Tag 1268: Schottlands zwei Gesichter

von Heiko Gärtner
31.10.2017 05:30 Uhr

25.06.2017

Seit wir die Britischen Inseln betreten haben, hat man uns Schottland stets angepriesen, wie ein geheiligtes Land. Die Nachteile dort oben seien die vielen Mücken, die Bremsen und diese kleinen Griebelfliegen, die einen in den Wahnsinn treiben können. Aber davon einmal abgesehen, gab es nach dem, was wir gehört haben keinen schöneren Ort auf der Welt als Schottland. Die Menschen seien die freundlichsten und hilfsbereitesten, die man sich nur vorstellen kann, die Natur atemberaubend, vielseitig und ursprünglich, die Luft rein, das Wasser klar und man fände überall ruhige, idyllische Plätze zum Entspannen und genießen. Eigentlich war es ein Wunder nach diesen Beschreibungen, dass in England überhaupt noch jemand lebte und nicht schon längst nach Schottland umgezogen war.

Ein komischer erster Eindruck

Unser erster Eindruck wollte jedoch nicht ganz zu diesem Bild passen. Um überhaupt nach Schottland zu kommen, hatten wir zunächst einmal das grauenhafteste Gebiet durchqueren müssen, das wir in England überhaupt erlebt hatten. Und das wollte etwas heißen. Nun kurz hinter der Grenze wurde es tatsächlich wieder ruhig, entspannt und einsam. Die Autobahn in der Ferne hörte man nur noch als leises brummen und das was man sah, wirkte tatsächlich einsam und idyllisch. Allerdings unterschied es sich landschaftlich nicht wirklich von dem, was wir in England gesehen hatten. Auch hier gab es mit Hecken und Zäunen umringte Weiden, nur wenige Wege oder Straßen dazwischen und gelegentlich ein paar versammelte Bäume. Dafür aber eine Menge Wind und Sturm.

Als wir das erste echte Dorf erreichten, war es mit der Idylle jedoch schnell vorbei. Es lag langgezogen an einer etwas größeren Straße und erinnerte uns vom Baustil weit mehr an die Dörfer in Kroatien oder Bosnien, als an die von Mitteleuropa. Zum Übernachten gab es hier einen kleinen Gemeindesaal sowie eine Kirche. In letzterer wurde gerade ein Dorffest veranstaltet, das in erster Linie auf Kuchen essen, Tee trinken und einer Dudelsackbläsergruppe bestand. Was Schottisches Kulturgut anbelangte wurden wir also gleich am ersten Tag reichlich bedient. Jetzt fehlt nur noch ein Turnier mit Highlandsports, dann müssten wir alles zusammen haben, für das das Land bekannt ist.

Von Freundlichkeit zunächst keine Spur

Was wir hingegen gar nicht finden konnten, waren freundliche Menschen. Sowohl beim Gemeindesaal als auch bei der Kirche begegnete man uns nicht nur ablehnend, sondern auch äußerst unfreundlich. Der Mann, dessen Frau für den Saal verantwortlich war, wollte mich zunächst nicht einmal zu ihr durchdringen lassen und versuchte dann immer wieder aus dem Hintergrund das Gespräch vorzeitig zu beenden und mir die Tür vor der Nase zuzumachen. Die Frau hingegen erfand eine fadenscheinige Ausrede nach der nächsten, warum es gerade heute nicht möglich war, hier zu übernachten. Am Abend gäbe es ein Bridge-Turnier, das sicher viele Stunden dauern würde. Selbst jetzt am Nachmittag war der Raum daher unnutzbar, da ja bereits alles für die Kartenspieler vorbereitet sei. Oh, nur mit dem Computer an einen der Spieltische setzen um ein bisschen zu arbeiten? „Nein das geht leider nicht, da alle Möbel drüben bei der Kirchenfeier sind und die Halle praktisch leergeräumt wurde!“ Als ich dann fragte, ob das Bridge-Turnier im Stehen abgehalten wurde, setzte sich der Mann durch, beendete das Gespräch abrupt und warf die Tür vor mir ins Schloss.

Bei der Kirchenfeier wurde ich zunächst etwas freundlicher aufgenommen und bekam sogar einen Tee angeboten, während eine der Damen versuchte die Pfarrerin anzurufen. Da dies nicht erreichbar war, wurde eine der „Kirchenältesten“ zu rate gezogen, die uns dann sogar noch schneller abblitzen ließ, als die Leute von der Dorfhalle. Wir könnten es ja mal bei dem Campingplatz versuchen, der drei Meilen weiter direkt neben der Autobahn läge. Das war ihre einzige Idee zu dem Thema.

Wie Tag und Nacht

Wir mussten also weiter ziehen und dabei erneut die Autobahn überqueren, die das Tal auf einer breite von 5km mit einem unerträglichen Lärm flutete. Ich weiß nicht wie sie es schaffen, aber die Autobahnen sind hier locker um ein zehnfaches lauter, als alle Autobahnen, die wir bislang gesehen und gehört haben. Und das bei einem drittel des Verkehrs.

Der nächste Ort war etwas kleiner und wirkte auf den ersten Blick wie eine Geisterstadt. Hier zeigten sich die Menschen jedoch in einem vollkommen anderen Licht. Die junge Frau, die den Schlüssel für die Dorfhalle hütete meinte auf meine Frage hin nur knapp: „Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum das nicht gehen sollte!“ Und schon hatte sie den Schlüssel in der Hand und schloss uns auf. Dann machte sie zwei Fotos von uns, die sie sofort bei Facebook einstellte, wobei sie ein paar Sätze hinzufügte, die in etwa lauteten wie: „Diese beiden Männer wandern um die Welt und wohnen heute in unserer Dorfhalle. Sie freuen sich über Essens und Geldspenden, wenn ihr also möchtet könnt ihr kurz vorbei schauen und ihnen etwas bringen.“

Und tatsächlich kamen am Nachmittag immer wieder Anwohner vorbei, die kurz klopften, uns einen Geldschein, eine Packung Kekse, eine Tüte mit Brot und Käse oder Obst und Gemüse vorbei brachten. Niemand hielt uns lange auf und keiner wollte ausschweifende Gespräche führen, wie es oft in England der Fall war. Sie wollten einfach nur kurz helfen. Plötzlich verstanden wir wieder, warum die Schotten so einen guten Ruf hatten. Vor knapp einem Monat hatten und die Anwohner in einem Englischen Dorf mit den gleichen Informationen die Polizei auf den Hals gehetzt. Das war durchaus ein kleiner Unterschied.

Treffen mit Shania

Der einzige Haken an der Situation war, dass wir den Ort, an dem wir uns nun befanden eigentlich erst am nächsten Tag erreichen wollten, da es ganz in der Nähe einen Bahnhof gab, an dem wir Shania abholen konnten. Nun brauchten wir einen neuen Plan und in Ermangelung sinnvoller Alternativen entschieden wir uns dafür, nach Lockerbie zu wandern. Der Ort hatte vor einigen Jahren eine traurige Berühmtheit erlangt, weil er Schauplatz eines dramatischen Flugzeugabsturzes geworden war. Leider war er aber auch unabhängig solch tragischer Ereignisse ein Ort des Grauens in dem man sich unmöglich für längere Zeit aufhalten konnte. Er bestand letztlich aus nichts weiter als einer geraden Hauptstraße, auf der sich alles aneinander kettete. Links dieser Straße verlief die Autobahn, rechts kamen die Schienen. Dazu lag der Ort in einem Tal, der wie ein Kessel wirkte um sämtliche Schallwellen noch einmal aufzunehmen, zu reflektieren und zu verstärken. Auch wenn die Einheimischen diese unwirtlichen Zustände hinnahmen, fühlten sie sich definitiv nicht wohl damit und so war der ganze Ort zu einer Art dreckigem Saustall geworden, in dem sich niemand mehr um irgendetwas kümmerte. Schöner hätte man einen Ort für ein lang ersehntes Wiedersehen kaum auswählen können.

Die unmenschliche Lebenssituation in der Stadt spiegelte sich auch in der Grundstimmung der Einheimischen wieder und es entpuppte sich sehr schnell als unmöglich, hier in diesem Ort einen Schlafplatz aufzutreiben. Man muss allerdings dazusagen, dass wir ohnehin nicht sicher waren, ob wir hier überhaupt einen haben wollten. Das einzige Thema bestand nun darin, die Zeit bis zu Shanias Ankunft irgendwie so zu überbrücken, dass wir nicht vollständig durchdrehten. Die einzige Option die wir dafür sahen war es, den Ort zu verlassen und uns einen Platz außerhalb hinter einer Hügelkuppe zu suchen. Zu unserer Überraschung kamen wir dabei mitten durch einen Golfplatz, der so gelegt worden war, dass er den Autobahnschall, der aus dem Tal nach oben strömte, optimal auffing.

Rund drei Stunden mussten wir nun abwarten, bis der Zug kam. Gut nur, dass wir uns am Vormittag für eine knappe Stunde in einem Sumpfgebiet verlaufen hatten. In dem Moment, wo wir zwischen Schafweiden, einem Fluss und Feuchtwiesen feststeckten, während die Pferdebremsen unser Blut aus uns heraus saugten, ärgerten wir uns über die Umstände. Jetzt kam uns diese Phase des Tages fast wie ein Wellnessurlaub vor.

Mit Shania im Gepäck machten wir uns dann um 16 Uhr noch einmal für eine weitere 11km Etappe auf in die Berge, bis wir ein kleines Dorf erreichten, in dem wir nach einigem hin und her in der Kirche übernachten durften. Der erste Eindruck dabei war jedoch, dass Schottland ein weitaus härteres Pflaster werden würde als England. Kirchenverwalter gab es nicht mehr. An ihre Stelle war hier in Schottland ein Ältestenrat getreten, der seine Entscheidungen nur noch im Konsens treffen konnte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber es ist um so viel angenehmer, wenn man einfach einen Menschen hat, der zuständig ist und Entscheidungen treffen kann, als wenn 10 Leute etwas gemeinsam entscheiden müssen, die alle irgendwelche Einwände und Bedenken haben. Sogar die alte Dame, die ich zu Hause antraf und die die Organisation für uns übernahm, war kurz vor dem Durchdrehen, als sie endlich alle wichtigen Ratskollegen informiert und ihnen eine Zustimmung abgerungen hatte.

„Gerne machen sie es nicht!“ gestand sie mir später, „einige haben tatsächlich nur zugesagt, weil es schon so spät ist und sie es unmoralisch finden, euch hinaus in die Kälte zu schicken. Hätten wir früher gefragt, hätte die Antwort nein gelautet.“

Das machte ja schon einmal Hoffnung für die nächsten Tage!

Dennoch waren wir Froh, dass alles geklappt hatte, das Shania nun bei uns war und dass wir am Ende doch noch einen Raum zum Übernachten hatten.

Spruch des Tages: Ein neues Land ist immer auch eine neue Herausforderung!

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 23.266,27 km

Wetter: Regen, Wind oder beides

Etappenziel: Village Hall, Drumelzier, Schottland

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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