Tag 1111: Das Steuer des Lebens übernehmen

von Heiko Gärtner
07.02.2017 01:08 Uhr

15.01.2016

Wenn wir gedacht hatten, dass der Wind nun nach zwei Tagen endlich einmal aufhören müsste, dann hatten wir uns geschnitten. Er hatte die ganze Nacht konstant weiter geblasen und tat es auch immer noch. Gut war nur, dass er nicht gedreht hatte und unser Platz auch in der Früh noch vollkommen im Windschatten lag. Warm war die Nacht nicht gewesen, aber auch nicht so kalt, wie wir es befürchtet hatten. Nun pellten wir uns langsam aus den Federn und machten uns ans Zusammenpacken. Es war bereits nach 10:00 Uhr, als wir aufbrachen und wir wanderten insgesamt gerade einmal 4 Kilometer weit. Dann kamen wir nach Ventenac, den Ort, in dem wir vor zwei Jahren das Paar aus Schottland getroffen hatten. Bereits am Vortag hatte ich mir dies immer wieder als Notoption vorgestellt, aber letztlich war es dann so spät geworden, dass wir nicht mehr hatten fragen wollen. Für einen Moment überlegten wir, ob wir nicht jetzt einfach hingehen und klingeln sollten. Der Muskeltest sagte jedoch bei uns beiden „Nein“ dazu. Aus irgendeinem Grund sollten wir im Moment keine alten, sicheren Häfen anlaufen. Stattdessen machten wir eine kurze Rast auf einer Bank an einem windgeschützten Platz in der Sonne. Beim Picknicken reflektierten wir die letzten beiden Tage noch einmal und machten auch noch ein paar weitere Tests. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich mir das Ergebnis fast denken können, aber ich wäre dennoch nie selbst darauf gekommen. Seit meinem Lösungsritual war dieser immense Gegenwind aufgetaucht und ebenfalls seitdem schien es, als würde nichts mehr richtig funktionieren. Es war der Wurm drin, wie man so schön sagt und das wollte sich einfach nicht wandeln.

Bei dem Ritual war es um die Lösung von mir und meiner Mutter als Marionettenspielerin gegangen. Das Konzept dahinter ist eigentlich ganz einfach, wenngleich es für unsere gesellschaftliche Weltanschauung nicht ganz leicht zu nehmen ist. Wären wir uns alle bewusst, dass wir ein Teil des allumfassenden, göttlichen Bewusstseins sind, dass es also weder Leben noch Tod, Freude noch Leid, Real oder Irreal gibt, sondern dass alles eine große Geschichte, ein großer Traum ist, gäbe es keinen Grund, jemals Angst zu haben. Wir glauben jedoch, dass wir dieser eine, sterbliche und begrenzte Mensch sind, mit dem wir uns identifizieren und deshalb sind wir davon überzeugt, dass unsere Existenz endet, wenn wir sterben. Da die meisten von uns aber nicht so einfach verschwinden wollen, haben wir in der Regel Angst vor dem Tod und auch vor vielen anderen Dingen. Die Sache ist natürlich ein bisschen komplexer, aber ich will hier nicht allzu weit ausholen. In Momenten starker Angst können wir und unbewusst dafür entscheiden, unsere Seele zu spalten und einen Teil davon an einen anderen Menschen zu ketten. Dies war es, was damals mit Hans und Heiko passiert ist. Als Hans erfuhr, dass er abgeholt wurde und spürte, dass er wahrscheinlich nicht überleben würde, spaltete er einen Teil seiner Seele ab und ließ ihn in seiner Mutter zurück. Von diesem Moment an bestand eine besondere Verbindung zwischen Hans und der Mutter. Der Seelenanteil, der sich nun in der Mutter befand, war noch immer durch eine starke Kordel mit Hans verbunden. Wenn er nun wirklich sterben sollte, konnte der Rest seiner Seele nun über die Kordel in den Körper der Mutter gleiten, so dass Hans nicht wirklich sterben würde. Starb hingegen die Mutter, zog die Kordel den Seelenanteil zurück zu Hans. Damit dies funktionierte, war es nur wichtig, dass zwischen Hans und seiner Mutter niemals eine emotionale Distanz entstand, die dafür sorgte, dass die Kordel zerriss. Wie gesagt, ich beschreibe es hier nun stark vereinfacht, denn das ganze ist ein ziemlich großes Thema, das noch einmal ausführlich behandelt werden möchte. Aber letztlich ist dies genau das, was wir unter Besetzungen Verstehen. In Hans Fall war die Sache relativ einfach, denn seine Mutter war in Gedanken und vor Sorge fast immer bei ihm, so dass es nie eine Gefahr gab, dass die Kordel reißen konnte. Als Hans schließlich wirklich starb, folgte der Rest seiner Seele in den Körper der Mutter und die Besetzung wurde vollständig. Von seiner Mutter wurde die Seele schließlich an die Schwester, also an Heikos Mutter weiter gegeben und von ihr zu einem Teil auch an Heiko. Dies war es, was wir vor Zwei Jahren und auch noch in der Zeit danach gelöst haben, so dass Hans vollständig und in Frieden ins Jenseits gehen konnte.

Eine ähnliche Situation geschieht aber nicht nur in Extremfällen, wie einer Nazigefangenschaft, sondern sehr häufig dann, wenn ein Mensch aus irgendeinem Grund eine starke Todes- oder Existenzangst hat. In meinem Fall geschah etwas ähnliches bei meiner Geburt. Hier bekam ich einen Teil der Seele meiner Mutter, die aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen ebenfalls stets Angst vor einem Existenzverlust hatte. Wenn ich nun zu einem Gefäß ihrer Seele wurde, dann konnte sie sicher sein, dass ihr selbst nichts passieren konnte. Vorausgesetzt dass ich weder etwas von der Besetzung merkte, noch die Kordel durchtrennte. Ersteres würde dazu führen, dass ich mich von der Besetzung befreie und letzteres, dass sie den Bezug verliert, so dass sie ihren Seelenanteil weder zurückholen noch ihm folgen kann. Damit ich also ein sicheres Seelengefäß, also gewissermaßen eine Lebensrückversicherung blieb, musste sie dafür sorgen, dass ich mich weder geistig entwickle, noch mich emotional von ihr entferne. Da bereits die Entscheidung der Seelen-Teilung aus dem Fehlen an Vertrauen getroffen wurde, war es natürlich naheliegend, dass auch die Folgeentscheidungen nicht darauf bauten, dass sie vertraute, dass sich alles von alleine regeln würde. Es brauchte Kontrolle, also Manipulation. So wurde sie zum Puppenspieler, der stets darauf achtete, dass ich nur das tat, was ihre Seelenrückversicherung nicht gefährdete.

Bis zu einem bestimmten Maß hatte ich ihre Manipulationen nun erkannt und konnte sie auch direkt mit ihr in Verbindung bringen. Ein weiteres Maß war viel mehr in mir verankert und so subtil, dass ich zwar die Auswirkungen der Manipulation spürte, mir aber nicht erklären konnte, wie sie es machte. Nun hatte ich eine wichtige Kordel der Manipulation durchtrennt und war damit ein Stück weit frei geworden. Ein Teil des Seelenfragmentes war nun also aus mir herausgelöst worden und die Manipulation war nun geringer als zuvor. Dennoch fühlte sie sich nun stärker an als je zuvor. Nur wirkte es nun nicht mehr so, als wäre es wirklich meine Mutter, die mich hier vom Weg abbrachte, sondern eine viel größere, stärkere Macht. Fast so, als hätte sich das ganze Universum gegen mich verschworen. Heiko lachte, als ich davon erzählte: „Ich kann dir auch sagen, wer diese Macht ist, die hier gegen dich arbeitet! Es ist ein fieses Monster und es trägt eine blaue Mütze!“ „Du meinst mich?“ fragte ich. „Klar, wer sonst!“ fragte er zurück. Erst jetzt begriff ich den Wandel, den ich durchlaufen hatte. Zuvor war ich zu annähernd 100% gespielt worden, hatte also stets in einer Welt gelebt, die nicht meine war. Nun konnte ich zum ersten Mal wirklich etwas erschaffen. Es war also nicht der Zorn meiner Mutter, der uns den Gegenwind und die vielen unangenehmen Erfahrungen brachte, sondern mein eigener Pessimismus. Ich war noch immer dabei, alles und jeden zu bewerten. Dieses miese Wetter, diese scheiß unfreundlichen Menschen! Ich hielt noch immer alles für real, glaubte noch immer, dass die Welt ein gefährlicher, feindlicher Ort war, für den ich nichts konnte. Und genau damit erschuf ich all jene Erfahrungen, die mir meine Einstellung spiegelten. Die Welt, die mir hier so ungemütlich und feindselig entgegen lachte, war nicht das Werk meiner Mutter, sondern mein eigenes. Ich war nun langsam wirklich ein Erschaffer, nur eben ein verdammt schlechter. Gerade in dem Moment, als ich das verstanden hatte, kam eine Frau mit einem Hund um die Ecke. Sie war aus Berlin hier her ausgewandert, sprach uns direkt an und lud uns auf Tee, Brot und ein Gespräch ein. Eine knappe Stunde später bekamen wir von ihr außerdem noch einen Platz für die Nacht. Gleich hier um die Ecke.

Spruch des Tages: Der einzige, der dir im Weg steht, bist du selbst

Höhenmeter: 95 m Tagesetappe: 3 km Gesamtstrecke: 20.333,27 km Wetter: extremer, kalter Gegenwind Etappenziel: Küche eines Privathauses, 11120 Ventenac-en-Minervois, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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