Bleierne Müdigkeit

von Franz Bujor
17.06.2014 23:25 Uhr

Am Abend lernten wir noch einige weitere deutsche Pilger kennen. Eigentlich wollten wir noch einiges Arbeiten und weiter an unseren Texten schreiben, doch wir wurden so lange in Gespräche verwickelt, dass dies kaum mehr möglich war. Wir erzählten kurz von dem was wir machten und woran wir gerade forschten und plötzlich wurden wir über und über mit Fragen gelöchert. Knapp zwei Stunden intensives Gespräch später stand die Frau plötzlich auf und meinte, sie ginge jetzt ins Bett. Von einem Moment aus den anderen, ohne eine vorherige Warnung. Keine zehn Sekunden später war sie verschwunden. Eine halbe Minute darauf verschwand auch der Mann mit der gleichen Begründung. Nicht einmal sein Bierglas brachte er in die Bar zurück. Wir waren etwas endtäuscht von diesem plötzlichen Gesprächsabbruch. Irgendwie fühlten wir uns ein bisschen ausgenutzt. Zwei Stunden hatten wir uns die Zeit genommen um verschiedenste Zusammenhänge zu erklären und um Tipps und Ideen für ein Leben in Gesundheit aufzuzeigen und am Ende erhielten wir nicht einmal ein Danke. Uns fiel auf, dass wir die gleiche Erfahrung schon öfter gemacht hatten. Es war irgendwie verrückt, ohne Geld und damit ständig von der Hilfe und Unterstützung anderer zu leben und dabei trotzdem noch ab und an das Gefühl zu haben, irgendwo zu kurz zu kommen. Manchmal hatten wir das Gefühl, dass wir zu viel nahmen und dass es deshalb nicht richtig ausgeglichen ist. Doch nach solchen Situationen verschwand dieses Gefühl definitiv. Vielleicht gaben wir nicht immer den Menschen etwas zurück, von denen wir etwas bekamen, doch genauso oft mochte es umgekehrt sein. Irgendwie glich es sich also immer aus.

Spannend war an diesem Abend auch, dass wir von alle deutschsprachigen Pilgern in der Herberge, die wir fragten ob es hier noch andere Nahrungsmitteldealer als die Bar gab, die gleiche Antwort erhielten: „Wir sind auf dem Weg hierher durch den ganzen Ort gelaufen und da gab es definitiv nichts!“ Als ich selbst einen kleinen Rundgang machte, fand ich gleich zwei Restaurants entlang des Weges, die uns beide mit Abendessen versorgten. Immer wenn ich mich darüber ärgere, wie unachtsam ich oft durchs Leben gehe, stelle ich kurz darauf fest, dass die meisten Menschen offensichtlich noch viel unaufmerksamer sind.

Der heutige Tag begann so gut wie er nur hätte beginnen können. Wir kamen an einem großen Baum mit seltsamen gelben Früchten vorbei. Gestern hatte uns ein Mann einige dieser Früchte geschenkt und sie waren mit das leckerste gewesen, das wir je gegessen hatten. Nun konnten wir selbst welche ernten. Ein Ehepaar aus Belgien kam vorbei und erntete gleich mit. Als der Hausbesitzer uns dabei erwischte meinte er: „Wartet, die guten hängen viel weiter oben!“ Dann ging er in seinen Schuppen, holte eine Harke und reichte sie uns als Erntehelfer.

Ganz so saftig ging es dann leider nicht weiter. Wir erreichten eine unglaublich hässliche Stadt, mit dem Namen O Porriño, die wir durchqueren mussten. Als wir vor zwei Jahren wegen eines Drehtermins nach Kiel fuhren, waren wir uns einig, dass dies die hässlichste Stadt der Welt sein müsse. Es machte den Eindruck, als sei jemand durch ganz Europa gereist, um alle Bausünden jeder Stadt zu studieren und sie anschließend in Kiel aneinanderzureihen. Wir vermuteten damals, dass es sich dabei wahrscheinlich um ein gescheitertes Projekt moderner Kunst handelte, für das sich der Architekt so sehr schämte, dass es nach Turkmenistan auswanderte um dort als Schafshirte in den Bergen zu leben. Nie im Leben hätten wir es uns träumen lassen, dass wir einmal in eine Stadt kommen, gegen die Kiel wie eine Perle wirken würde. Doch O Porriño war so grausam hässlich, dass Kiel damit niemals hätte mithalten können. Es gab in dieser Stadt einfach nichts außer Industriegebiete und Wohnbunker, Plattenbauten und Baracken. Und ausgerechnet hier gab es keine Pfeiler mehr, so dass wir uns hoffnungslos verliefen. Die Einheimischen nach dem Weg zu fragen war so hilfreich, wie eine Klobrille wenn man einen Ofen braucht. Den Weg nach Santiago konnten sie uns beschreiben und auch den Weg zur Autobahn, mit der man nach Portugal kam. Doch darüber hinaus wussten sie nichts. Das Ergebnis war eine Stunde Irrweg in brütender Mittagshitze durchs Industriegebiet entlang einer Schnellstraße.

Die Unmengen an Schwerindustrie erinnerten uns wieder an unsere Recherchen der letzten Tage. Aluminium ist leider nicht der einzige hoch giftige Stoff, den wir aus unserem Leben kaum noch aussperren können. In den letzten 150 Jahren haben wir es als Zivilisation geschafft, uns mit so vielen schädlichen Substanzen zu umgeben, dass es schwer ist den Überblick zu behalten. Ich weiß, dass dies keine guten Neuigkeiten sind, und dass es einem den Tag nicht unbedingt versüßt, sich damit zu beschäftigen, doch um etwas verändern zu können muss man zunächst einmal den Stand der Dinge kennen.

Neben Aluminium haben wir in unseren Alltag einige Leicht- und Schwermetalle integriert, durch deren Vergiftung man alleine die meisten heute existierenden Krankheiten erklären kann. Dabei kann man zunächst einmal grob in zwei unterschiedliche Arten von Giftmetallen unterscheiden. Die erste Gruppe besteht aus Metallen, die keinerlei Verwendung in unserem Organismus finden und die bereits ab äußerst geringen Dosen schädlich sind. Hierzu gehören neben Aluminium auch Blei, Quecksilber und Cadmium. Die zweite Gruppe besteht aus Metallen, die der Körper zwar braucht, die jedoch als Spurenelemente vorkommen sollten. Eine zu hohe Konzentration im Körper ist daher ebenfalls schädlich. Bei diesen Metallen handelt es sich unter anderem um Eisen, Kupfer, Zink, Arsen und Nickel.

Die Art und Weise mit der uns die verschiedenen Metalle schaden ist dabei immer recht ähnlich. Zum einen lagern sie sich in lebenswichtigen Organen, wie unserem Herzen, den Nieren, der Leber, dem Gehirn, sowie in den Nervenbahnen, den Knochen und den Gelenken an. Dadurch stören sie deren Funktionen oder verhindern eine richtige Durchblutung. Zum anderen blockieren die giftigen Metalle die Aufnahme von lebenswichtigen Mineralien und behindern so wichtige Stoffwechselprozesse. Im Falle von Aluminium löst dies neben Alzheimer, Krebs und Muskelschmerzen auch Anämie, ,Osteoporose, Dickdarmentzündung, Nierenentzündung, Nierenfunktionsstörung, Erkrankungen der Leber, Magenbeschwerden, Magengeschwür, Hyperaktivität, Verstopfung, Kopfschmerzen und Sodbrennen aus. Ich möchte hier noch einmal deutlich auf die perverse Ironie hinweisen, dass Aluminium der Hauptwirkstoff in Sodbrennmitteln ist, langfristig aber genau dies verursachen. Dadurch entsteht genau der Kreislauf, vor dem sogar der Beipackzettel warnt. Das Sodbrennen wird kurzfristig besser, dann aber umso schlimmer, so dass man zum nächsten Medikament greift. Es entsteht eine Abhängigkeit, die schließlich zu Krebs oder Demenz führt.

Ich möchte aber hier nicht noch einmal auf Aluminium sondern auf Blei eingehen. Anders als bei dem beliebten Leichtmetall ist die Schädlichkeit von Blei kein Geheimnis. Heute wird das Benzin nicht mehr verbleit und auch die meisten bleiernen Wasserrohre wurden nach und nach ersetzt. Zumindest ist dies die offizielle Angabe. Ob sich in bleifreiem Benzin wirklich kein Blei mehr befindet, haben wir noch nicht nachprüfen können. Fakt ist jedoch, dass die jahrhundertelange Verwendung dafür sorgte, dass das Schwermetall auch heute noch überall in unserer Atmosphäre, in der Erde, in der Nahrung und in unserem Wasser vorhanden ist. Und es wird auch weiterhin verwendet, vor allem in Farben und Rostschutzmitteln. Von Aufzeichnungen aus dem antiken Rom weiß man, dass es lange Zeit unter den reichen der Bevölkerung Mode war, Wein und andere Getränke aus Bleibechern zu trinken. Damals kam es nach diesem Genuss zu einer Häufung von Geisteskrankheiten, Gehirnschädigungen und Müdigkeitssyndromen. Es waren die selben Symptome, die auch heute wieder vermehrt auftreten. Die Frage ist jedoch, warum wir überhaupt jemals auf die Idee kamen, Blei-Tetraethyl in unser Benzin zu geben, wo doch bereits die Römer wussten, dass es uns schadet! Angeblich sollte es damals die Klopffestigkeit erhöhen. Ob das wirklich funktionierte, ist fraglich, denn heute kommen wir ja auch ohne das Blei aus. Dabei haben wir an den Motoren nicht viel verändert.

Blei lagert sich vor allem in den Knochen sowie in unseren Muskeln ab. Dass dies zu Müdigkeit und Trägheit führt ist seit langem Bekannt und brachte uns Sprichwörter wie „Bleierne Müdigkeit“ oder „Blei in den Beinen oder Knochen haben“ ein. Das fatale daran ist, dass es sich im Körper ähnlich wie Calcium verhält, jedoch ohne dessen Aufgabe erledigen zu können. Die Folge sind brüchige Knochen, verhärtete Sehnen, kaputte Gelenke und schmerzende Muskeln.

In den Achtziger Jahren untersuchte ein Schweizer Arzt eine seltsame häufung von Krebsfällen. Ihm war aufgefallen, dass in seinem Heimatort die Krebsrater bei den Patienten die in der Nähe der Hauptstraße lebten sieben Mal häufiger waren, als bei den Menschen, die außerhalb des Stadtkerns lebten. Bei seiner Studie fand er heraus, dass alle Krebspatienten einen erhöhten Bleiwert aufwiesen. Vorsorglich führte er bei einem Teil seiner Patienten daraufhin eine Schwermetallausleitung durch. Bei ihnen war die Krebsrate später um 90% geringer als bei den nichtbehandelten.

Besonders fatal wird eine Bleivergiftung jedoch dann, wenn das Blei mit Quecksilber in Berührung kommt. Hierdurch entsteht eine sogenannte synergetische Toxidität. Das bedeutet im Klartext, dass die Giftigkeit von Blei und Quecksilber um das zehnfache zunimmt, wenn beides gleichzeitig im Körper vorhanden ist. Bei der Bewertung der Giftigkeit von Metallen und chemischen Substanzen wird jedoch immer nur von einem einzigen Stoff ausgegangen. Wann immer von der Schulmedizin Grenzwerte für die Schädlichkeit eines beliebigen Stoffes festgelegt werden, gelten diese immer für junge, gesunde Männer, die nur diesen einen Schadstoff zu sich nehmen. Das Zusammenspiel mehrere Giftstoffe, sowie die Tatsache dass nicht jeder Mensch jung, männlich und absolut gesund ist, bleiben dabei komplett unberücksichtigt. Es liegt also nahe, dass die Symptome einer Bleivergiftung in leichterer Form schon deutlich früher eintreten können, als man vermuten würde. Zu den Symptomen zählen dabei 
Anämie, Schwindelgefühl, Libidoverlust, Impotenz, Epilepsie, Sterilität, Nierenentzündung, Schlaflosigkeit, rheumatoide Arthritis, Gicht, Osteoporose, Multiple Sklerose, Hyperaktivität, Erschöpfung, Reizbarkeit, Nervosität, Ängstlichkeit, Muskelschwäche, Hirnhautentzündung, geschwächte Funktion der Nebennieren und Bluthochdruck.

Langsam aber sicher kam in uns der Verdacht auf, dass man wirklich so gut wie jede Krankheit heilen konnte, in dem man einfach nur die ganzen Giftstoffe aus unserem Körper ausleitete und irgendwie dafür sorgte, dass keine neuen nachkamen. Die Frage lautet nur: Wie?

Als wir den Jakobsweg endlich wiederfanden, mussten wir feststellen, dass er nur in die entgegengesetzte Richtung markiert war und uns daher noch einige weitere Male in die Irre leitete. Einmal sogar über die Spitze eines Berges, den wir uns komplett hätten sparen können.

Eine gute Sache hatte die neugekürte hässlichste Stadt der Welt aber doch! Sie besaß einen Baumarkt, in dem wir Schrauben kaufen und eine Werkstatt in der wir uns eine Bohrmaschine leihen konnten. Mit beidem zusammen konnten wir nun endlich den nächsten wichtigen Reparaturschritt an unseren Wagen durchführen. Unser Aluminiumaufbau, der den wasserdichten Packsack umfasst, war bislang nur geklebt. Durch die großen Temperaturunterschiede und durch das viele Gerüttel hatte sich der Kleber jedoch gelöst und die Steckverbindungen waren locker geworden. Jetzt konnten wir sie ein für alle Mal fixieren.

Nachdem wir uns aus dem Wirrwarr des Verlaufens wieder befreit und den richtigen Weg wiedergefunden hatten, befanden wir uns mitten im Nirgendwo. Wir durchquerten einen riesigen Wald, der eine schöne kühlende Atmosphäre bot. Leider gefiel den Mücken der Wald genauso gut wie uns und so scharrten sie sich zu Tausenden entlang des Weges um uns.

Als wir die nächste Stadt erreichten, staunten wir nicht schlecht. Wir waren in Tui! Eigentlich hatten wir damit gerechnet, frühestens morgen hier anzukommen, doch offensichtlich waren wir schneller als gedacht. Tui ist die letzte Stadt vor der por

tugiesischen Grenze. Morgen wird damit unser vorerst letzter Tag in Spanien sein.

Die Stadt selbst war auch kein unbedingtes Highlight. Sie begrüßte uns mit einem Schrottplatz und einer toten Ratte, die davor auf der Straße lag. Sie hatte ein Einschussloch im Bauch.

Als Schlafplatz fanden wir hier eine Jugendherberge, die zusammen mit der angegliederten Schule von einem Mönchsorden geleitet wird. Heute Morgen ist die letzte Gruppe abgereist und so sind wir die einzigen Gäste im Haus. Der Swimmingpool ist leider abgeschlossen, sonst hätten wir auch noch baden gehen können.

In der Stadt versuchten wir noch etwas zu Essen aufzutreiben, was zur Abwechslung einmal nicht aus Weißbrot mit Wurst oder Käse bestand. Doch die Mission scheiterte. Wir bekamen zwar ausreichend Nahrung aber nur Bocadillos. Umso mehr freuen wir uns auf Portugal und hoffen dort auf eine kulinarische Abwechslung. Das wir das Land heute noch nicht erreichten war jedoch höchst wahrscheinlich ein Segen. In jeder Bar lief das Spiel Deutschland gegen Portugal, bei dem die Portugiesen bis zum letzten Blick den wir auf den Fernseher werfen konnten mit 4:0 abgezockt wurden. Als Deutscher in Portugal hätte uns das sicher keine Freunde gemacht.

 

Spruch des Tages: Umwege erhöhen die Ortskenntnis.

 

Höhenmeter: 150 m

Tagesetappe 27 km

Gesamtstrecke: 3314,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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