Tag 1381 bis 1383: Weinernte und Atomkraft

von Heiko Gärtner
14.03.2018 07:51 Uhr

23.09.2017

Zum ersten Mal in diesem Jahr wurden wir heute mit frischem Wein von den Feldern beschenkt. Also genaugenommen, waren die Felder einfach nur da, aber wir haben sie kurzerhand als Geschenk betrachtet. Zumindest an den Orten, an denen nicht gerade ein Bauer mit seinem Vollernter unterwegs war. Ich weiß nicht, ob ihr schon einmal einem Weinvollernter zugeschaut habt, aber es ist durchaus ein beeindruckendes Gerät. Zu aller erst ist er einmal beeindruckend laut. Es macht ungefähr so viel Lärm wie ein Mähdrescher, obwohl er nur ein Drittel seiner Größe besitzt. Dafür ist er relativ lustig aufgebaut, extrem schlank und hoch, so dass er mitten über eine Weinrebe fahren kann, die er dann so schüttelt, dass alle Weintrauben abfallen und in seitlichen Greifarmen liegen bleiben. Binnen Sekunden hat er eine Rebe fast vollständig leer geschüttelt, wofür ein einzelner Arbeiter mindestens 10 Minuten gebraucht hätte. Selbst wenn der Vollernter also das Zehnfache an der Pflanze zurücklässt, wie ein Feldarbeiter, lohnt sich das Gerät noch immer.

Der Weinvollernter ersetzt eine Menge Arbeitsplätze

Der Weinvollernter ersetzt eine Menge Arbeitsplätze

Anders hingegen war es bei der Apfelernte. Hier musste noch immer von Hand gepflückt werden und dies rief wieder ein ganzes Bataillon an Gastarbeitern auf den Plan. Dieses Mal stammten sie aus Polen aber ansonsten unterschied sich nichts zur Arbeitssituation in Italien, Bulgarien und Rumänien. Nahrungsmittelproduktion ist früher wie heute fest mit Sklavenarbeit verbunden. Daran hat sich in all den Jahren der Zivilisation niemals etwas geändert. Wir beuten unsere heutigen Felsarbeiter noch genauso aus wie die Römer ihre versklavten Wilden und die amerikanischen Siedler, die schwarzafrikanischen Sklaven. Es sieht heute ein bisschen anders aus, es gibt ein paar mehr Rechte und man bekommt einen lächerlichen Geldbetrag, aber sonst ist alles beim Alten. Zumindest überall dort, wo man keine vollautomatischen Maschinen einsetzen kann, die in gewisser Weise dann so eine Art Sklave auf Kunststoff und Stahl sind.

Im Hintergrund der Weinfelder zeichnet sich bereits das Atomkraftwerk ab.

Im Hintergrund der Weinfelder zeichnet sich bereits das Atomkraftwerk ab.

Ein frühes Ankommen ist uns auch heute nicht vergönnt gewesen. Wir sind einfach auf dem Stand von Irland, dass muss man im Moment akzeptieren. Wenn es nicht später Nachmittag ist, klappt nichts, also beschlossen wir, dass wir dann ebenso gut auch chillen und die Sonne genießen konnten, bevor wir unsere zweite Hälfte der Wanderung antraten. Bei dieser kamen wir dann wieder an einem Atomkraftwerk vorbei, das alles bisher dagewesene zu übertreffen schien. Wieder hatte man Gewächshäuser und Weinstöcke direkt daneben gepflanzt und wieder gab es regelrechte Kühlturmhaufen, die unvorstellbare Ausmaße hatten.

Das Kernstück des Kraftwerks mit Reaktorkuppel.

Das Kernstück des Kraftwerks mit Reaktorkuppel.

Erst deutlich später wurde mir bewusst, dass die vielen Ähnlichkeiten von diesem und unserem letzten Atomkraftwerk darauf zurückzuführen waren, dass wir uns wieder an exakt der gleichen Stelle befanden. Es war genau das gleiche Kraftwerk, an dem wir nun zufällig wieder vorbei kamen. Nur eben von der anderen Seite, weshalb es uns nicht sofort auffiel. Stattdessen aber merkte man von dieser Seite aus den Verfall, den die Gebäude aufzuweisen hatten. Teilweise waren aus den Nebengebäuden sogar die Fenster ausgeschlagen worden. Die Reaktorkuppel war von einer dicken Schicht Rost und Moos bedeckt und an mehreren Stellen ragten dicke Metallträger aus den Kühltürmen, die nicht wirkten, als gehörten sie dort hin. Wenn Atomkraft wirklich so gefährlich wäre, wie wir glauben, dann dürfte so etwas in unserer Gesellschaft nicht vorkommen.

Besonders Vertrauenserweckend wrkt das Kernkraftwerk nicht mehr.

Besonders Vertrauenserweckend wrkt das Kernkraftwerk nicht mehr.

Ebenso erstaunlich waren die zwei kleinen Stromleitungen, die vom Kraftwerk wegführten. Dies war das größte Atomkraftwerk, das wir je gesehen hatten und gerade einmal zwei winzige Leitungen wurden davon in die Umgebung geleitet? Erinnert ihr euch noch an die Umspannwerke in Schottland und England, die überhaupt keine Kraftwerke in der Nähe hatten und von denen so überdimensionierte Leitungen abgingen, dass wir uns nicht auch nur im Ansatz dessen Sinn erklären konnten? Wie passten diese beiden Entdeckungen zusammen? Irgendetwas stimmt hier doch ganz und gar nicht, oder?

Der Bürgermeister und seine Assistentin zeigten sich bei unserer Ankunft wieder einmal von ihrer allerbesten Seite. Die Assistentin erwischte ich persönlich, bzw. am Küchenfenster, durch das sie mir permanent Zigarettenrauch ins Gesicht blies. Der Bürgermeister selbst wurde am Telefon hinzugeschaltet. Gemeinsam überlegten sich die beiden dann in einer langwierigen Diskussion, welche der vielen Möglichkeiten hier im Ort wohl die schlechteste und schäbigste war. Es gab einen Städtischen Campingplatz mit Pavillons, eine städtische Urlaubspension, einen Festsaal, einen Besprechungssaal, ein Vereinshaus und einen Sportplatz mit Umkleidekabinen. Doch alles war zu gut für uns. Stattdessen boten sie uns schließlich den Fahrradschuppen des Gästehauses an, der komplett offen war und sich nur dadurch von einem Platz auf der Straße unterschied, dass man ihn mit einem Gitter verschließen konnte. Wer hätte gedacht, dass es nach der Hundehütte, die wir gestern vom Pfarrer angeboten bekommen hatten, heute sogar noch einmal eine Steigerung geben würde?

Besonders gesund scheint die Kombination aus Atomkraft und industrieller Landwirtschaft nicht zu sein.

Besonders gesund scheint die Kombination aus Atomkraft und industrieller Landwirtschaft nicht zu sein.

Dass ich der Frau diesen Platz um die Ohren schlug ist sicher keine Frage. Sie war deshalb nicht einmal überrascht, sondern sondern fühlte sich eher bestätigt. Doch so schnell wurde sie uns dennoch nicht los, denn wir trafen auf einen kleinen, etwas schmudddeligen aber sehr freundlichen Herren, der gerade dabei war die Kirche aufzuschließen. Von ihm und seiner Frau bekamen wir den Kommunionsraum zur Verfügung gestellt. Dabei erfuhren wir noch ein weiteres Detail über das angrenzende Atomkraftwerk, das wir kaum glauben konnten. Das es alt war, hatten wir uns ja bereits gedacht, aber nicht, dass es bereits 1956 in Betrieb genommen wurde. Dieses Kraftwerk läuft also seit über 60 Jahren!!! Könnt ihr euch das vorstellen? Der Bau musste also fast direkt nach dem zweiten Weltkrieg, vielleicht sogar schon vor Kriegsende begonnen haben. Seitdem ist es fast ununterbrochen durchgelaufen und läuft noch immer...

Ein Segelschiff hängt unter der Decke der Kirche

Ein Segelschiff hängt unter der Decke der Kirche

Unser Räumchen war ein üblicher Kommunionsraum, der seinen Zweck erfüllte und ansonsten auf jeden überflüssigen Luxus verzichtete. Das einzige, das es hier wie immer in diesen Räumen gab, waren Süßigkeiten. Es war fast ein bisschen so, als wollte man die Kinder mit kleinen Naschereien zum Glauben bekehren. Ihr kennt sicher die T-Shirts mit der Aufschrift „Come to the Dark Side! We have cockies!“

Die Christen scheinen nun mit Weingummi nachzuziehen. Ob man Kindern wohl deswegen verbietet, Süßigkeiten von Fremden anzunehmen?  Nicht weil sie entführt werden könnten, sondern weil es heißt „Du sollst keinen anderen Süßigkeitenspender neben mir haben!“?

Spruch des Tages: „Come to Jesus! We have sweets, too!“ (Spruch auf einem T-Shirt)

Höhenmeter 180m / 220m / 130m

Tagesetappe:  22km + 21km + 11km

Gesamtstrecke: 26.042,27km

Wetter: herbstlich, regnerisch, kalt

Etappenziel 1: Gemeinderaum der Stadt, Saint-Euphrône, Frankreich

Etappenziel 2: Gemeinderaum der Stadt, Bussy-le-Grand, Frankreich

Etappenziel 3: Gemeinderaum der Stadt, Chaume-lés-Baigneux , Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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