Autobahnpilger

von Franz Bujor
01.05.2014 20:56 Uhr

Als wir nach knapp 15 Kilometern eine Stelle erreichten, an der wir nicht mehr an der Hauptstraße, sondern hinter einem Bahnhofsgelände durchgingen, war es zum ersten Mal an diesem Tag still genug um die Vögel zu hören. Der Weg führte zwischen mit Graffiti besprühten Wänden hindurch, hinter denen man auf die verfallenen Gebäude einer alten Fabrik blicken konnte. Hier bemerkten wir zum ersten Mal, dass mein Wagen leise Schleif- und Klappergeräusche von sich gab. Irgendetwas stimmte nicht.

Als wir ihn genauer untersuchten, merkten wir, dass die Bremsscheibe an der rechten Seite am Metall des Wagens entlangschliff. Durch das Schweißen hatte sich die Achse leicht verformt und die beiden Räder machten dadurch einen leichten Spagat. Das rechte wackelte etwas und dadurch schliff die Bremsscheibe am Wagenaufbau entlang, wenn die Straße nicht gerade war. Am Abend konnten wir das Problem mit einer ordentlichen Ladung Sekundenkleber und einigen anderen nützlichen Dingen, die wir an unserem Übernachtungsplatz fanden beheben. Doch in diesem Moment machte es mir große Sorgen. Was war, wenn die Achse durch das Schweißen ganz kaputt gegangen war und nun bald brechen würde? Was war, wenn die Reifen durch die Schiefstellung kaputtgehen oder mir das Ziehen erschweren würden? Am Ende zeigte sich, dass alles halb so wild war. Die Achse war stabiler als je zuvor und nachdem wir die Reifen stabilisiert hatten konnte nichts mehr irgendwo schleifen. Die leichte Schiefstellung gab dem Wagen sogar etwas mehr Stabilität, so dass er nun nicht mehr ganz so leicht auf die Seite kippen kann.

Doch bis wir das alles rausfanden dauerte es noch ein bisschen. Zunächst mussten wir einen Weg aus diesem geisterhaften Industriegebiet finden, der uns irgendwohin brachte, wo es wieder Leben gab.

Unter einer Brücke wurden wir von einem alten Mann angesprochen, der uns eine Geschichte über das Wunder von Muxia erzählte. Ich verstand nicht alles, denn er redete wie in Spanien üblich mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets. Was ich verstand war folgendes: Einst ging ein Mann den Jakobsweg bis nach Muxia, also noch über Santiago hinaus. Dort hatte er eine Gotteserfahrung, von der er jedem Menschen berichtete. Leider glaubte ihm niemand und so kehrte er nach Muxia zurück, um einen Beweis zu liefern. Er baute ein Schiff, mit dem er bis nach Santiago fuhr. Das an sich, war nichts besonderes, doch Santiago liegt nicht am Wasser. Er fuhr also über Steine, die das Schiff rollenderweise bewegten. Als die Menschen das sahen, waren sie begeistert. Einer war so fasziniert, dass er nur noch auf das Schiff sah und dabei fast von einem der rollenden Steine überrollt worden wäre. Im letzten Moment kam ein Tier angesprungen, dass so dicht über seinen Kopf hinweghüpfte, dass er sich ducken musste. Als dann der Stein kam, flog er über ihn hinweg. Dies sei der Grund, weswegen wir uns Muxia auf jeden Fall ansehen mussten. Die ganze Geschichte erzählte er uns nicht nur, er machte sie uns auch pantomimisch vor und wiederholte jeden Satz mindestens fünf Mal. Am Anfang fanden wir es noch recht amüsant, doch nach einigen Minuten wollten wir das Gespräch gerne wieder beenden und weiterziehen. Der Mann ließ uns jedoch nicht so einfach gehen und wiederholte seine Geschichte wieder und wieder, bis wir ihn schließlich für vollkommen verrückt hielten.

Schließlich kamen wir an eine Stelle, an der wir den Fluss überqueren mussten, der uns die ganze Zeit durch das Industriegebiet begleitet hatte. Es gab hier jedoch keine Brücke im herkömmlichen Sinne. Stattdessen hatte man hier eine hohe Stahlkonstruktion gebaut, an der eine Art Gondel an langen Stahlseilen hing. Mit dieser schwebte man dann über den Fluss. Eine Überfahrt kostete 60 Cent und war nur von 5:00 Uhr morgens bis um 22:00 Uhr möglich. Für uns war das kein Problem, aber wenn man hier wohnte und abends noch jemanden auf der anderen Flussseite besuchen wollte, konnte das wahrscheinlich recht nervig sein.

Auf der anderen Seite gelangten wir nach Portugalete, einer Kleinstadtdie ebenfalls zu einem großen Teil aus Industriegebieten bestand. Früher hatte es hier einmal Strände gegeben, die vor allem bei der Reichen Oberschicht überall in Europa beliebt waren. Doch davon konnte man nun nichts mehr erkennen. Die komplette Küste wurde von Hafenanlagen eingefasst.

Einen Schlafplatz bekamen wir glücklicherweise recht schnelle und unkompliziert. In der Kirche wurde gerade Konfirmandenunterricht abgehalten und der Pfarrer erlaubte uns, die Räume zum Schlafen zu nutzen, sobald dieser vorbei war.

Bis dahin sahen wir uns die Stadt noch einmal genauer an und entdeckten Rollbänder, die den Berg hinaufführen. Es waren die gleichen Rollbänder, die es an Flughäfen gab, um von einem Hangar zum nächsten zu kommen. Nur das diese hier bergauf führten. Wenn wir das früher gewusst hätten, hätten wir uns einiges an Anstrengung sparen können. Aber auch so machte es spaß, einmal nicht nach oben laufen zu müssen. Doch als wir oben waren, fanden wir heraus, dass man mit diesen Bändern sogar noch mehr Spaß haben konnte, indem man sie hinunterrutscht. Durch den Regen waren sie nass und somit leicht glitschig. Sie waren rau genug, um auf ihnen stehen zu können, ohne auszurutschen, doch wenn man Anlauf nahm, dann konnte man bis ganz nach unten sliden. Wir machten das ganze bestimmt vier oder fünf mal, bis uns alle Menschen in der Umgebung für verrückt hielten und uns böse anstarrten. Lustig fand das offensichtlich niemand. Wir schon. Als wir schließlich genug hatten, kam uns ein Mann mit seinem Hund entgegen, nahm Anlauf uns rutschte die ganze Rollbahn hinunter. Sein Hund lief hinterher. Er konnte nicht sliden, weil er keine Schuhe hatte, aber auch er hatte sichtlich Spaß an der Sache.

Am nächsten Morgen verließen wir die Stadt in Richtung Westen. Es ging weiter Bergauf, nur diesmal ohne Rollbänder. Es dauerte noch eine Weile, dann verließen wir das Industriegebiet und kamen stattdessen an eine Autobahn. So sehr wir es auch versuchten, wir konnten die Menschen hier einfach nicht verstehen. Die Küste war traumhaft! Ein wirkliches Paradies mit grünen Hügeln, saftigen Wiesen und beeindruckenden Klippen. Wie konnte man gerade hier eine Autobahn und eine Schnellstraße nebeneinander durchbauen? Es gab einige kleine Orte, die früher einmal so idyllisch gelegen waren, wie kaum ein Nest auf dieser Welt. Jetzt waren sie durch die Straßen vollkommen eingekreist.

Je mehr wir von Spanien sahen, desto stärker wurde der Eindruck, dass sich die Menschen hier selbst dazu entschieden hatten, arm und unglücklich zu werden. Der natürliche Reichtum in Form der Landschaft und der Fruchtbarkeit des Landes war schier unermesslich, doch anstatt es in Gold zu verwandeln, hatte man es so gut wie möglich zerstört. Früher war diese Küste einmal ein Urlaubsparadies für die reichsten Menschen Europas gewesen und heute hatte man nicht einmal mehr Lust, auch nur eine Stunde hier zu verbringen. Wie hatte es dazu kommen können?

Der Fuß- und Radweg führte für 12 Kilometer mitten durch dieses Straßengewirr und war dabei selbst wie eine Schnellstraße aufgebaut. Es gab Raststätten, Zebrastreifen und Verkehrsschilder, wie bei einer richtigen Straße.

Schließlich erreichten wir Las Arenas, einen Ort am Meer, der sogar tatsächlich wieder einen Strand hatte. Einen Strand, den man mit hässlichen Hotelblöcken zugebaut hatte, aber einen Strand. Von hier aus wollten wir eigentlich nur noch über eine Brücke in den nächsten Ort um uns da einen Schlafplatz zu suchen. Doch wie so oft kam auch heute wieder einmal alles anders. Die Brücke war vom Meer weggespült worden und so mussten wir einen Umweg ins Landesinnere machen. Dabei kamen wir an einer gigantischen Ölraffinerie vorbei. Darum also war der Verkehr hier so wichtig. Was uns jedoch nicht einleuchtete war, dass die Tankstellen an denen wir kurz darauf vorbeikamen, die teuersten Preise angeschlagen hatten, die wir in Spanien bisher gesehen hatten. In Pobeña fanden wir dann tatsächlich eine Pilgerherberge, die auf Spendenbasis funktionierte. Doch diese hatte wie fast alle städtischen Herbergen nur in den Sommermonaten geöffnet. Eine Alternative gab es hier nicht. Nur ein Hotel, dass zwar eine Pilgermuschel an der Tür hängen hatte, gleichzeitig aber auch ein Schild, das es Pilgern verbot, hier nach Wasser zu fragen. Als ich an der Rezeption fragte, ob sie uns weiterhelfen könnten, stellte ich fest, dass die Hotelleiterin tatsächlich genauso freundlich war, wie man es anhand des Schildes hatte vermuten können. Auf dem Vorplatz trafen wir auf zwei französische Pilgerinnen. Wir fragten sie, wo sie denn heute übernachten wollten, doch sie winkten ab.

„Sorry,“ sagte die grauhaarige Frau, „wir können leider nicht reden, denn wir müssen in diesen Bus einsteigen. Hier gibt es nichts zum übernachten und laufen können wir nicht mehr. Deshalb nehmen wir den Bus bis nach Castro. Kommt schnell, dann könnt ihr noch mitfahren!“

Wir schüttelten den Kopf und erklärten, dass wir unser Glück hier versuchen würden. Doch das Beispiel der beiden Damen zeigte uns, wie schwer es den Pilgern in Spanien gemacht wurde. Es machte hier keinen Unterschied, ob man mit oder ohne Geld reiste. Leicht war es nie. Es sei denn, man hatte so viel Geld, dass man sich jeden Abend ein Hotel für 50€ oder mehr leisten konnte. Doch es gab kaum einen Pilger, dem es so ging. Spanien behauptete von sich selbst, das einzig wahre Pilgerland zu sein. „Der wahre Pilgerweg beginnt in Spanien!“ Doch nach allem was wir erfahren hatten, gab es keinen Abschnitt des Jakobsweges, der so wenig mit der ursprünglichen Idee des Pilgerns zu tun hatte, wie der spanische Teil. Bei Heikos erster Reise nach Santiago war ihm die Strecke nach der Grenze wie ein Karneval vorgekommen. Der Weg hatte plötzlich nichts mehr mit Ruhe und innerer Einkehr zu tun gehabt, sondern ähnelte viel mehr einem Oktoberfest, bei dem es darum ging, so viel Geld wie möglich mit den Besuchern zu machen. Und bei dem die Besucher sich so gut wie möglich von ihrem Alltag und ihrem Leben ablenken wollen. Damals hatte Heiko diesen Festivalcharakter damit erklärt, dass er in einem heiligen Jahr den Hauptweg zurückgelegt hatte, der durch Hape Kerkeling und Paulo Cuelo so berühmt und beliebt geworden war. Doch hier war es nicht viel anders. Dass die Pilgerherbergen zu 90% nur im Sommer geöffnet hatten, erschreckte uns am Meisten. Es zeigte deutlich, dass es hierbei nicht um das Wohl der Pilger ging, sondern um reine Wirtschaftlichkeit. Wenn man nur ein paar Euro für eine Übernachtung verlangte, dann musste man das Geld mit der Masse machen und das lohnte sich eben nur im Sommer. Die wenigen Pilger, die zu anderen Jahreszeiten kamen, sollten doch zusehen, wo sie bleiben. In Frankreich war uns so etwas nicht passiert. Dort hatte es immer irgendwo einen Schlüssel gegeben, mit dem man in die Herberge kam. Ob es dabei Sommer oder Winter war, spielte keine Rolle. Hier jedoch wurde einem als Pilger vorgeschrieben, wann man zu pilgern hatte. Und wer sich weigerte mit dem Strom zu schwimmen, der musste eben mit den Konsequenzen klarkommen.

Pobeña hatte jedenfalls keine Unterkunft für uns und so mussten wir unsere platten Füße wohl oder übel noch einmal bemühen um ins nächste Dorf zu kommen. Dieses hatte nicht einmal eine Kirche. Das übernächste hatte eine Kirche, aber keinen Pfarrer und so ging es immer weiter. An einer Autobahnausfahrt fragten wir bei einem Trucker Hotel nach einem Schlafplatz, was jedoch auch erfolglos blieb. Und das, obwohl ich einen Mitleidsbonus, wegen Nasenbluten hatte. Der Hotelier gab mir Taschentücher und schickte uns dann in den nächsten Ort in dem es sicher einen Pfarrer geben würde. „Wirklich sicher?“ fragte ich.

„Ganz sicher!“ sagte der Mann. Er konnte es leicht sagen, denn egal ob es stimmte oder nicht, wir würden auf keinen Fall noch einmal den ganzen Berg heraufgelaufen kommen um uns zu beschweren.

Natürlich gab es keinen Pfarrer. Stattdessen gab es einige ältere Frauen, die an der Straße standen und tratschten. Sie empfahlen uns, unter dem Kirchenvordach zu schlafen oder einfach bis nach Castro weiterzugehen. Dort gäbe es eine Unterkunft und das sei schließlich nur noch 12km entfernt.

Das wir am Abend wirklich in Castro landen würden, hätten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht geglaubt. Doch davor gab es nichts, das auch nur im Ansatz hätte funktionieren können. Zelten kam auch nicht in Frage, da wir noch immer direkt neben der Autobahn liefen und da jeder freie Platz schräg war. Der Weg führte uns über eine Schnellstraße immer ober- oder unterhalb der Autobahn entlang. Die Schnellstraße war zum Glück so gut wie unbefahren, anders hätten wir es wahrscheinlich nicht ausgehalten.

Das letzte Stück bis in die Stadt unseres Vertrauens wanderten wir dann auf einer ehemaligen Zugstrecke mitten durch den Berg. Der Tunnel war mehrere Hundert Meter lang und stockdunkel. Alles, was man sehen konnte waren die beiden Ausgänge. Wir fixierten das Licht am Ende des Tunnels und wanderten geradewegs darauf zu. Es war ein komisches Gefühl, nicht zu wissen, wie weit man von einer Wand entfernt ist. Wer konnte einem sagen, ob man nicht doch direkt auf einen Abhang zuging?

Der Tunnel endete direkt an der Stadtgrenze von Castro. Wir durchquerten den Ort bis zur Strandpromenade und machten uns auf die Suche nach Pfarrern oder einer Herberge. Mehrere Male wurden wir gefragt, ob wir Hilfe brauchen und ein französischer Fahrradfahrer begleitete uns sogar bis zu einer Kirche. Es war nicht so, dass die Menschen hier nicht hilfsbereit waren. Im Gegenteil, gerade wenn es um den Weg ging, bekam man deutlich öfter Hilfe angeboten als einem lieb war. Es war vielmehr so, dass die Menschen nicht hilfreich waren. Sie halfen einem nicht wirklich weiter, oftmals nicht, weil sie nicht wollten, sondern fast immer, weil sie einem nicht zuhörten und daher nicht wussten, was man brauchte. Wenn man jedoch mal einen hilfreichen Menschen gefunden hatte, wie die Franziskanerbrüder zum Beispiel oder wie die Männer in den Werkstätten, dann setzten sie sich vollkommen für einen ein und halfen einem mehr als man sich hatte träumen lassen. Es war also vielleicht nicht wirklich schwieriger geworden, in Spanien zurecht zukommen. Es war nur ambivalenter. Es war schwerer einzuschätzen und man musste härtere Rückschläge in Kauf nehmen. Am meisten machte uns jedoch der fehlende Kontakt zu den Menschen zu schaffen. Seit wir Frankreich verlassen hatten, hatten wir so gut wie kein tiefes Gespräch mehr geführt. Außer mit Juana und mit den Mönchen. Alles andere war an der Oberfläche geblieben. Erst am Abend kamen wir der Frage nach dem Warum ein bisschen näher auf die Spur. Doch davon berichte ich euch morgen mehr.

Spruch des Tages: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten!

 

 

Höhenmeter: 420m

Tagesetappe 37 km

Gesamtstrecke: 2433,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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