Tag 127: Schlemmen für Weltreisende

von Franz Bujor
09.05.2014 00:42 Uhr

Bei unserem Aufbruch aus dem Altenheim fiel uns eine Sache auf, die wir schon des Öfteren beobachtet hatten. Im Eingang standen riesige Plastiktüten, mit Deckeln von Trinkflaschen. Diese wurden hier gesammelt, um sie Getrennt von anderem Plastikmüll abzugeben. Wahrscheinlich, weil die Deckel aus einem anderen Plastik bestanden als die Flaschen selbst und den Menschen eingeredet wurde, dass sie die Umwelt retten konnten, indem sie diese beiden Plastikarten trennten. Als Heiko vor vier Jahren das erste Mal durch Spanien gereist war, war Mülltrennung hier noch ein absolutes Fremdwort gewesen. Heute findet man an jeder Ecke Container für Glas, Plastik, Papier und Restmüll. Mit den Plastikdeckeln die gesondert gesammelt werden ist der Mülltrennungsboom hier sogar noch krasser als in Deutschland. Auf den ersten Blick könnte man sagen, dass dies ein Fortschritt in Sachen Umweltschutz ist, doch bei genauerer Betrachtung hält es die Menschen leider nicht davon ab, ihre Autobatterien und Kühlschränke weiterhin in den Flüssen zu entsorgen. Hinzu kommt, dass die Mülltrennung, wie wir bereits herausgefunden haben, nicht das geringste für die Umwelt bringt. Es ist lediglich eine weitere Masche zum Geldverdienen. Dass dies in Spanien genauso gut oder sogar besser funktioniert, als in Deutschland, hätten wir nicht vermutet.

Was wir auch nicht vermutet hätten ist, dass wir heute bereits ein weiteres Mal unsere Wagen komplett auseinander und wieder zusammen bauen würden. Es war diesmal kein großes Problem, also nichts, dass unsere Reise gefährdet hätte, doch es ging uns schon allmählich auf die Nerven. Heikos Wagen hatte bereits vor Wochen damit angefangen, immer wieder komische Quetsch- und Knatschgeräusche von sich zu geben. Zunächst ganz leise und ganz selten, dann immer lauter und häufiger. Jetzt rumorte er bereits bei jeder kleinen Unebenheit auf der Straße und das trieb Heiko langsam in den Wahnsinn. Komischer Weise stellten wir fest, dass es uns jeweils hauptsächlich dann auf die Nerven ging, wenn unser eigener Wagen quietschte. Als mich meiner vor Wochen zur Weißglut brachte, war Heiko ganz entspannt gewesen. Genauso war ich auch seinem quietschenden Wagen gegenüber relativ entspannt eingestellt. Dennoch musste die Ursache gefunden werden und das war nicht so einfach, wie damals bei mir. Die gleiche Lösung hatten wir bereits ausprobiert und es hatte nichts verändert. Nun ging es ans Eingemachte und das im wahrsten Sinne des Wortes. Alles wurde aus dem Wagen gekramt und auf der Straße aufgebahrt. Dann prüften wir jede Schraube und hatten bald darauf den Übeltäter gefunden. Wir bauten eine neue Unterlegscheibe ein, zogen alles etwas fester an und testeten, ob es noch immer Geräusche gab. Stille! Das musste es also gewesen sein! Zufrieden mit unserem Erfolg, bauten wir alles wieder zusammen, räumten den Wagen wieder ein und marschierten weiter. Es dauerte keine hundert Meter, bis der Wagen die gleichen Geräusche machte, wie zuvor. Vielleicht liegt die Lösung in einem neuen Unterleg-Gummiring, doch das werden wir morgen testen.

Der Jakobsweg schickte uns heute wieder über Feldwege, Treppen und steile Abhänge, die man auf kleinen Nebenstraßen ohne Probleme hätte umgehen können. Unser Jakobsführer schwieg sich über derartige Details zum Weg jedoch gerne aus und so fanden wir die Alternativen immer erst im Rückblick. Dass der Jakobsweg bei derartigen Umwegen durch unwegsames Gelände immer an einer Herberge, einer Bar oder einem Campingplatz vorbei führte, ließ die Vermutung aufkommen, dass der Weg nicht aus religiösen, sondern vielmehr aus finanziellen Gründen so verlegt wurde. An einigen Stellen ließ sich sogar noch erkennen, dass die Pfeile früher einmal auf den leichten Weg gezeigt hatten. Das Pilgern in Spanien ist und bleibt also eine reine Kommerzveranstaltung und hat mit innerer Einkehr noch genauso viel zu tun, wie mit einer Polarexpedition. Es war schon Paradox, dass man überall auf der Welt hohes Ansehen hatte, wenn man sich als Jakobspilger zu erkennen gab. Nur in Spanien war man dadurch bei den Menschen sofort unten durch und wurde nur noch als potentielle Gelddruckmaschine angesehen, die man ausquetschen und möglichst schnell wieder loswerden musste. Je näher man nach Santiago kam, desto stärker wurde dieses Empfinden. Dass wir ohne Geld reisten zerstörte dieses Bild natürlich komplett. Bei vielen war die Aussage, dass wir keine reinen Pilger waren, der absolute Eisbrecher. So beispielsweise in einer Pilgerkneipe, in der wir heute Morgen frühstückten. Als ich der Besitzerin von unserer Reise erzählte, lud sie uns sofort auf ein Frühstück mit kalten Getränken ein. Dies war die erste von drei Essenseinladungen, die wir heute bekommen sollten.

Bei anderen war die Information, dass wir Geldlose Nichtpilger waren hingegen ein Grund, uns überhaupt nicht mehr zu helfen. Wir würden keinen Profit bringen, also gab es auch keinen Grund, sich zu bemühen. Doch dazu komme ich gleich noch.

Zunächst führte uns unser Weg durch ein idyllisches Hügelland, dass schon wieder nicht so wirkte, als wären wir in Spanien. Kurz darauf kamen wir in einen Eukalyptuswald, in dem wir uns wie in Asien oder Australien fühlten. Es war einfach unglaublich, wie viele Gesichter dieses Land hatte.

Auf dem Weg durch die hügeligen Wiesen kamen wir an mehreren Bauern vorbei, die das Graß mähten, um Heu zu produzieren. Dabei gab es große Unterschiede in der Herangehensweise. Am beliebtesten waren die Freischneider, mit denen man zwar Stunden brauchte um eine Wiese zu mähen, die dafür aber auch unerträglich laut waren. Leiser und deutlich effektiver, aber aus irgendeinem Grund weitaus weniger beliebt waren die Doppelmessermähwerke. Dies waren große Rasenmäher, die man vor sich herschieben konnte und die das gemähte Gras gleich auf eine Seite schoben. Ganz wenige Menschen verwendeten Sensen. Doch diejenigen, die das taten, waren die einzigen, denen ihre Arbeit wirklich Spaß machte. Eine Sense war deutlich effektiver als ein Freischneider und war dazu noch absolut geräuschlos. Wenn wir an Bauern mit einer Sense vorbeikamen, unterbrachen sie ihre Arbeit, lächelten uns an, was hier wirklich etwas besonderes ist, und grüßten uns. Industrielle Mähmaschinen oder Mähdrescher sahen wir keine. Entweder es handelte sich hier um eine Gegend in der die Industrialisierung noch nicht stattgefunden hatte, oder es handelte sich um verhältnismäßig arme Bauern, die nicht das Geld für große Maschinen hatten.

Beim Anblick der vielen Sensen kam mir ein weiterer Gedanke. Wenn die Menschen früher glaubten, dass der Tod sie in Form eines Sensenmannes holen würde, wie starben dann die Menschen bevor die Landwirtschaft erfunden wurde? Was macht ein Sensenmann in einer Zeit, in der es noch keine Sensen gibt? Und was macht er heute? Ob es im Jenseits wohl auch eine Industrialisierung gab, die dazu Führte, dass die Lebensschnur nun mit einem Mähdrescher durchtrennt wird? Das wäre natürlich deutlich effektiver und Gevatter Tod, könnte damit viele Klappen auf einmal schlagen, was bei unserer Überbevölkerung wahrscheinlich auch dringend notwendig ist. Doch warum ist man überhaupt auf das Gleichnis mit dem Sensenmann gekommen. War den Menschen vielleicht doch bewusst, dass es die Landwirtschaft war, die die Zivilisationskrankheiten erschaffen hatte? Wenn ja, dann ist das Bildnis vom Tod mit einem Mähdrescher vielleicht gar nicht so weit hergeholt, denn die industriell erzeugte Nahrung verursacht ja auch deutlich mehr tödliche Krankheiten.

Auf dem weiteren Weg kamen wir an einigen Kühen und Rindern vorbei. Ein Bulle hatte ein besonders beeindruckendes Gehörn, dass wie ein Korkenzieher verdreht war und fast einen halben Meter nach links und rechts in die Luft ragte. Später sahen wir eine ganze Herde dieser Rinder, die von mutigen Männern und einem ebenso mutigen Jungen zusammengetrieben wurden. Bei diesem Gehörn hätte ich auf jeden Fall einen ordentlichen Respekt vor den Tieren gehabt und hätte ihnen wahrscheinlich nicht so einfach mit einem Bambusstock den Hintern versohlt.

Doch noch etwas beeindruckte uns heute zutiefst an den Weidetieren, denen wir begegneten. In der Hitze des Tages hatten sich Unmengen an Fliegen angesammelt, die sich in den Gesichtern der Tiere tummelten. Vor allem an den Augen saßen sie besonders oft und tranken dort von der Tränenflüssigkeit der Weidetiere. Die Fliegen waren so dreist, dass sie sich durch nichts verscheuchen ließen. Dass einzige, was die Kühe, Esel, Ziegen und Pferde zu ihrer Verteidigung machen konnten, war blinzeln, um die Fliegen zu hindern, sich direkt ins Auge zu setzen. Ansonsten mussten sie die Situation akzeptieren wie sie war. Es gab nichts als Hingabe und die trugen sie mit einer würdevollen Gelassenheit, die wir mehr bewunderten, als alles andere an diesem Tag. So eine Gelassenheit konnte man nur dann besitzen, wenn man im absoluten Frieden mit sich selbst ist. Jeder Mensch, der in der Zivilisation aufgewachsen ist, würde unter Garantie durchdrehen und einen Wutanfall bekommen.

Gegen Mittag erreichten wir ein winzig kleines Dorf inmitten eines wunderschönen Tales. Es gab nur wenige Häuser und die meisten von ihnen waren prunkvolle Villen oder Gutshöfe. Doch das erstaunliche daran war, dass sie bis auf eines alle komplett leer standen und bereits zum großen Teil verfallen waren. So sehr wir es auch versuchten, das konnten wir einfach nicht verstehen. Wie konnte ein so schöner Ort wie dieser ausstreben und verfallen, während sich die Menschen teure Villen direkt an der Autobahn kauften. Es schien, als würden sich die Nordspanier bewusst an den hässlichsten Orten ihres Landes versammeln uns alles schöne meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Am Abend wurde es sogar noch härter. Wir erreichten einen Ort namens Comillas, der mit Abstand der schönste Ort war, den wir bisher in Spanien zu Gesicht bekommen hatten. Von weitem schon thronten uns Burgen, Villen, Kathedralen und Schlösser von den Berggipfeln entgegen. Doch als wir näher kamen um sie uns genauer anzusehen, stellten wir fest, dass es sich bei all diesen Gebäuden um Ruinen handelte. Wie konnte man so schöne und so aufwändige Gebäude so verfallen lassen? Man muss sich dabei ja auch Bewusst machen, wie viel Arbeit und Zeit der Bau dieser Objekte gekostet hatte. Menschen hatten ihr ganzes Leben damit verbracht, diese Bauwerke zu errichten. Andere ließen beim Bau sogar ihr Leben. Und nun, einige Generationen später, gibt es niemanden mehr, der dieses Erbe ehrt. Es mag fraglich sein, ob der Bau dieser Gebäude etwas Positives war oder nicht, doch er war ein Teil der Geschichte und ein Teil des Vermächtnisses unserer Vorfahren. Wie ehrlos müssen wir geworden sein, dass wir mit ansehen, wie alles zerfällt, ohne etwas dagegen zu tun? Vor allem an Orten, die davon leben, dass Gebäude wie diese Touristen anziehen. Klar kann man sagen, dass alles vergänglich ist und dass auch diese Bauten nur eine gewisse Zeit ihren Platz auf der Erde hatten. Im Buddhismus gibt es Mönche, die Stunden und Tage damit verbringen, aufwendige Kunstwerke zu gestalten, nur um sie danach wieder zu zerstören. Doch sie tun dies, um die Lektion der Vergänglichkeit zu lernen und um zu begreifen, dass es sinnlos ist, etwas festhalten zu wollen. Diese Gebäude hier jedoch verfallen nicht, weil die Menschen daraus eine Lehre ziehen wollen. Sie verfallen aus Unachtsamkeit und weil wir verlernt haben, den Dingen einen Wert beizumessen. Wir bauen einfach etwas neues und glauben, dass alles neue eh besser ist, als das alte. Wir, die wir jetzt leben, sind nicht mehr auf das Wissen unserer Ahnen angewiesen, sondern können selbst alles besser. Dies ist einer der Flüche unserer modernen Zeit. Und einer der Gründe, warum wir uns immer schneller auf unseren eigenen Untergang zubewegen.

In Cóbreces, einer kleinen Ortschaft, durch die wir am frühen Nachmittag wanderten, sah es ganz ähnlich aus. Es gab eine prunkvolle Kirche, die man bereits Kilometer zuvor hatte am Horizont erstrahlen sehen. Doch sus der Nähe lag auch diese Verlassen und Halb verfallen vor uns. Daneben stand ein ebenso prunkvolles Kloster, das jedoch noch immer belebt und bewohnt war. Zur Klosteranlage gehörte auch eine Herberge für Pilger. Nach einigem Suchen fand ich eine Tür, um in den Innenhof zu gelangen, wo ich einem Mönch in einer Robe und einer Frau um die vierzig begegnete. Ich erzählte den beiden von unserer Reise und bat um einen Schlafplatz. Die Frau war gerade dabei English zu lernen und freute sie riesig über die Gelegenheit, es einmal in einer Realsituation ausprobieren zu können. Auch der Mönch war äußerst interessiert und bat die Frau daher, immer wieder neue und tiefere Fragen auf Englisch zu stellen und dann für ihn zu übersetzen. Er war genau der Mönch, der für die Herberge zuständig war. Er war es, der entscheiden konnte, ob wir umsonst bleiben durften oder nicht. Nach dem kurzen Gespräch verabschiedete sich die Frau und bat mich darum, wiederzukommen und noch etwas Englisch mit ihr zu üben, für den Fall, dass wir wirklich hier übernachteten. Der Mönch begleitete mich zum Tor, wo wir auf Heiko und unsere Wagen trafen. Dort inspizierte er aufmerksam unser Reisegepäck und fragte immer wieder, ob es denn tatsächlich möglich sei, ohne Geld zu reisen. Wir unterhielten uns noch weitere zehn Minuten mit ihm, dann lehnte er uns ab und schickte uns in das sieben Kilometer entfernte Comillas. Wir waren baff. Nach diesem Vorgespräch hatten wir damit als allerletztes gerechnet. Die Übernachtung in der Herberge hätte 5€ gekostet und er hatte alle Entscheidungsgewalt, die er brauchte. Dazu hatte ich erzählt, dass wir uns mit Naturmedizin beschäftigten und damit gerne einen anderen Beitrag leisten konnten. Der Mönch war auf einem Auge blind und hatte sichtliche Probleme mit dem Magen-Darm-Trakt. Er hätte unsere Hilfe also wirklich gut gebrauchen können. Hinzu kam, dass auch die Frau, die ganz offensichtlich mit ihm befreundet war, darum gebeten hatte, uns aufzunehmen. Und auch er selbst war so fasziniert gewesen, dass er am liebsten gleich mitgewandert wäre. Wenn sein Kloster arm gewesen wäre und genauso im Zerfall begriffen wie die anliegende Kirche, dann hätten wir es vielleicht auch noch verstanden, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, soweit man es aus dem Hof erkennen konnte, lebten die Mönche in einem größeren Reichtum, als der Großteil der spanischen Bevölkerung, der einem gewöhnlichen Beruf nachging. Was für ein Kapitalistenschwein musste man sein, wenn man in einer solchen Situation als Mann Gottes dennoch die Hilfe verweigert? Wegen insgesamt 10€!

Wenige Minuten später machten wir eine ganz ähnliche Erfahrung noch einmal. Diesmal trug sie das Kleid von zwei jungen, deutschen Pilgern, die gar nicht ganz so jung waren wie wir dachten. Wir hatten sie bereits in den letzten Tagen einige Male getroffen und dabei auf knapp 20 Jahre geschätzt, vor allem wegen ihres Verhaltens. Sie hatten einen knappen Monat Zeit, um den Jakobsweg von Bilbao aus zu meistern und verbrachten jede wanderfreie Minute damit, sich irgendwo ein Bier zu zischen. Damit sie es bis Santiago schaffen konnten, mussten sie mindestens 35km pro Tag laufen und das hatten sie in den ersten Tagen auch knallhart durchgezogen. Gestern hatten wir einen der beiden dann mit einem Wanderstab als Krücke und einem verbundenem Fuß gesehen. Er hatte jede Menge Blasen bekommen und konnte kaum noch auftreten, was ihn aber nicht davon abhielt, von einer Bar zur nächsten zu hinken. Nun saß er mit seinem Pilgerkumpel in der Bar unterhalb des Klosters und wartete, bis die Herberge öffnete.

Als wir sie entdeckten, sprachen wir sie kurz an und kümmerten uns dann um seinen Fuß. Die Firma Comped hatte uns vor Reisebeginn mit reichlich Blasenpflastern ausgestattet, die wir (dem Himmel sei Dank!) noch fast nicht gebraucht hatten. Nun konnten wir einen Teil davon verschenken und damit die Reise des jungen Mannes retten. Außerdem gab Heiko ihm den Tipp, seine Schuhe in den Pausen häufiger auszuziehen und sich bei nächster Gelegenheit eine neue Sohleneinlage zu kaufen, die sich nicht nach Beton anfühlte. Auch dieser Pilger hatte Probleme mit zu wenig Sauerstoff im Blut und daher eine sehr anfällige Fußhaut. Bei ihm war dies jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach auf´s Rauchen zurückzuführen.

Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir zwar das die beiden bereits über dreißig waren, erhielten jedoch keinerlei Dank für unsere Unterstützung. Natürlich sagte er kurz „Danke!“ aber es war eine reine Höflichkeitsfloskel ohne Herzlichkeit. Und obwohl die beiden wussten, dass wir ohne Geld reisten und gerade vom Kloster abgelehnt worden waren, kam es ihnen nicht in den Sinn, zu fragen, ob auch wir vielleicht etwas Hilfe brauchten. Nicht einmal eine Einladung auf ein Bier oder einen Platz an ihrem Tisch kam zurück. Nicht das wir es angenommen hätten, aber es traf uns doch ein wenig, so gar keine Dankbarkeit entgegengebracht zu bekommen, nachdem wir sie wirklich vor dem Ende ihrer Reise bewahrt hatten.

Beide, die Jungs wie auch der Mönch hatten sich von uns das genommen was sie brauchten, ohne auch nur ein Gefühl dafür zu haben, was es bedeutete, irgendetwas zurückzugeben. Und wenn es nur eine nette Geste der Anerkennung war.

Wie oft kommt es in unserer Gesellschaft vor, dass wir diesen Austausch gegenseitigen Nutzens komplett durch Geld ersetzt haben? Wir geben jemandem Geld und haben dann das Gefühl, dass wir ihn gekauft haben. Er gehört uns und wir können machen was wir wollen. Sobald die Seminarteilnehmer unserer Kurse Geld auf unser Konto überwiesen hatten, entstand eine Erwartungshaltung, die besagte, dass wir ihre Probleme lösen mussten. Nicht immer, auf keinen Fall, aber doch häufiger als gedacht.

Doch noch etwas war an den Begegnungen mit den drei Männern auffällig. Alle drei waren wieder deutliche Spiegel unserer eigenen Probleme gewesen. Vor allem für mich. Das Thema mit dem Geben und Nehmen, mit der Unsicherheit, ob ich für das was ich bekam auch ausreichend zurückgeben konnte, beschäftigte mich ja schon eine ganze Weile. Auch die Probleme mit dem Augenlicht und mit der Verdauung, die der Mönch hatte, waren mir nicht unbekannt. Und schließlich waren die beiden Pilger noch immer in ihrer Jungendphase, obwohl sie bereits weit über dreißig waren. Sie strahlten damit ein Bild nach außen, dass sie eigentlich nicht sein wollten. Und dies war ein Thema, dass auch mich noch immer stark beschäftigte.

Dass der Mönch uns abgelehnt hatte, stellte sich im Nachhinein als absoluter Segen heraus. Zunächst einmal kamen wir an einem Restaurant vorbei, in der wir nach einer kurzen Vorstellung zum Essen eingeladen wurden. Wir bekamen ein komplettes Menü, mit Eintopf als Vorspeise, Schweinefleisch, Pommes und Tomatensause als Hauptgericht und Mouse o Chocolat als Nachspeise. Dazu ein kaltes Getränk und zum Abschluss eine heiße Schokolade. Nach der Vorspeise waren wir Satt, nach dem Hauptgericht komplett überfüllt und nach der Nachspeise hatten wir Mühe uns nicht zu übergeben. Als wir uns verabschiedeten, bat ich die Bedienung, die Chefin zu holen, die uns das Essen ermöglicht hatte, um uns bei ihr zu bedanken. Die junge Frau verstand mich jedoch falsch und holte stattdessen den Chefkoch, der nun wahrscheinlich zum ersten Mal in seiner Karriere von einem Gast persönlich für sein Essen gelobt wurde. Es mag ein Missverständnis gewesen sein, doch es führte dazu, dass wir für unser Festmahl wirklich etwas zurückgeben konnten, dass dem Mann den Tag versüßte. Bei der Chefin bedankten wir uns dann natürlich auch noch.

Auf dem restlichen Weg bis nach Comillas büßten wir für unsere Fressattacke. Wir konnten uns kaum noch rühren und überlegten bereits, ob wie den Berg nicht lieber hinunterrollen sollten.

Als wir im Ort angekommen waren, trafen wir in der Kirche auf einen Pfarrer, der unser Bild von der Kirche wieder um 180° wendete. Ohne eine Sekunde zu zögern, zeigte er uns ein Haus, in dem wir Mattratzen zum Schlafen, eine Badewanne, einen Internetzugang und jede Menge Ruhe fanden. Anschließend führte er uns in ein Lokal, in dem wir auf seine Rechnung Abendessen und Frühstücken konnten, wann immer es uns beliebte. Wir warteten damit noch bis um 21:00Uhr, damit wieder etwas in unsere Mägen passte. In der Zwischenzeit schauten wir uns die schöne kleine Stadt an und trafen dabei auf Maria und Javier. Maria ist eine Spanierin, die seit sechs Monaten hier lebt und mit der wir ein langes und interessantes Gespräch führten. Javier ist der Obdachlose, den wir bereits in Loredo getroffen hatten und der ebenfalls auf dem Pilgerweg war. Doch von diesen beiden Begegnungen werde ich morgen berichten.

Spruch des Tages: Nichts ist so Aufregend wie Gelassenheit (Afrikanische Weisheit)

 

Höhenmeter: 600m

Tagesetappe 20 km

Gesamtstrecke: 2585,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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