Tag 128: San Vicente de la Barquera

von Franz Bujor
09.05.2014 21:17 Uhr

Auf dem Platz vor dem Rathaus trafen wir auf eine Frau namens Maria, mit der wir ins Gespräch kamen, weil wir sie fragten, ob es in der Nähe irgendwo einen Internetzugang gäbe. Sie erzählte uns, dass sie ebenfalls viel in der Welt herumgekommen war und auch jetzt am liebsten gleich wieder losziehen Würde. Sie war eines von 8 Geschwistern und hatte bereits für einige Jahre in England in der Schweiz und in Frankreich gelebt. Vor sechs Monaten war sie dann hier her gezogen. Sie hatte nach einem ruhigen und schönen Ort mit viel Natur gesucht und war dabei auf Comillas gestoßen. Wir konnten ihre Wahl gut nachvollziehen, denn der Ort war wirklich schön, wirklich ruhig und lag in einer traumhaften Umgebung. Leider kamen wir nicht durch die Wälder, die sie uns beschrieben hatte, aber von dem was sie erzählte mussten sie der Hammer sein.

„Erzählt bloß niemandem, dass es hier schön ist!“ sagte sie mit einem Lachen, „dann kommen nur alle hier her und die Ruhe ist dahin. Es ist schon ganz gut so, dass jeder sagt, hier sei nichts los. Genau das gefällt mir an dieser Stadt. Es gibt Vögel, das Meer, eine schöne Bucht und tolle Wälder. Mehr braucht man doch nicht. Alles andere verursacht nur Stress.“ Ganz ohne Geld zu leben wäre ihr nicht möglich, weil sie einen Sohn hatte, um den sie sich kümmern musste. Doch sie versuchte so einfach und erfüllt wie möglich zu leben, ohne dabei den Fokus auf Geld oder Reichtümer zu legen. Einer ihrer Brüder hatte sich bis in die Chefetage eines großen Stahlunternehmens hochgearbeitet und verdiente dort jede Menge Geld. „Jeder hat seinen eigenen Weg und der meines Bruders ist für mich genauso Ok, wie jeder andere, doch wirklich Glücklich ist er mit dem was er erreicht hat nicht. Er ist noch immer mit meiner Schwester verstritten, weil sie einmal gesagt hatte, dass sie keinen Stolz für das empfindet, was er erreicht hatte.“ Er mochte also reich geworden sein, doch im Frieden mit sich selbst war er nicht. Er war noch immer genauso abhängig von der Anerkennung anderer, wie eh und je.

Das zweite Thema auf das wir kamen war Religion. Es war naheliegend, weil wir von unseren unterschiedlichen Erfahrungen mit den Vertretern der Kirche erzählten. Maria berichtete uns, dass sie zwar katholisch aufgewachsen war, aber bereits früh begonnen hatte, fragen zu stellen, die ihren Eltern unangenehm waren. „In der Kirche heißt es immer, dass wir alles Sünder sind, die auf der Welt vor sich hinvegetieren um ihre Schuld zu büßen und zu leiden, bis sie erlöst werden. Es heißt, man kann niemandem trauen, weil jeder von Grund auf böse und im Bund mit dem Teufel ist. Und gleichzeitig soll man aber seinen nächsten Lieben und ihm Helfen wo es nur geht. Wie soll das funktionieren? Wenn ich auf der einen Seite niemandem trauen kann, weil es nur Sünder gibt, wie kann ich dann auf der anderen Seite wirklich für sie da sein?“

„Eigentlich,“ meinte sie, „dürfte es nur eine einzige Religion auf dieser Welt geben, denn alle meinen im Herzen exakt das Selbe. Doch stattdessen gibt es hunderte, die behaupten, die einzig wahre zu sein. Einige davon haben sogar eine genaue Vorstellung davon, wie viele Plätze im Himmel für gute Menschen frei sind. Ist das nicht verrückt? Wie kann man den Platzkarten für den Himmel haben? Für mich sind all diese Religionen keine Religionen. Es sind Interessenverbände, denen es um Macht, Geld und Prestige geht, aber mit Religion hat das nichts zu tun. Dafür braucht es Offenheit und eine wirkliche Verbindung zu Gott und zu den Menschen untereinander.“

In diesem Moment sahen wir Javier, den Obdachlosen, der ebenfalls ohne Geld auf dem Jakobsweg war und den wir bereits in Loredo getroffen hatten. Wir begrüßten ihn freudig und holten ihn herbei. Er war ein wirklich herzensguter Mensch und unglaublich sympathisch, doch man sah ihm an, dass er bereits lange auf der Straße lebte. Dennoch begrüßte Maria ihn gleich mit Küsschen auf die Wange und holte ihn ohne jedes Vorurteil in unseren Kreis. Diese Geste zeigte, mehr als alles andere, dass sie das, was sie gesagt hatte, auch wirklich ernst meinte. Es ging ihr um die Menschen und um das was in ihnen steckte. Alles andere hatte für sie keine Bedeutung.

Javier war erstaunt darüber, uns hier anzutreffen, weil er geglaubt hatte, dass wir schon viel weiter in Richtung Santiago waren. Er reiste gemütlich und machte sich nichts aus langen Etappen. Uns ging es genauso und so war es kein Wunder, dass sich unsere Wege immer wieder kreuzten. Er fragte Maria nach einem Platz, an dem man in dieser Stadt gut betteln konnte und sie schlugt ihm den Kirchenvorplatz vor. „Heute brauche ich nicht viel, denn ich wurde von zwei französischen Pilgern zum Essen eingeladen. Wir treffen uns um halb neun,“ sagte er. Auch um einen Schlafplatz machte er sich keine Sorgen. Er schlief einfach irgendwo, wenns sein musste auf der Straße. Auf der einen Seite bewunderten wir das Urvertrauen, dass darin steckte. Doch gleichzeitig entging uns auch nicht die Traurigkeit, die in seinen Worten mitschwang. Es war nicht nur das Gefühl überall zu hause zu sein, sondern auch das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören. Er fühlte sich nicht willkommen und sah sich selbst als Außenseiter. Er war nicht unglücklich deswegen, weil er die Freiheit des Vogelfreien genoss, doch es warf einen großen Schatten auf seine Fröhlichkeit. Heute trafen wir ihn in San Vicente de la Barquera erneut und er erzählte uns, dass er nun komplett ohne Essen und Geld war. Heute musste es mit dem Betteln also klappen, sonst würde es ein hungriger Abend. Wir hatten gerade ein Brot geschenkt bekommen und vermachten es ihm. In den Bars gab es mehr als genug für uns, so dass wir das Brot nicht brauchten. Wir fragten ihn, ob er auch in den Läden um Nahrung bat, aber er verneinte. Er zog es vor zu betteln und sich sein Essen selbst zu kaufen. Warum er sich das Leben damit so schwer machte, verstanden wir nicht ganz. Obwohl wir nachvollziehen konnten, dass er auf Boccadillos keine Lust hatte, denn die hingen uns auch zum Hals raus. Das Essen mit den Franzosen war das erste Mal gewesen, seit er den Jakobsweg angetreten hatte, an dem er in einem Restaurant an einem Tisch gesessen und von einem Teller gegessen hatte.

Nach dem Gespräch mit Maria und Javier brachen wir dann wirklich zu unserer Besichtigungsrunde durch die Stadt auf, um noch einigermaßen pünktlich zu unserem Abendessen in der Bar zurück zu sein. Wir bekamen Kalbsfilet mit Pommes und gebratener Paprika, was wirklich gut schmeckte. Das Frühstück heute morgen zeigte jedoch, dass die Spanier wirklich nichts vom Frühstücken halten. Normalerweise bestand es aus einem Milchkaffee. Wir wählten stattdessen einen Tee und bekamen ein Croissant dazu. Das war alles. Nicht das wir uns nicht darüber freuten, aber unter dem Begriff Frühstück hatten wir uns doch etwas anderes vorgestellt.

Auf dem weiteren Weg in Richtung San Vicente de la Barquera stellten wir fest, dass hier in Spanien erstaunlich oft Männer- und Frauengruppen getrennt von einander unterwegs waren. Selbst wenn sich Pärchen trafen, war es fast immer so, dass die Männer gemeinsam gingen und die Frauen ein Stück weiter hinten oder vorne. Es wirkte fast so, als gäbe es außer der gemeinsamen Kindeserziehung fast keine Schnittpunkte in ihren Leben. Oder zumindest, als versuchten sie bewusst, die gemeinsamen Schnittpunkte so gering wie möglich zu halten.

Kurz vor Mittag machten wir eine Pause auf einer Alm, um dort die Ruhe und die Aussicht zu genießen. Aus der Ruhe wurde jedoch nichts, denn auf der Wiese gegenüber standen ein gutes Dutzend Kühe, die alle Kuhglocken umgebunden hatten. Warum band man den armen Tieren diese Glocken um? Sie standen auf einer Weide und konnten dort nicht weg. Die Weide war auch nicht so groß, dass man die Kühe ohne Glocke auf ihr nicht wiedergefunden hätte. Wie kam man auf die Idee, solche Lärmquellen an den einzigen Orten einzuführen, an denen es hier noch Ruhe gab. In den letzten Tagen hatten wir nicht nur Unmengen an Kühen mit nervigen Glocken um den Hals gesehen, sondern auch Pferde, Esel und Ziegen mit dem gleichen Schicksal. Wie mussten sich die Tiere fühlen, wenn sie sich nicht bewegen konnten, ohne ein lautes Gebimmel auszulösen, dass direkt neben ihrem feinen Gehör erklang? Einige Kühe versuchten sich so wenig wie möglich zu bewegen um das Klingeln zu vermeiden. Andere hatten bereits resigniert und verhielten sich ganz normal. Doch positiv was das ganze für keinen. Weder für die Tiere, noch für die Menschen.

Von der Alm auf führte uns der Weg über einen Golfplatz und über mehrere Hügelkuppen nach San Vicente de la Barquera. Dort mussten wir auf den Höchsten Punkt der Stadt, um zur Kirche und zur Herberge zu gelangen. Neben der Kirche gab es eine christliche Hilfseinrichtung mit dem Namen „Das Herz der Maria“. Dort fragte ich nach einem Schlafplatz. Der Mann im Sekretariat war nicht gerade freundlich und sein Interesse galt vor allem einer Methode um mich so schnell wie möglich wieder los zu werden. Zu diesem Zweck gab er mir 20€ und meinte ich solle einfach in die Herberge gehen und dort schlafen. Das taten wir dann auch.

Spruch des Tages: Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist zu beobachten ohne zu bewerten. (Krishnamurti)

Höhenmeter: 580m

Tagesetappe 16 km

Gesamtstrecke: 2601,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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