Tag 1197: Fährfahrt nach England

von Heiko Gärtner
11.06.2017 03:36 Uhr

„Können wir die Wagen doch einfach irgendwo hier unten lassen?“ fragten wir unsere Führerin, als die Fährfahrt nach England begann.

„Nein!“ piepste sie entschieden zurück, „Ihr habt euch ausgesucht, dass ihr sie bei euch haben wollt, also bleibt auch dabei! Da vorne ist ein Fahrstuhl, den könnt ihr nehmen!“

Wenig später saßen wir auf einem Sofa auf dem Oberdeck, die Wagen neben uns, und warteten auf die Abfahrt. Diese ließ jedoch noch einmal eine gute Dreiviertelstunde auf sich warten. Eine Zeit, in der das Schiff von Minute zu Minute voller wurde. Auch die Gelbjackenträger waren dabei, die hoch motiviert waren, den Aufenthalt für alle anderen so unangenehm wie möglich zu machen.

Neben uns saß ein älteres Pärchen aus England, das bereits ein wenig zerknittert, vor allem aber erschlagen wirkte. Die Frau begann leicht zu hyperventilieren und machte Anstalten, als wolle sie einen Herzinfarkt bekommen. Heiko bot ihr etwas Wasser an, damit sich ihr Kreislauf stabilisieren konnte, aber sie lehnte ab. Sie entsprach genau dem Bild, das man von einer englischen Adeligen dazu gehörte es wohl auch, dass es ihr immer gut ging und dass sie niemals Hilfe brauchte, egal wie es auch in ihr aussehen mochte.

Erste Schiffsinspektion

Da immer einer von uns auf die Wagen aufpassen musste, machten wir unsere Erkundungsrunden nacheinander. Viel gab es nicht zu sehen, nur einige Restaurants oder Cafés und eine kleine Außenterrasse, die sich genau zwischen Schornstein und Maschinenraum befand. Hier war es so laut, dass man nicht einmal sein eigenes Wort verstehen konnte und so wurde es nur ein recht kurzer Besuch. Dennoch musste man sagen, dass man von hier aus den ersten schönen Blick auf Calais hatte. Man erkannte nur den breiten, weißen Sandstrand und dahinter die altertümlichen Gebäude des Stadtkerns.

Nachdem wir von unseren Touren zurückgekehrt waren, wurden wir von einem freundlichen Mann aus Nottingham angesprochen, der uns unsere ersten fünf Pfund spendete und uns von einem Fernwanderweg erzählte, der den südlichsten Punkt Englands mit dem nördlichsten Punkt von Schottland verbindet.

Terror auf der Fährfahrt nach England

Die Überfahrt selbst dauerte gerade einmal eine gute halbe Stunde, denn die Breite des Ärmelkanals an dieser Stelle beträgt nur 37km. Dennoch verbrachten wir insgesamt weit mehr als 2 Stunden auf dem Schiff und noch einmal zwei weitere in den Häfen. Einen Teil der Überfahrtszeit nutzte ich, um etwas Schlaf nachzuholen, doch besonders erholsam wurde das nicht. Gerade als ich eingeschlafen war, wurde ich von einem monströsen Tumult wieder aus dem Schlaf gerissen. Verstört schaute ich mich um und sah dabei zunächst in Heikos entsetztes Gesicht und an auf die Menschenmenge, die uns umschlossen hatte. Die Englische Küste war noch immer einige Meilen entfernt und doch hatten die Passagiere bereits beschlossen, sich schon einmal für das Verlassen des Schiffes bereit zu machen. Wie eine Horde Stiere, die man in ein zu kleines Gatter gesperrt hatte, standen sie nun mit scharrenden Hufen vor den Treppenabgängen und warteten auf ein Startsignal, das nicht kam und auch nicht kommen konnte. Wir schätzen die Zahl der anwesenden Personen auf rund 25.000 und etwa die Hälfte davon hatte sich nun direkt um uns geballt. Dies allein wäre schon anstrengend gewesen, doch rund 90% davon waren auch noch Schüler, die genervt, gelangweilt und zunehmend aggressiv waren. Sie schrien herum wie ein Schwarm Möwen und begannen allerlei Spiele zum Zeitvertreib zu entwickeln, von denen die Meisten das Schubsen, Schlagen oder Treten ihrer Mitschüler beinhalteten. Dies sorgte natürlich dafür, dass permanent auch Menschen umher gestoßen wurden, die nichts mit diesen Spielen zu tun hatten, wodurch sich die Gesamtstimmung an Deck immer weiter aufheizte. Man konnte das Aggressionspotential buchstäblich in der Luft knistern hören.

Alte Erinnerungen

Unweigerlich mussten wir an unsere erste Fahrt von Griechenland nach Italien zurück denken. Damals hatten wir uns über die Arbeitssklaven beschwert, die mit uns an Bord waren und jeden Gang und jeden Winkel belagert hatten, wie bei einem Sitzstreik. Nun wurde uns klar, dass diese Menschen nicht einmal einen Bruchteil so unangenehm gewesen waren, wie die Touristen und Schüler von jetzt. Die Gastarbeiter waren mit solider Ellenbogenmentalität vorgegangen, um sich einen möglichst guten Schlafplatz zu ergattern und sie waren dreist gewesen, was die Nutzung des Schiffsinterieurs anbelangte, um sich darauf Betten zu bauen. Aber sie hatten Rücksicht auf sich und auf die anderen Passagiere genommen. Jeder hatte darauf geachtet, dass man sich gegenseitig nicht störte und wenn jemand schlafen wollte, dann hatte man ihn schlafen lassen. Die Überfahrt war alles andere als angenehm gewesen, aber die Menschen hatten dafür gesorgt, dass sie den Umständen entsprechend so angenehm wie möglich wurde. Hier nun war es genau anders herum. In den letzten Wochen waren wir immer wieder gewarnt worden, dass die Schiffe nach England wahrscheinlich voller Flüchtlinge sein würden und dass wir uns fragen sollten, ob wir wirklich in so eine Gesellschaft hinein wollten. Tatsächlich konnten wir unter den Passagieren keinen einzigen Flüchtling ausmachen und es stand außer jeder Frage, dass dies unter den gegebenen Bedingungen definitiv eine schlechte Nachricht war. So viel unterschwellige Aggression und so viel Rücksichtslosigkeit würde man unter Flüchtlingsgruppen sicher niemals finden.

Eine harte Probe für die Nerven

Das ältere Pärchen neben uns hatte es richtig gemacht und sich rechtzeitig in einen anderen Teil des Schiffes zurückgezogen. An ihrer Stelle hatte nun eine junge Frau asiatischen Ursprungs neben uns Platz genommen, die versuchte, sich durch intensives Spielen mit ihrem Handy von der aktuellen Situation abzulenken. Ein Plan, der nur mäßig aufging, da sie immer wieder von übermütigen Schülern angerempelt wurde. Einer kam sogar auf die Idee, sich auf die Armlehne ihres Sessels zu setzen und damit bis in den inneren Kern ihres Privatsphäreradius vorzudringen. Es reichte jedoch ein einziger Blick von ihr, der ihre gesamte Ablehnung offenlegte um ihm klar zu machen, dass das eine äußerst dumme Idee war.

Ein kurzer Blickkontakt zwischen uns und der Frau reichte aus, um zu verstehen, dass sie genau das gleiche Dachte wie wir: „Oh mein Gott, in was für eine Vorhölle bin ich hier nur hineingeraten!?!“

Die Stimmung in der Masse heizte sich immer weiter auf und mit ihr nahm auch die Lautstärker permanent zu. Bald schon gab es niemanden mehr der nicht brüllte, kreischte oder schrie und dabei versuchte, alle anderen in ihrem Lärm zu übertönen. Ich selbst spürte, wie ich mich immer mehr in mich selbst zurückzog und dabei mehr und mehr verspannte. Heiko ging es genauso und auch bei uns stieg das Aggressionspotential kontinuierlich weiter an. Hinzu kam, dass unsere Wagen mitten in der Schusslinie standen. Die zankenden Kids spielten ihre Spiele während sie mitten zwischen unseren Deichseln standen. Es reichte ein einziger Moment der Unachtsamkeit und einer von ihnen würde darüber stolpern und dabei vielleicht eine Bremse abreißen oder schlimmeres. Ich war der erste, der eingriff und wies drei der Jungs, die am nächsten standen an, sich von den Wagen fernzuhalten. Unsere asiatische Nachbarin begann zu strahlen und genoss es sichtlich, dass nun etwas mehr Platz entstand.

Erziehungsmaßnahmen

Lange hielt es natürlich nicht an und schließlich wurde klar, dass hier härtere Geschütze aufgefahren werden mussten. Die Frage war nur, wer von den beiden anderen der nächste sein würde. Die junge Frau fuhr bereits ihre Motoren hoch und ballte bereits ihre Fäuste, als Heiko ihr zuvor kam: „Kruzifix nochmal! Nimmst du wohl deine verdammten Füße von unseren Wagen weg oder muss ich erst fuchtig werden!“ brüllte er aus vollem Leibe.

Augenblicklich wurde es still. Keiner der rund 12.000 Menschen sagte mehr ein Wort und der Junge, dem der Zorn galt wich einen guten Meter zurück und verschwand dann in der Menge. Einige Sekunden hielt die Stille an, dann begann das erste Wispern und in nur wenigen Augenblicken hatte sich die ursprüngliche Stimmung wieder aufgebaut. Die Asiatin versuchte nach Leibeskräften ihr Strahlen und ihre Zustimmung zu unterdrücken, scheiterte aber auf voller Länge. Drei ältere Frauen, die auf der anderen Seite unserer Wagen standen sahen es genauso und im Hintergrund erkannten wir noch vier oder fünf weitere Erwachsene, die zustimmend nickten.

Die Stimmung brodelt

Gerade für die älteren Herrschaften war der Zustand unerträglich. Jeder nur halbwegs vernünftige Mensch wusste, dass er niemals in einen Schulbus einsteigen würde, wenn er heile zu Hause ankommen wollte. Hier hatte man keine Wahl und sah sich unvermittelt tausenden von Schulbussen entgegen. Jede der Jugendgruppen hatte Lehrer oder Betreuer dabei, aber niemand griff ein. Niemand machte auch nur den Versuch, die Chaoten zu bändigen. Es schien sogar vollkommen in Ordnung zu sein, dass sie alte Damen und Herren genauso herumschubsten wie kleine Kinder und schwangere Mütter.

Am bedrohlichsten war jedoch die Gesamtstimmung zu spüren, die sich immer weiter und weiter aufbaute. Heikos Schrei hatte sie einen Moment lang abkühlen lassen, aber nun war sie bereits wieder auf dem Siedepunkt. Mit jeder Minute, die verging, schien das Risiko einer Eskalation zu steigen. Bald würde nur noch ein kleiner Auslöser ausreichen um die erste Schlägerei zu verursachen. Langsam verstanden wir, warum Türsteher in den Diskotheken immer so früh eingriffen und Störenfriede bereits hinaus warfen, noch ehe sie auch nur daran dachten, Stress zu machen. In diesem Zustand war es bereits unmöglich, die Meute noch zu bändigen. Das einzige, was verhindern konnte, dass es zu Ausschreitungen kam, war ein möglichst baldiges Öffnen der Türen. Mit einem Schlag wurde uns klar, warum die Konkurrenzlinie keine Fußgänger aufnahm. Es ging nicht um einzelne, es ging um diese Massen.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: So lustig ist eine Seefahrt nun auch wieder nicht

Höhenmeter: 260 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 21.958,27 km

Wetter: Sonnig und windig

Etappenziel: direkt in der Kirche, CT18 Lyminge, England

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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