Tag 1106: Trotzhaltung

von Heiko Gärtner
04.02.2017 01:58 Uhr

10.01.2017

Die ganze Nacht lang träumte ich von Tattoos und anderen Körperveränderungen und wachte davon immer wieder angsterfüllt und schweißgebadet auf. Morgens um kurz nach sieben wurden wir dann mit lauter Klaviermusik aus einem Lautsprecher in unserem Zimmer geweckt. Hier in der Gemeinde war es die alltägliche Methode um die Mitglieder und Gäste aus den Federn zu werfen. Unser Fall war es allerdings nicht ganz, vor allem nicht um diese Urzeit. Doch nach der aufgewühlten Nacht war der musikalische Glockenschlag eine passende Einleitung für eine ganze Kette weiterer Ereignisse mit einer klaren Botschaft für mich. Zunächst verpassten wir die richtige Abzweigung und wanderten ein gutes Stück in die falsche Richtung. Dann trafen wir einen Mann, der mit seinen Hunden unterwegs war und der uns noch weiter in die falsche Richtung schicken wollte.

Geradewegs dorthin zurück, woher wir kamen. Dieses Mal aber merkte ich, dass hier mein Verwirrer am Werk war und dass die Richtungsangabe nicht stimmen konnte. Ein Blick auf den Kompass zeigte, dass ich Recht hatte. Der Umweg hielt sich also in Grenzen. Nun aber begann es zu regnen und kurz darauf kam ein heftiger Sturm auf, der uns entgegen wehte. Gleichzeitig war es nun, als wäre in unserer Platzsuche vollkommen der Wurm drin. In vier Ortschaften hintereinander wurden wir abgelehnt und ein Gesprächspartner war abweisender und miesmuffliger als der nächste. Fast schon wirkte es, als würde es auf der ganzen Welt keinen einzigen netten und hilfsbereiten Menschen mehr geben. Wieder begann es zu regnen und wieder frischte der Wind auf, der uns direkt ins Gesicht blies. So als wollte er sagen: „Dreh um! Lass es bleiben! Du musst deinen Weg ja nicht gehen. Siehst du nicht wie anstrengend er ist?“ Die Reaktion, die in mir aufkam war die Gegenteilige. „Du willst mich von meinem Weg abbringen?“ rief eine Stimme in mir, „das kannst du vergessen! Je mehr du dich mir in den Weg stellst, desto sicherer werde ich es durchziehen!“ Im ersten Moment fühlte sich diese Stimme nicht verkehrt an, sondern sogar ziemlich ermutigend und motivierend. Dann aber warf Heiko ein kleines Wort in den Raum, das mir zu denken gab: „Trotz“ Es dauerte einen Moment, bis ich es verstand, aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war schon wieder in dem uralten Muster, in dem ich mich permanent gefangen hielt, gerade weil ich glaubte, mich daraus zu befreien. Ich war der trotzige kleine Tobi, der seiner Mama zeigt: „Jetzt erst recht!“ Ich soll mein zimmer aufräumen? Dann mache ich es jetzt erst recht unordentlich! Ich soll die Tür zum Vorratskeller schließen, dann lasse ich sie jetzt erst recht offen stehen! Ich soll meinen Lebensweg nicht gehen? Dann mache ich es jetzt erst recht!

Trotz! Meine Motivation war Trotz und nicht der Wunsch nach Erleuchtung und Entwicklung. Ursprünglich war ich dabei, diesen Schritt zu gehen, weil ich fühlte, dass er Richtig war. Es war ein Geschenk an mich selbst und an die ganze Schöpfung, mit dem ich zu einem hilfreichen Liebesausdehner werden konnte. Durch die Angst und die vielen negativassoziierten Bilder in meinem Kopf, war es jedoch schwer, dieses Gefühl aufrecht zu erhalten. Aus dem Geschenk wurde ein Opfer, ein notwendiges Übel, das ich durchstehen musste, um mich dann endlich loslösen zu können. Diese Unsicherheit war genau der Angriffspunkt, den man brauchte, um mich wieder ins alte Muster zurückzuschicken. Mach ihn noch unsicherer. Gib ihm noch mehr Gründe es nicht zu tun! Und am Ende steht er dann zwischen zwei falschen Entscheidungen. Entweder er weicht zurück und macht nichts, so wie immer. Oder er geht den Schritt mit der vollkommen falschen Motivation und macht ihn somit unbrauchbar. Einen Wandlungsschritt wie ein Schutztattoo auf den Rücken aufzubringen, um damit gegen seine Eltern zu rebellieren hat keinerlei Kraft. Es ist nichts anderes als Selbstzerstörung. Das gleiche Tattoo mit der Absicht stechen zu lassen, dadurch in seine innere Kraft zu kommen und seinen Weg der Heilung und der Liebesausdehnung zu gehen ist etwas vollkommen anderes. Erst als mir dies bewusst wurde, gelang es mir meinen kommenden Schritt wieder als Geschenk anzusehen. Und von diesem Moment an änderte sich auch das Außen wieder. Im nächsten Rathaus nahm man uns nicht nur mit offenen Armen auf, man versorgte und auch gleich noch mit Chips und einem Anteil an unserem Abendessen.

Spruch des Tages: Jetzt erst recht!

Höhenmeter: 320 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 20.245,27 km Wetter: kalt aber sonnig Etappenziel: Mehrzweckraum des Rathauses, 34230 Adissan, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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