er musste sich an die Themen und Meinungen halten, die die Schäfchen hören wollten und auf die sie besonders spendabel reagierten. Das war für ihn nicht mit seiner Passion vereinbar gewesen und so war er schließlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt.

Auch unser Gastgeber hatte einige Auslandserfahrungen sammeln können. Während seines Studiums hatte er einige Monate in Indien gelebt, in einer Gemeinde mit gut 17 Millionen Einwohnern. Unter all diesen Menschen war er nicht nur der einzige Christ sondern auch der einzige Weiße gewesen und viele seiner Mitmenschen hatten zuvor noch nie einen Weißen gesehen. Für ihn war diese Zeit eine starke Glaubensprüfung gewesen, da er nun in seiner Ausbildung keinen Mentor mehr hatte und unter all dem Fremden irgendwo seine eigene Identität wahren musste. Am liebsten war er damals in die Moschee zum Beten gegangen, da er hier noch die größte Verbindung gespürt hatte.

Spruch des Tages: Ob man da heutzutage als Gott in Frankreich noch so gut lebt?

Höhenmeter: 70 m Tagesetappe: 11 km Gesamtstrecke: 20.016,27 km Wetter: sonnig bei leichtem, eisigen Wind Etappenziel: Veranstaltungssaal, 26230 Chamaret, Frankreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare