Tag 177: Bis zur Erschöpfung

von Franz Bujor
28.06.2014 21:43 Uhr

Langsam aber sicher raubt uns Portugal immer mehr Kraft. Auch diese Nacht war wieder eine schlaflose. Schlaflos in Porto, könnte man sagen, aber leider ohne jede Romantik. So dankbar wir für die Einladung der Feuerwehrleute auch waren, so sehr verfluchten wir sie in der Nacht. Der Schlafraum bestand aus zwei Etagen, wobei die obere Etage ein auf Stahlträgern gestützter Zwischenboden war, dem man durch eine eiserne Treppe erreichen konnte. Vier Treppenstufen gaben bei jedem betreten ein lautes Scheppern von sich. Dieses Scheppern zählte zu den am wenigsten störenden Geräuschen in der Nacht. Dich dahinter folgten die Ratten, die über unseren Köpfen auf der anderen Seite der Decke herumliefen und permanent irgendetwas zernagten.

Deutlich unangenehmer waren jedoch die Menschen. Eigentlich waren sie jeder für sich genommen durchaus sympathische und freundliche Wesen, doch sie hatten leider kein Gefühl dafür, wie man eine angenehme Atmosphäre in einem Gruppenschlafsaal erzeugt. Ein junger Bereitschaftsfeuerwehrmann spielte die halbe Nacht auf seinem GameBoy oder etwas ähnlichen und ließ dabei den Ton auf voller Lautstärke. Gerade wo wir einmal einen Platz ohne Hundegebell erwischt hatten, erzeugte er durch sein Spiel ein künstliches. Ein anderer hatte einen Facebook-Chat am Laufen, der alle zwei Minuten einen Pfeifton verursachte. Doch auch dies war noch eher harmlos. Gerade als auch der letzte sein Licht über dem Bett ausgeschaltet hatte, wurde der Raum von einem lauten Hip-Hop-Song beschallt, der in der Mitte begann und ebenso plötzlich wieder verstummte. Es war ein Handyklingelton und der Besitzer des Handys schämte sich nicht direkt im Schlafraum an sein Telefon zu gehen und lautstark zu telefonieren. Eine halbe Stunde später ging jemand unter die Dusche und erfüllte dadurch den Raum mit einem lauten Wasserrauschen. Wieder etwas später stürmte ein anderer Feuerwehrmann in den Raum, machte das große Deckenlicht an und kramte in den Sachen auf seinem Bett. Während dessen setzte er die Unterhaltung mit seinem Kollegen fort, der noch immer draußen in der Hofeinfahrt stand. Damit dieser ihn verstehen konnte, musste er nun natürlich etwas lauter reden als zuvor. So in dieser Art ging es die ganze Nacht hindurch weiter.

Neben uns lagen zwei Italiener, die heute ihren ersten Pilgertag hatten. Für sie musste der Einstieg schockierend sein, denn sie mussten ja annehmen, dass es in den kommenden Tagen ähnlich blieb. Doch dass die Feuerwehrmänner auf die Pilger und die anderen Wandergäste keine Rücksicht nahmen störte uns nicht einmal so sehr. Es war ihre Wache und wer hier schlafen wollte, musste eben mit den Gepflogenheiten leben. Was und jedoch zutiefst beunruhigte, war der Umgang untereinander. Im Schlafraum lagen schließlich auch die Einsatzkräfte, die bei einem möglichen Brand in der Nacht, bei einem Autounfall oder einer anderen Katastrophe volle Leistung bringen mussten. Sie mussten fit und ausgeschlafen sein, all ihre Kräfte beisammen haben und durften sich keine Fehler erlauben. Trotzdem war auch für sie nicht an Schlaf zu denken. Auch sonst machte diese Feuerwache keinen besonders vertrauenserweckenden Eindruck. Überall lag Schrott und Gerümpel herum. Die hinteren Fahrzeuge waren kaputt und hatten Platten oder Motorschaden. Das Museumsfahrzeug, das zugegebenermaßen wirklich cool aussah, aber nicht mehr im Einsatz verwendet wurde, stand ganz vorne in der Garage, so dass es jeder sehen konnte. Alles in allem ließ uns hoffen, dass es in Porto nicht allzu oft brannte.

Heute morgen hatten wir nur ein erklärtes Ziel: Porto so schnell wie möglich hinter uns zu lassen. In der Morgensonne sah die Stadt zwar wirklich ganz schön aus, doch halten konnte sie uns definitiv nicht. Noch einmal sahen wir uns die Gesichter der einheimischen genau an. Lachen, lächeln oder grinsen suchten wir vergeblich. Die Menschen wirkten abgestumpft und es machte den Anschein, als nahmen sie die Reizüberflutung in ihrer Stadt überhaupt nicht mehr wahr. So turbulent es hier auch zuging, gleichzeitig wirkte alles auf eine abstruse Weise tot.

Heiko fiel besonders auf, wie Krank die Mehrheit der Menschen hier war. Selbst die jungen hatten schon große gesundheitliche Probleme. Vor allem die Zähne vieler Menschen sahen furchtbar aus. Auf der Straße wurde es mir zunächst nicht ganz so bewusst. Dementsprechend überrascht war ich, als ich eine Apotheke betrat, um dort nach Sonnencreme zu fragen. Es gab drei Schalter und vor mir waren insgesamt nur fünf Kunden, doch ich wartete gut zwanzig Minuten, bis ich an der Reihe war. Jeder Kunde hatte nicht nur ein Rezept, dass er vorlegte, sondern gleich ein ganzes Bündel voll. Zwei ältere Damen hatten sogar Klarsichtmäppchen mitgebracht, in denen sie ihre Rezeptpapiere aufbewahrten. Die Situation an der Kasse erinnerte mich ein bisschen an meine Besuche beim Arbeitsamt. Der Papierkram der hier abgewickelt wurde, war etwa genauso aufwendig. Alles wurde gescannt, gefaltet, von A nach B und wieder zurückgelegt und schließlich abgestempelt und unterschrieben. Am Ende ging jeder mit einer Einkaufstüte an Tabletten, Salben und Wässerchen nach Hause.

Ebenso auffällig wie die Krankheitsdichte waren die Beziehungskonzepte, die hier vorherrschten. Im Park hatten wir gestern ein junges, frisch verliebtes Pärchen gesehen, dass sich abwechselnd abgeknutscht und geheime Worte auf den Rücken gemalt hatte, die der andere dann erraten musste. Dies war das einzige wirklich süße Paar gewesen, dass wir getroffen haben. Bei den anderen hatten wir eher den Eindruck, als handelte es sich bei dem jeweiligen Partner um ein Besitztum, den man wie sein neues Auto präsentieren aber auch vor anderen schützen musste. Sobald jemand zu sehr in die Nähe kam, wurde die Hand des Partners ergriffen und so festgehalten, als wollte man ihn gerade vor dem Sturz in eine Erdspalte retten. Wir haben aber nachgeschaut und konnten keine Erdspalten finden.

Noch mehr als der Umgang mit dem eigenen Partner schockierte uns jedoch der Umgang mit den Hunden. Nicht nur in Porto, sondern überall im Land. Auf dem Weg in die große Stadt hatten wir mehrmals beobachtet, wie Männer und Frauen ihre Hunde schlugen oder traten. Auch unsere Gastgeberin vom Vortag hatte ihre 12 Hunde mehrfach geschlagen um sie zur Ruhe zu bringen. Kurz vor der Innenstadt konnten wir beobachten, wie eine junge Frau ihrem Hund mitten in die Schnauze trat, so dass dieser laut aufjaulte. In Porto selbst waren es vor allem die Punks die uns schockierten. Von den Punks, die wir auf unserer Obdachlosentour in Deutschland kennengelernt hatten wussten wir, dass einige von ihnen durchaus nicht zögerten, wenn es darum ging jemanden brutal zusammenzuschlagen. Auch Todschlag war durchaus nicht ganz verpönt, wenn es sich bei dem Gegner um einen Nazi oder einen anderen Feind handelte, den man als übertrieben nervig empfand. Aber niemals würden sie diese Gewalt gegen ihren Hund richten. Ins Gefängnis gehen um den Hund zu verteidigen: klar, keine Frage. Aber ihn schlagen: niemals! Hier jedoch knüppelte ein Punk voller Leidenschaft auf seinen Hund ein, der versuchte, sich unter den Beinen seines Peinigers zu verstecken. Als die Freundin des jungen Mannes auftauchte, setzte sie dem Tier dann gleich noch einmal einen drauf. Die vorbeigehenden Passanten störte das nicht. Offensichtlich war das Schlagen von Hunden hier noch genauso normal und anerkannt, wie das Schlagen von Kindern im letzten Jahrhundert. Das merkte man auch an den Hunden selbst. Es war fast unmöglich einen zu finden, der kein Traumata davongetragen hatte. Wenn man an ihren Gärten vorrüberging, dann rannten sie teilweise mit Höchstgeschwindigkeit aus irgendeiner Ecke nach vorne und prallten mit den Köpfen gegen das stählerne Eingangstor, dass es nur so schepperte. Jetzt, wo ich gerade diesen Bericht schreibe, werde ich abermals von zwei Hunden angekläfft, die sich die Seele aus dem Leib schreien, obwohl sie mich nicht einmal sehen können. Warum die Menschen hier oft nicht nur einen sondern gleich so viele Hunde hatten, von denen jeder beim kleinsten Pups sofort ausrastete, war uns ein absolutes Rätsel. Es war nicht nur so, dass es hier fast nie Stille gab, die Menschen schienen auch überhaupt keine Stille haben zu wollen.

Die gute Nachricht war, dass der Jakobsweg in Richtung Fátima von Porto aus wieder deutlich markiert ist. Wir brauchten also nur weiterhin den blauen Pfeilen zu folgen uns waren auf der sicheren Seite. Nur das Essen machte uns noch immer Sorgen. In Porto wollte uns niemand etwas geben, nicht einmal Obst. Danach war es wie immer. Es gab wenig und wenn dann gab es gnietschige Brötchen mit Formschinken. Wir trauten uns schon gar nicht mehr zu fragen, weil wir keine Lust auf das Ergebnis hatten. In Frankreich hatte sich die Tour durch die Geschäfte immer wie ein wahrer Beutezug angefühlt. Dort hatte es mir oft so viel Spaß gemacht Leckerbissen einzuheimsen, dass ich am Ende viel zu viel gesammelt hatte. Hier war es eine freudlose Prozedur, die einem zwar den Bauch füllte, aber nichts mit Glücksgefühlen zu tun hatte. Immer mehr drängte sich uns das Gefühl auf, dass dies nicht mit rechten Dingen zuging. Es konnte doch nicht sein, dass es in einem ganzen Land überall immer nur die gleichen pfaden Lebensmittel gab, ohne eine einzige Ausnahme. Joan, die Schülerin, die wir in Vila do Conde getroffen hatten, hatte uns erzählt, dass sie sich seit ihrer Ankunft in Porto nur von Pommes ernährt hatte, weil es für sie als Vegetarierin sonst nichts gab.

„Meinst du, die Portugiesen, sind vielleicht eine Art Versuchskaninchen um herauszufinden, wie sehr man Menschen gleichschalten kann?“ fragte ich Heiko, „Ich meine, so etwas wie verschiedene Geschmäcker kann es hier ja nicht mehr geben, wenn es keine Auswahlmöglichkeit gibt.“

„Keine Ahnung!“ erwiderte Heiko, „aber mir ist das gleiche in den Supermärkten aufgefallen. Es werden immer nur die gleichen Sachen gekauft, so als hätte wirklich jeder den gleichen Geschmack. Und es ist so gut wie nie etwas gesundes darunter.“

Als sich die Häuser der Stadt langsam lichteten und wir schließlich in die äußeren Gebiete mit Wohnbaracken kamen, atmeten wir erleichtert auf. Porto lag hinter uns, von nun an, wurde es wieder ländlicher. Mit Erschrecken hatten wir festgestellt, dass heute Freitag war. Heikos Eltern hatten uns ein Päckchen mit einer Tafel geschickt, auf die wir in Zukunft unsere gelaufenen Kilometer schreiben wollten. Diese befindet sich nun auf dem Postamt von São João da Madeira und dieses liegt 34km südlich von Porto. Das bedeute, dass wir entweder heute dort ankommen oder die Strecke auf drei Tage aufteilen mussten, um das Amt am Montag zu erreichen. Wir entschieden uns für die zweite Variante, denn nach einem 34km Marathon war uns heute ganz und gar nicht.

Doch eine kurze Etappe zu gehen war hier auch nicht so leicht wie gedacht. Denn mit dem Ende von Porto kam leider kein freies Land, das von kleinen, niedlichen Dörfchen gespickt wurde, Es kamen Kopfsteinpflasterstraßen, die zu beiden Seiten von Mauern eingefasst wurden. Dahinter lagen Häuser oder Felder, niemals aber freie Wiesen für ein Zelt. Hinzu kam, dass wir noch immer hungerten und daher irgendwo eine Nahrungsquelle brauchten. Schließlich führte der Jakobsweg einen steilen Berg hinauf verwandelte sich in einen felsigen Trampelpfad, dem wir unmöglich folgen konnten. Wir entschieden uns daher, ihn aufs Geratewohl zu verlassen und ihn später wieder zu suchen.

Im nächsten Ort spürte ich als erstes, wie meine Nase zu kribbeln begann. Dann konnte ich mit dem Niesen gar nicht mehr aufhören und schließlich belegte sich auch noch mein Hals, so dass ich kaum mehr sprechen konnte. Heiko spürte es etwas später und nicht ganz so intensiv. Doch es gab keinen Zweifel. Irgendetwas wurde hier versprüht, das eine heftige allergische Reaktion bei uns auslöste. Die Symptome blieben für etwa drei Kilometer, dann waren sie wieder verschwunden. Vom Wandern hatten wir heute jedoch genug. Wir wollten nur noch einen gemütlichen Schlafplatz, ein gutes Essen, etwas Entspannung und eine ordentliche Portion gesunden Schlaf. Doch leider war uns das nicht vergönnt. Die Landschaft änderte sich nicht. Es blieb bei Mauern, Häusern und Feldern. Keine Hotels, keine Herbergen, keine Zeltmöglichkeiten, keine Nahrung. Langsam fing das Land an, uns mürbe zu machen.

Doch es gab auch positive Seiten. Zumindest halbwegs. Am Wegesrand entdeckte Heiko eine Libelle, die kurz davor war zu verdursten. Wir halfen ihr auf ein Blatt und gaben ihr etwas Wasser, dass sie gierig aufschlürfte. Dann machte Heiko noch ein Paar Bilder von ihr. Sie war ein wirklich schönes Tier und hatte beeindruckende, funkelnde Augen. Leider wurde sie noch zwei Mal vom Wind auf die Straße geweht und es sah nicht so aus, als würde sie es am Ende packen. Am Abend fanden wir heraus, dass die Botschaft der Libelle in etwa folgendermaßen lautet: Es kann sein, dass eure Zeit demnächst unruhig und turbulent ist. Vielleicht werdet ihr vieles nicht verstehen, aber ihr müsst lernen, auf eure Intuition zu vertrauen.

Besser hätte man es nicht beschreiben können.

Die Begegnung mit der Libelle hatte aber auch für uns ihren Preis. Wir hatten sie direkt neben einem Stromkasten gefunden, den Heiko beim Fotografieren als Stativ benutzt hatte. Erst zu spät war uns aufgefallen, dass der Kasten aus Fieberglas bestand und dass sie die kleinen Glasfasern bereits überall in unseren Klamotten, in unseren Armen und unseren Beinen verfangen hatten. Den Rest des Tages begann also alles zu jucken und auch jetzt spüren wir die Nachwirkungen noch.

Die Stunden vergingen und noch immer hatten wir weder etwas zu Essen noch einen Platz für die Nacht. Das stimmt nicht ganz. Von den wenigen Cafés und Bäckereien auf dem Weg hatten wir einen Haufen trockener Brötchen bekommen. Das reichte um satt zu werden, aber es gelang uns trotzdem nicht, dafür dankbar zu sein. Es hing uns einfach zu sehr zum Hals heraus.

In Perosinho schöpften wir neue Hoffnung. Es war ein größerer Ort, in dem es vielleicht einige Möglichkeiten geben konnte. Wir fragten eine Gruppe alter Männer nach einem Hotel oder einer Herberge. Gerade als sie begannen, uns etwas zu beschreiben, kam ein weiterer Mann in einem rosa Pullover hinzu, der ebenfalls seinen Beitrag leisten wollte. Zwischen ihm und einem der anderen Männer entbrannte ein wahrer Krieg und die beiden waren kurz vor einer Schlägerei, um zu entscheiden, wer von ihnen uns einen Weg beschreiben durfte. Schließlich gewann der Mann in rosa und beschrieb uns den Weg zu einem Kloster, das nur ein Stück die Straße hinunter hinter dem zweiten Kreisel lag. Bis zum ersten Kreisel waren es gut vier Kilometer. Bis zum zweiten mussten wir noch zwei weitere Kilometer gehen. Dann aber kamen wir tatsächlich zu einer alten Klosteranlage, die sich direkt neben einem großen Friedhof befand. Die hintere Außenmauer des Friedhofs, war gleichzeitig die Rückwand einer großen Fabrikhalle, die wahrscheinlich auch der Grund für die vielen Gräber war. Es war verrückt, durch dieses Land zu gehen. Auf der einen Seite wanderte man über Kilometer hinweg an den Mauern und Toren von großen Luxusvillen mit fetten Autos im Hof vorbei und auf der anderen Seite hatte man das Gefühl, dass die Lebensbedingungen hier eher mit denen in Indien und Bangladesch zu vergleichen waren, als mit denen, die wir von Europa erwarteten. Die Fabrik war noch immer in Betrieb, doch die hälfte der Scheiben waren eingeschlagen, sie war vermüllt und verdreckt und in Deutschland hätte man sie in diesem Zustand nicht mal als Ruine stehen gelassen. Wie mochte es wirklich in Indiens Arbeiterslums aussehen, wenn es hier bereits so schlimm war?

Das Kloster selbst war schon lange kein Kloster mehr. Dafür gab es in der Nähe eine Herberge, die jedoch geschlossen hatte. Nach allen Informationen, die wir bekommen konnten, sollte sie um 17:00 öffnen, doch auch um kurz vor sechs war noch niemand da. Die Nachbarn waren sehr freundlich und boten uns Obst und Wasser an um die Wartezeit zu überbrücken, doch es war aussichtslos. Niemand konnte den Herbergsleiter erreichen und er war eine Stunde nach Eröffnung noch immer nicht aufgetaucht. Länger zu warten hatte einfach keinen Sinn.

Was uns am meisten fertig machte, war nicht dass die Portugiesen unfreundlich oder ablehnend gewesen wären. Im Gegenteil, sie waren durchaus freundliche und hilfsbereite Menschen. Sie waren wirklich lieb, aber auch wirklich kaputt. Sich mit ihnen zu unterhalten war jedes Mal ein Kraftakt. Es war laut, es blieb beim Smalltalk, es war fast nicht möglich, dass sie einem wirklich zuhörten und sie redeten so schnell, dass ich immer nur die hälfte verstand. Ein Teil davon mochte mit der Sprachbarriere zusammenhängen. Spanisch war ähnlich, aber vieles war auch anders und vor allem wenn sie richtig loslegten, dann kam ich kaum hinterher. Gleichzeitig hatten die Gespräche aber auch etwas so auslaugendes, dass ich mich einfach nicht motivieren konnte, die Sprache wirklich zu lernen. Auch dies war in Frankreich anders gewesen. Da hatten wir es oftmals zu tiefst bedauert, dass wir keine gemeinsame Sprache hatten. Hier sind wir manchmal sogar froh darüber.

Im weitergehen spürte ich, wie ich vor Erschöpfung fast nicht mehr konnte. Ich hatte von diesem Land gestrichen die Schnauze voll! Es raubte einfach zu viel Kraft. Gerne hätte ich gehofft, dass uns irgendjemand einlädt und uns so zu einem Schlafplatz verhilft, doch ich merkte, dass ich nicht einmal mehr darauf Lust hatte. Heiko ging es ähnlich. Er war nicht ganz so genervt, weil er sich ja deutlich weniger mit den Menschen unterhielt als ich, aber auch er war erschöpft und wünschte sich etwas Abwechslung. Die Menschen in unserer Umgebung bestätigten das Bild, das wir gerade von ihnen hatten, so gut sie konnten. Ein Mann schlug erneut seinen Hund, in einem Haus schrien sich ein Vater und ein Kind so laut an, dass wir vor Schreck die Straßenseite wechselten und ein Passant rotzte aus voller Leibeskraft neben uns auf die Straße. Danke, aber langsam hatten wir wirklich genug. Vielleicht war es das Beste, nach Fátima nicht weiter in Richtung Süden, sondern direkt quer durchs Land nach Westen zu gehen um so schnell wie möglich die Französische Grenze zu erreichen. Doch auch dann mussten wir uns wohl noch eine Weile mit der iberischen Halbinsel arrangieren.

Wie um uns wieder aufzuheitern wurden wir von einer freundlichen Bäckerin zu einem Abendessen eingeladen. Wir durften uns aussuchen was wir wollten und konnten so immerhin belegte Brötchen statt unserer trockenen wählen. Wir waren ihr wirklich dankbar, aber auch dieses Essen mussten wir in uns hineinzwängen. Es schmeckte einfach nicht. Hinterher war uns schlecht und unsere Mägen blähten sich auf, wie ein Luftkissenboot. Auf Dauer konnte dies keine Lösung sein.

Spannend war das Abendessen aber trotzdem. Am Nachbartisch saß eine Frau um die 45, die sich in gebeugter Haltung ein Buttercroissant hineinzwängte. Ihre schwarzen Haare waren fettig und schütter und ihre Arme waren voller Altersflecken, von denen einige bereits tumoröses Gewebe ausbildeten. In Armen und Beinen hatte sie starke Wassereinlagerungen und ihre Finger waren aufgequollen und verkrunschelt. Beim Kauen des Hörnchens zeigte ihr Gesicht nichts als den blanken Ekel, doch sie war so sehr mit dem Lösen des Kreuzworträtsels beschäftigt, dass sie es nicht einmal mitbekam. Warum tat sie sich das an? Warum zwang sie sich dazu, das Zeug in sich hineinzustopfen, wo es sie so dermaßen Krank machte. Die gier mit der sie es trotz des Ekels verschlang, zeigte, dass sie er vor allem aus einer Habsucht heraus machte, die ihr ihr Ego aufzwang. Doch das krasseste war, dass sie unter all dieser Trostlosigkeit, unter ihrer krebsverwucherten Haut, unter ihren aufgedunsenen Armen und Beinen und unter dem ausfallenden Haar eigentlich eine schöne Frau war. Eine schöne Frau, die sich total zerstört hatte. Bei ihrem Anblick blieb uns das Essen, das auch wir uns gerade hineinzwangen gleich noch mehr im Halse stecken. Wir brauchten eine andere Lösung! Soviel stand fest.

Zum Abschied schenkte uns die Bäckerin dann noch eine Tüte mit weiterem Gebäck. Das war es, was uns so fertig machte. Die Tatsache, wie lieb die Menschen hier waren und der Umstand dass es einem trotzdem nichts half.

Bis wir es schließlich schafften einen halbwegs annehmbaren Zeltplatz zu finden, war es bereits 20:00 Uhr. Dann entdeckten wir eine dornige, unebene Wiese in unmittelbarer Nähe zur Autobahn. Woanders hätten wir nicht einmal überlegt, ob dieser Platz in Frage kam, hier war er unsere einzige Möglichkeit.

Hoffen wir, dass wir hier besser schlafen und uns für morgen erholen können. Vielleicht kann uns das Land dann ja doch noch von seinen schönen Seiten überzeugen.

Spruch des Tages: Ich bin ein Star, holt mich hier raus!

 

 

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe 24 km

Gesamtstrecke: 3524,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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