Tag 1206: Auf holprigen Pfaden

von Heiko Gärtner
22.07.2017 06:46 Uhr

19.04.2017

Eigentlich war geplant, dass ich den ersten Tag nach meinem Branding eher etwas ruhiger angehe und nicht gleich volle Power wieder durchstarte. Ganz hat das natürlich nicht funktioniert, wie es mit Plänen nun einmal so üblich ist. Dabei sah es in der Früh sogar kurzzeitig so aus, als würden wir überhaupt nicht los wandern, denn unsere Freunde von der Glockengruppe hatten es geschafft, uns in der Kirche einzusperren.

Das Problem war, dass das Eingangstor zwei Schlösser hatte, wir aber nur für eines davon den Schlüssel besaßen. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Entweder, wir erreichten jemanden, der uns befreite, oder wir fanden einen anderen Ausgang. Während ich erfolglos versuchte, den Kirchenverwalter und den Pfarrer anzurufen, machte sich Heiko auf die Suche nach Seitenausgängen und wurde schließlich fündig.

Wir folgten der Beschreibung, die uns der Pfarrer nach Rustington gegeben hatte, wo wir ebenfalls wieder vom Pfarrer erwartet wurden. Da die normalen Straßen in dieser Region fast immer Hauptstraßen waren, versuchten wir es heute einmal mit einem „Footpass“ also einem öffentlichen Trampelpfad, wie wir ihn schon des öfteren gesehen hatten. Dabei verliefen wir uns prompt erst einmal in einem Streichelzoo. Ich weiß, das mag jetzt komisch klingen, aber so war es tatsächlich. An einer unübersichtlichen Stelle auf einer Wiese ein bisschen zu spät abgebogen und schon fanden wir uns zwischen Schweinen, Eseln, Kaninchen und Schafen wieder, die uns erwartungsvoll anschauten und nach etwas zum Essen bettelten.

Kurz darauf standen wir wieder auf dem richtigen Weg und vor dem nächsten Problem. Denn der Pfad führte über eine Brücke und die war so schmal, dass man sie mit unseren Wagen nicht passieren konnte. Anstatt die ersten Tage nach dem Ritual also ruhig anzugehen und alles in Frieden verheilen zu lassen, begann ich den ersten Tag also gleich einmal damit, zwei 60kg-Wagen über eine wackelige, schmale Holzbrücke zu tragen. Na gut, bei mir kamen jeweils natürlich nur 30kg an, da Heiko ja die andere Hälfte trug, aber ganz im Sinne des Erfinders war es trotzdem nicht.

Am Morgen hatte ich mir beim Einpacken des Wagens noch Gedanken über jede einzelne Bewegung gemacht und nun wuchtete ich ihn gleich als ganzes herum. Und weil das noch nicht reichte, kamen wir am Ende des Weges an ein Tor, das ebenfalls zu schmal war, so dass wir die Wagen ein weiteres Mal tragen mussten. Dieses Mal durch ein Brennnesselfeld und anschließend über einen Zaun. Immerhin weiß ich nun, dass ich weit weniger vorsichtig mit meinen Bewegungen sein muss als ich zunächst dachte, wenn wenn das nicht geschadet hat, schadet alles andere auch nicht.   Der Pfarrer war ein freundlicher, höflicher und sehr zuvorkommender Mann, der einfach das Gefühl nicht losbekam, noch immer nicht genug für uns getan zu haben, egal wie oft wir ihm auch versicherten, das wir bestens versorgt waren. Er spendierte uns eine große Portion Fish and Chips für den Abend, die wieder einmal dazu führte, dass wir uns ins Bett kugeln mussten. Die Sache mit dem essen hier in England ist wieder einmal etwas spezieller als wir dachten. Es ist nicht so, dass man nichts bekommt oder dass es nicht schmeckt. Es ist nur alles so fettig und schwer verdaulich, dass man nach jeder Mahlzeit das Gefühl hat, man habe Backsteine im Bauch.

Die Kirche, die heute unser Zuhause wurde, war die modernste und bestrenovierteste, die wir auf unserer gesamten Reise gesehen haben. Es gab nicht nur ein voll funktionsfähiges Entertainmentsystem, mit automatisch ausfahrbarer Leinwand über dem Altar, Beamer, angepasstem Saallicht und 5.0-Dolby-Digital-Surround-Anlage, sondern auch ein funktionierendes w-LAN mitten in der Kirche, das wir nutzen konnten. Lediglich das Licht hatte einige Haken. Es war wie alles andere auch nicht über einfache Schalter sondern über ein Computer-Display steuerbar und so komplex, dass nicht einmal der Pfarrer genau wusste, wie es funktionierte. Fakt war nur, dass man die Kirche im Handumdrehen in eine Disco mit Stroboskoplicht verwandeln konnte, wenn man auf den falschen Taster drückte.

„Wenn das passiert“, meinte er nur, „müsst ihr euch keine Sorgen machen, denn das passiert ständig. Schaltet einfach einmal alles aus und wieder an, dann müsste es in der Regel wieder funktionieren!“

Rustington, das merkte man deutlich, war ein Residenzort für Rentner mit dem nötigen Kleingeld, die sich vornehmlich aus London zurückzogen. Es gab ganze Ortsteile, die für Nichtanwohner gesperrt waren und viele Altersgerechte Wohnungen mit Blick aufs Meer. Anders als in Worthing führte hier auch die Hauptstraße zumindest zu großen Teilen nicht direkt am Meer entlang, sondern verlief weiter im Landesinneren, während die Apartmenthäuser direkt am Strand lagen.

Am meisten spürte man es aber an der Kirche selbst. Nicht nur, dass sie merklich weitaus mehr Spendengelder zur Verfügung hatte als üblich, sie bot auch ein weitaus größeres Aktivitäten- und Animationsprogramm als die meisten anderen Kirchen. Der Kirchensaal war fast rund um die Uhr belegt und nicht einmal der Pfarrer hatte mehr einen Überblick darüber, was wann wo los war. 

Spruch des Tages: Soviel also zum Thema „Ich lasses es langsam angehen“

 

Höhenmeter: 75 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 22.147,27 km

Wetter: heiter bis wolkig und windig

Etappenziel: Klarissenkloster, BN18 Arundel, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!
Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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