Tag 1331: Das Land der Extreme

von Heiko Gärtner
24.01.2018 17:31 Uhr

03.-04.08.2017

Wenn man eine Sache nach vier Monaten des Reisens über die britischen Inseln auf jeden Fall ohne ein schlechtes Gewissen sagen kann ist, dass sie das Gebiet mit den größten Extremen sind. Nirgendwo sonst haben wir so viel Ambivalenz bei den Menschen, wie auch beim Wetter und beim Wandern selbst erlebt. In England machten wir am Anfang im Schnitt 12km lange Etappen und hatten das Gefühl, niemals im Norden anzukommen. In Schottland und hier in Irland lag unser Schnitt dann plötzlich bei 25-30km am Tag, obwohl wir uns hier eigentlich Zeit lassen wollten. Nirgendwo sonst haben wir erlebt, dass das Wetter zum Teil 8 bis 10 Mal am Tag eine 180°-Wendung macht und zwischen Platzregen, Gewitter, Sturm und tropischer Sommer-Sonne wechselt.

Felsformationen am Meer

Felsformationen am Meer

Nirgendwo sonst haben wir so viel schlechtes, ungesundes und unkulinarisches Essen bekommen wie hier und sind gleichzeitig im Wechsel immer wieder auch so reich beschenkt worden. Nirgendwo haben wir gleichzeitig so viel Armut und so viel Reichtum auf einen Haufen gesehen, erst recht nicht bei ein und denselben Menschen. Doch am heftigsten ist die Ambivalenz bei den Menschen selbst, wo sie fast schon an Perversion grenzt. Nirgendwo haben wir so viel Missgunst, Ablehnung und Misstrauen erfahren wie hier. Gleichzeitig haben wir aber auch nirgendwo so viele Spenden in so kurzer Zeit bekommen, wurden so oft für Vorträge und Fernsehberichte eingeladen und so sehr wie Ehrengäste behandelt wie hier. Wir haben heute beim Wandern die vergangenen Wochen noch einmal reflektiert und sind fast ein wenig erschrocken, was alles so passiert ist. Wir wurden bei der Polizei angezeigt, weil wir mit offizieller Erlaubnis der Gebäudeverwalterin in einer Kirche übernachtet haben. Wir wurden von Kindern belästigt und mit Steinen beworfen und anschließend wieder von der Polizei verhört, weil Heiko die Attacken unterbinden wollte. Man hat uns Essen geschenkt und danach unter wilden Beschimpfungen wieder weggenommen. Man hatte uns wie Verbrecher, Abschaum und Aussätzige behandelt, uns von Grundstücken verwiesen und als potentielle Terroristen aus einem Park geworfen. Und dann wiederum bekamen wir von einem vorbeifahrenden Auto 100€ in die Hand gedrückt, wurden als Maskottchen für eine ganze Ortschaft betrachtet, durften umsonst mit einer Fähre fahren und wurden als Heiler und Glaubensbringer geehrt uns geachtet. Heute wurde ich sogar gebeten, ein älteres Ehepaar zu segnen und vor einigen Wochen sollte ich zwei Halsketten durch ein Gebet mit einer heilenden und schützenden Kraft ausstatten. An Orten, wie Rannoch Station, an denen es nur zwei Menschen gab und sonst nichts, waren wir herzlich empfangen und aufgenommen worden, während man uns andernorts die Tür vor der Nase zu schlug.

Ein beeindruckendes Bollwerk über dem Wasser

Ein beeindruckendes Bollwerk über dem Wasser

Attackierende Hunde

Auch heute gab es wieder einige von solch bezeichnenden Situationen. Nach einer langen Wanderung durchs Grüne kamen wir an einem einzelnen Haus vorbei, in dessen Garten eine dicke Frau mit fünf Hunden stand. Alle fünf kamen laut kläffend auf uns zugerannt und umringten uns wie bei einer Herzjagd. Die Frau schaute nur zu, spielte in ihrem Handy und rief die Hunde einige Male motivationslos zu sich. Als niemand reagierte, gab sie es auf, bis Heiko schließlich der Kragen platzte und er mit der gleichen Aggressivität wie die Hunde zu verstehen gab, dass sie nun endlich ihre verfluchten Köter unter Kontrolle bringen sollte. Die Frau war sich nicht einmal einer Schuld bewusst sondern betonte nur immer wieder, dass Heiko kein Recht hatte, mit ihr zu sprechen, da er sich auf ihrem Privatgrundstück befand. „Ich stehe auf Ihrem Privatgrund?“ fragte er aufgebracht, „Sorgen Sie dafür, dass ihre Hunde nicht in meine Privatsphäre eingreifen, dann muss ich auch nicht ihr bescheuertes Grundstück betreten! Das ist Körperverletzung, was sie hier tun! Also sorgen Sie gefälligst dafür, dass sie das unter Kontrolle bekommen!“

Historische Pferdekutschen auf der Landstrasse

Historische Pferdekutschen auf der Landstrasse

„Wieso?“ fragte die Frau verständnislos, „Die Hunde beißen euch doch gar nicht! Sie bellen doch nur!“

Rechtlich gesehen hatte sie damit wahrscheinlich sogar Recht und das machte es gleich noch perverser. Die Situation war nicht anders, als wenn sie von fünf bewaffneten Männern umringt, verfolgt und bedroht worden wäre. Konnte man dann auch sagen: „Wieso regen Sie sich denn auf, es tut ihnen doch noch keiner was, die drohen doch nur?“ Muss man wirklich warten bis man gebissen oder verletzt wird, weil man sonst kein Recht hat, sich zu verteidigen? „Das sind eben Hunde, die bellen nun mal!“ sagen wir dann. Aber stimmt das? Ist es nicht sogar ein komplett unnatürliches und krankhaftes Verhalten eines Wolfes, laut herumzuschreien während entweder ein Feind oder eine Beute vor ihm steht? In beiden Fällen würde er in der Natur das Gegenteil von dem Erreichen, was er erreichen will und doch sagen wir, das Verhalten sei natürlich. Sich und andere zu zerstören ist für uns natürlich. Es entspricht dem Verhalten, das wir selbst permanent an den Tag legen.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand. (Charles Darwin)

Höhenmeter. 40m

Tagesetappe: 32 km

Gesamtstrecke: 25.163,27 km

Wetter: bewölkt, teilweise Regen, teilweise Sonne

Etappenziel: Konferrenzraum des Rathauses, Beauvoir, Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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