Tag 1245: Übertriebene und fehlende Ordnung

von Heiko Gärtner
17.09.2017 07:17 Uhr

03.06.2017 - 04.06.2017

So ein bisschen seltsam ist die Mentalität der Menschen hier schon. Auf der einen Seite sind sie die wahrscheinlich striktesten und korrektesten Menschen die es auf der Welt gibt. Jeder Grashalm wird mit der Nagelschere gestutzt, damit er perfekt ins Gesamtbild passt. Alles hat hier seinen Platz und seine Ordnung. Und vor allem: Alles ist Reglementiert.

Wohin man auch blickt, man sieht ein Schild mit mindestens einem Verbot darauf. Zelten verboten! Grillen verboten! Fahrradfahren verboten! Angeln verboten! Und weil das alleine noch nicht reicht kommt gleich nebenan ein weiteres Schild mit der Aussage: Mit illegal geangelten Fischen wegrennen verboten! Hunde verboten! Ballspielen verboten! Durchgang verboten! Hinweisschilder lesen verboten! Parken verboten! Und dann wieder gleich nebenan: „Wir bitten Sie höflichst, hier nicht zu parken!“ Heute wanderten wir mehrere Kilometer an einem Kanal entlang, der so eutrophiert und verschlammt war, das nicht einmal ein Frosch freiwillig hinein gesprungen wäre. Trotzdem hingen alle dreißig Meter Tafeln mit „Schwimmen verboten!“ und zusätzlich: „Baden verboten!“ Ganz im Ernst: Jemand der sich von diesem Brackwasser nicht vom Baden abhalten ließ, der ließ sich sicher auch nicht durch ein Schild aufhalten. Hin und wieder entstehen dann gerade wegen des Versuchs immer ganz genau zu sein recht lustige Uneindeutigkeiten. An einem See zum Beispiel stand geschrieben: „Lebensgefahr! Schwimmen Verboten! Achtung tiefes Wasser!“

Ist ja logisch, dass ich in Lebensgefahr gerate, wenn ich in tiefem Wasser nicht schwimmen darf, oder?

Auf der anderen Seite sind die Menschen dann aber auch wieder die größten Messis und Chaoten, die wir je getroffen haben. Die Familie, die neben der Kirche von vor zwei Tagen lebte beispielsweise hatte ihr Haus in zwei vollkommen getrennte Bereiche eingeteilt. Der erste war ein Museum, das so edel und nobel eingerichtet war, dass man es jedem präsentieren, niemals aber darin leben konnte. Zum wohnen gab es deshalb den zweiten Bereich, der nicht einmal einen Fußboden hatte und der von oben bis unten voll mit Kinderspielzeug belagert war. Irgendwo war es ja auch kein Wunder, denn im Grunde hatten die Menschen hier das gleiche Problem, mit dem ich auch ständig kämpfte. Der Versuch, ein Ordnungssystem zu erschaffen führte dazu, dass man pedantisch wurde und es so sehr übertrieb, dass man innerhalb dieses Systems nicht mehr leben konnte. Um aber Ordnung in sein Leben zu bringen fehlt nun die Zeit, die man für das Aufrechterhalten der pedantischen Ordnung benötigt.

Heute morgen aber entdeckten wir den Gipfel dieser Ambivalenz. Eine junge Mutter war mit ihrem kleinen Sohn auf den Friedhof gegangen um sich dort um ein Grab zu kümmern. Damit sich der kleine nicht langweilte, hatte er ein Kindermotorrad mitgenommen. Keinen Roller und kein Fahrrad, sondern ein Motorrad mit Knattermotor extra für Kinder. Und mit diesem Motorrad heizte er als Miniatur-Cross-Country-Fahrer zwischen den Gräbern herum und teilweise sogar über sie hinweg. Wie konnte das sein? Auf der einen Seite war es verboten, mit seinem Auto vor einem privaten Hoftor auch nur zu wenden und auf der anderen Seite hatte niemand etwas dagegen, das Kinder einen Friedhof als Offroad-Parcours für sein Motorrad missbrauchte.

Auf der anderen Seite konnte man es natürlich schon auch wieder verstehen. Denn gerade diese strickte, allgegenwärtige Einkästelung in Regeln und Verbote führten dazu, dass man ständig das Bedürfnis hatte, irgendwie auszubrechen. Es war daher auch kein Wunder, dass es hier so viel Kleinkriminalität mit Zerstörungswut und Diebstählen von nutzlosem Zeug gab. Irgendwie wollte man gegen dieses scheinheilige System rebellieren. Und wenn es nur war, dass man einen schäbigen Tannenzapfen an einem Faden vor seinem ansonsten blankgeleckten Haus aufhing. Sogar den Tieren ging es hier genauso. Heute haben wir ein Picknick an einer Pferdeweide gemacht und hatten dabei Gesellschaft von zwei kleinen und einem großen Pferd, die so gelangweilt waren, dass selbst sie nichts als Schabernack im Kopf hatten. Vor allem der Große hatte eine leichte Tendenz zur Sachbeschädigung und verbrachte einen Großteil seiner Zeit damit, den Weidezaun mit den Hufen niederzutreten. Der Bauer hatte ihn bereits an mehreren Stellen mit Saustricken wieder nach oben gebunden. Die Hufe des Pferdes waren an mehreren Stellen bereits ganz ausgefranzt und eingekerbt durch die permanenten Spiele mit dem Draht, aber es ließ sich davon nicht abhalten. Jedes Mal, wenn es Erfolg hatte, kam es ein klein bisschen weiter nach außen und konnte eine Blume oder einen Grashalm fressen, an den es zuvor nicht gelangt war. Die Wiese innerhalb des Zauns war noch relativ voll, aber außen davor wuchs so gut wie nichts mehr. Er war also einfach ein Freiheitskämpfer. So schön sein Gefängnis auch sein mochte, es blieb ein Gefängnis und er wollte sich daraus befreien um endlich seinen eigenen Weg gehen zu können. Wer könnte es ihm verübeln? (Außer dem Bauern natürlich)

Spruch des Tages: Die Regeln müssen stets dem Leben dienen, nicht das Leben den Regeln

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe: 22 km

Gesamtstrecke: 22.790,27 km

Wetter: Sonne und Wind, warm und trocken

Etappenziel: Minikirche, Carlecotes, England

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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