Tag 1112: Die dunkle Seite der Wende

von Heiko Gärtner
07.02.2017 01:30 Uhr

16.01.2016

Unsere Gastgeberin war eine quirlige und politisch sehr aktive Rentnerin. Zu Zeiten der DDR war sie in Ostberlin eine angesehene und gut bezahlte Lehrerin gewesen, die das kommunistische System überwiegend als positiv erlebt hatte. Natürlich hatte es seine Macken, aber die hatte das kapitalistische System auch und ihrer Ansicht nach waren sie hier noch weit größer. In der DDR hatte es beispielsweise viele sinnvolle Einrichtungen gegeben, von denen viele Menschen profitieren konnten. Sie selbst hatte einer Gruppe angehört, die gemeinsam Segelboote nutzen konnte, um so verschiedene Fahrten auf der Ostsee, teilweise sogar um die halbe Welt machen zu können. Nach der Wende waren die Boote dann für einen Spottpreis von wohlhabenden Bürgern aus Westdeutschland aufgekauft und privatisiert worden, so dass sie nur noch von einem einzigen Menschen genutzt werden konnten. Und dieser parkte sie dann im Wannsee und beachtete sie die meiste Zeit des Jahres überhaupt nichts.

Weitaus erfreulicher aber war ihr beruflicher Werdegang nach der Wende. Die Arbeitsplätze in Ostdeutschland wurden größtenteils umstrukturiert und sie verlor ihre Stelle. In Westdeutschland war es jedoch fast unmöglich einen Job als Lehrer zu bekommen, wenn man in seinem Zeugnis „Marxismus/Leninismus: Sehr Gut“ stehen hatte. So schlug sie sich lange Zeit mit Aushilfsjobs herum, arbeitete als Kindermädchen und Haushaltshilfe und hielt sich so über Wasser. Obwohl sie den Großteil Ihres Lebens gut verdient und fleißig in die Rentenkasse eingezahlt hatte, wurde ihr fast nichts davon angerechnet und so beträgt ihre Rente nun gerade einmal ein paar Hundert Euro im Monat. Gemeinsam mit der recht guten Rente ihres Lebensgefährten kommt sie hier in Frankreich aber gut zurecht. Sie und Ihr Lebenspartner lebten in einem kleinen Haus am höchsten Punkt des Ortes, das bis zur Decke mit Besitztümern gefüllt war. Es war nicht unordentlich oder chaotisch, das keineswegs, nur eben voll. Die kleine Frau erinnerte mich damit noch einmal an etwas, das ich genau in diesem Moment wieder einmal lernen durfte: Das Loslasse. Ich verstand den Wink, verstand aber nicht, worauf er hinaus wollte. Dies wurde mir erst am nächsten Tag klar, als Heiko mir eine schmerzliche Frage stellte: „Hast du eigentlich schon den Seelenanteil deiner Mutter, den du bei dem Ritual gelöst hast, an sie zurückgegeben?“

Das hatte ich nicht! Nicht weil ich es nicht wollte, oder weil ich mich unbedingt daran fest klammern wollte, sondern weil ich es vollkommen vergessen hatte. Es war einfach nicht in meinen grauen Zellen angekommen, dass dies ebenfalls ein bewusster Teil des Ritual sein musste. Und das, obwohl ich das Ritual in seinen Grundzügen kannte. Ich hatte es ja selbst bereits bei Heiko gesehen. Ich fühlte mich schlecht deswegen und war umso Dankbarer, als ich das Versäumnis am Abend nachholen konnte. Auch heute war es wieder ein langer und mühsamer Prozess, einen Schlafplatz aufzutreiben. Die Rathäuser hatten nie zu der Zeit geöffnet, als wir ankamen und sonst wollte oder konnte uns keiner weiterhelfen. Schließlich erreichten wir das Dorf, in dem wir vor zwei Jahren bei einem deutschen Pärchen oben auf einer Burg gewohnt hatten. Heute aber waren die beiden nicht zuhause, so dass auch diese Sicherheitsoption weg viel. Dafür trafen wir hier jedoch eine Dame im Rathaus an, die uns die Umkleidekabine der Sporthalle zur Verfügung stellte. Sie selbst hatte die Räume seit Jahren nicht betreten und war gelinde gesagt schockiert, als sie den Schlüssel umdrehte und sah, was sie uns hier genau anbot. Sie selbst konnte ja nichts dafür, aber es war ihr trotzdem so peinlich, dass sie uns kaum in die Augen sehen konnte. Die Fußballer hatten hier gehaust wie die Vandalen.

Die Tür war halb eingetreten, alles war verdreckt und vermüllt und die Toiletten waren bis zum Rand zugeschissen. Günstiger Weise gab es in unserem Raum keine einzige Steckdose, so dass wir in einen Nebenraum der Toiletten gehen mussten, um unseren Kocher zu benutzen. Die Steckdosen waren unter einer dicken Schicht Mäusekot versteckt und die einzige, ebene Fläche, auf die man den Kocher stellen konnte, befand sich etwas oberhalb meiner Augenhöhe. Ihr könnt euch also vorstellen, dass es ein wahres Kocherlebnis wurde, hier in diesem eiskalten Raum unter diesen Umständen ein einigermaßen genießbares Essen zuzubereiten. Doch der Menschenleere Fußballplatz draußen vor unserem Häuschen, die sternenklare Nacht und die alten, urigen Bäume um uns herum, waren eine gut geeignete Umgebung, um mein Ritual abzuschließen und den Seelenanteil nun wieder zurück zu geben.

Spruch des Tages: Alles hat stets zwei Seiten

Höhenmeter: 140 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 20.361,27 km Wetter: extremer, kalter Gegenwind Etappenziel: Umkleidekabine des Sportplatzes, 11700 Puicheric, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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