Tag 1136: Die Fallschirmschule

von Heiko Gärtner
06.03.2017 01:38 Uhr

04.02.2017

Am Morgen regnete es noch immer und für einen kurzen Moment überlegten wir sogar, ob wir nicht einfach noch einen Tag hierbleiben und entspannen sollten. Andererseits wartete aber ein Paket einige Tagesetappen von hier entfernt und so schön, dass man unbedingt zwei Tage in Lourdes bleiben musste war es dann auch wieder nicht. Wir verließen den Pilgerort also, wanderten an einem kleinen See entlang und kamen drei Stunden später in einem verschlafenen Nest an, das wir als Etappenziel auserkoren hatten. Verschlafen war in diesem Fall sogar wörtlich gemeint, denn es herrschte Stromausfall und die meisten Einwohner nutzten die Gelegenheit um ein wenig zu dösen. Glücklicherweise trafen wir jedoch auf ein junges Pärchen, die ein kleines und sehr gemütliches Gästehaus vermieteten, in das sie uns einluden. Tatsächlich stellten wir fest, dass dies der Ideale Ort war, um von hier aus Lourdes zu besuchen. Es war ruhig, schön und wirklich liebevoll eingerichtet. Außerdem gab es einen Pool und einen großen Garten. Durchaus also ein Ort, an dem man es länger aushalten konnte.

05.02.2016

Die Nacht wurde wieder stürmisch und der Regen prasselte so laut auf unser Dach, dass Heiko sogar davon aufwachte. Auch am Morgen war es noch immer windig und nass draußen, so dass es auch heute wieder nicht die gemütlichste Wanderung aller Zeiten wurde. Da war es ein Segen, dass wir nach knapp 14km innerhalb von wenigen Minuten einen Raum vom Bürgermeister gestellt bekamen, in dem wir sofort alle Heizungen aufdrehen und unsere nassen Kleider wieder trocknen konnten.

06.02.2017

Obwohl das Wetter heute dazu einlud, bereits nach dem ersten Kilometer wieder einzukehren, legten wir die doppelte Strecke von dem zurück, was wir eigentlich hätten wandern wollen. Im Nachhinein betrachtet war das nicht verkehrt, denn wie sich herausstellte kam bereits heute unser Paket auf der Poststation an, die wir in ein paar Tagen erreichen wollten. Doch im Tagesverlauf wünschten wir uns mehrfach ein trockenes, warmes Plätzchen zu finden, das uns leider verwehrt blieb. Am Ende landeten wir dafür an einem der ausgefallensten Orte, an denen wir überhaupt auf dieser Reise geschlafen haben. Wir können unserer Sammlung an Schlafplätzen nun auch noch eine Fallschirmschule hinzufügen.

Ich weiß nicht, ob jemand von euch bereits eine Fallschirmschule von innen gesehen hat, aber für mich war es das erste Mal und ich muss sagen, ich war doch recht überrascht von dem, was wir hier vorfanden. Als ehemaliger Erlebnispädagoge und Hochseilgartentrainer weiß ich, dass es bei dieser Art der Freizeitbeschäftigung und der Aktivität vor allem darum geht, dass sich der Kunde Sicher fühlen muss. Alles braucht Zertifikate und Prüfsiegel und alles muss zwei oder dreifach gegengecheckt werden, damit nichts passieren kann. Klar, hinter der Kulisse sieht das oft etwas anders aus. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, bei der in einem der Hochseilgärten in denen ich gearbeitet habe ein großer, gelber und beeindruckend hübscher Pilz am Fuße eines Baumes gefunden wurde, den niemand identifizieren konnte. Eine Begutachtung zeigte, dass es ein Baumpilz war, der nur auf sterbenden Bäumen vorkommt und der einen Baum, wenn er ihn einmal als Wirt auserkoren hat, mit seinen Pilzfäden von innen vollständig auflöst. Dummerweise war der betroffene Baum derjenige, an dem der Parcours begann und es gab keine Alternative. Also sorgte man dafür, dass der nach außen hin sichtbare Teil des Pilzes immer wieder entfernt wurde, damit er niemanden beunruhigte und ließ alles wie es war. Immerhin dauerte es mehrere Jahre, bis so ein Baum wirklich zerfressen war und bis dahin würde er schon noch halten.

In meiner Vorstellung war nun ein Ort, an dem man sich mit nichts als einer Art großen Bettlaken auf dem Rücken aus einem Flugzeug stürzen sollte, von einer Aura der Vertrauenswürdigkeit umgeben. Egal, was sich am Ende dahinter verbarg, aber der erste Eindruck musste doch sein, dass man dieser Einrichtung ohne mit der Wimper zu zucken sein Leben anvertrautet. Denn nichts anderes tat man ja schließlich. Tatsächlich zögerten wir jedoch, ob wir diesem Ort auch nur unsere Nachtruhe anvertrauen wollten. Vor uns lagen zwei große Hallen aus Blech, deren Farbe bereits vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Auf dem Weg zur Anmeldung musste dann dann an einem Bereich vorbei, der mit rotweißem Flatterband abgesperrt war und auf dem die Warkteile mehrerer Flugzeuge gelagert wurden. Es war ein bisschen, als wollten sie sagen: „Sei bloß froh, dass du einen Fallschirm dabei hast, wenn du mit uns vom Boden abhebst. Das ganze Ambiente des Platzes erinnerte uns an die Survercamps in Spanien und Portugal, die wir besucht hatten. Es war ein Treffpunkt für gestrandete Seelen, die hofften, ihr Glück in einem abenteuerlichen Hobby zu finden und die deshalb ihre Arbeitskraft gegen einen Schlafplatz in einer schäbigen Massenunterkunft eintauschten. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Alkohol, Tabak und Cannabis und tatsächlich wirkte jeder der Anwesenden, als wäre er direkt aus einem schlechten Kifferfilm gesprungen. Spannend war es, das Treiben am Abend ein bisschen zu beobachten. Es gab einen großen Gemeinschaftsraum, in dem sich auch die Küche befand. Während wir kochten, saßen die Dauergäste am anderen Ende des Raumes vor dem Fernseher, den sie so gut wie möglich zu ignorieren versuchten. Jeder hatte dafür eine andere Taktik. Einige spielten im Handy, andere schliefen, eine bearbeitete ihre Fingernägel und einer trommelte mit den Fingerknöcheln auf der Tischplatte herum. Dann stand er auf, um sich einen Kaffee zu machen. Die Kaffee-Ecke war mit einem Wasserkocher und einer Senseo-Kaffeemaschine ausgestattet, die beide astrein funktionierten. Der junge Mann wählte jedoch einen anderen Weg. Er füllte seine Tasse mit kaltem Wasser, warf das Kaffeepad hinein und stellte sie dann in die Mikrowelle. Nach zwei Minuten öffnete er die Klappe, probierte einen Schluck, stellte fest, dass es erst lauwarm war und setze die Mikrowellenbestrahlung fort. Das ganze wiederholte er drei Mal, bis ihn das Ergebnis zufriedenstellte. Dann kippte er den Kaffee in einem Zug hinunter und ging zu Bett.

Seine Mitbewohner hatten einen ähnlichen Bezug zum Kochen wie er und auch sie faszinierten uns mit ihren Kochmethoden. Eine junge Frau stellte eine Schale mit Spagetti und Wasser in die Mikrowelle und wartete, bis die Nudeln heiß und weich waren. Die passende Sauce dazu kochte sie jedoch irritierender Weise auf dem Herd. Langsam verstanden wir auch, warum es in dem großen Saal nur einen winzigen Ofen und zwei kleine Gasherde, dafür aber vier Mikrowellen gab. Auch wenn es der leicht verstörende erste Eindruck nicht vermuten ließ, schien die Schule selbst nicht einmal schlecht zu sein. Zumindest wenn man den Auszeichnungen über Meisterschaften und Weltrekorde an den Wänden glaubte. Trotzdem konnten wir uns nicht vorstellen, wie hier im Sommer der Hochbetrieb aussehen sollte. Jetzt jedenfalls spürte man nur wieder die altbekannte Schwere und Lustlosigkeit, die wir auch bei den Surfern kennengelernt hatten. Der einzige, auf den das nicht zutraf, war der Leiter der Schule, der gleichzeitig auch der Kapitän des Flugzeuges war. Er war mit Elan und Begeisterung dabei, aber er kam natürlich auch nur fürs Fliegen und für den Unterricht hier her, musste hier aber nicht wohnen. Und da er direkt vom Bürgermeister gebeten wurde uns aufzunehmen, bekamen wir als einzige Anwesende ein Doppelzimmer für uns alleine. So gesehen war es für unsere Zwecke dann doch noch ein guter Platz. Wir hatten Internet, eine Gemeinschaftsküche und ein Doppelzimmer. Nur die sanitären Einrichtungen waren so eine Sache. Aber wer braucht schon eine funktionierende Klospülung oder ein Licht, das angeht, wenn man auf einen Schalter drückt. Ob es vielleicht eine dezente Art ist, die Besucher darauf vorzubereiten, dass einfach nichts passiert, wenn man hier auf irgendwelche Knöpfe drückt?

Spruch des Tages: Hier braucht man wirklich einmal Urvertrauen!

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 20.785,27 km Wetter: Bewölkt und nebelig Etappenziel: Pilgerherberge, 40500 Saint-Sever, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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