Tag 178: Wo ist die Schönheit hin?

von Franz Bujor
28.06.2014 22:03 Uhr

Ruhe gibt es hier einfach nicht. Den ganzen Abend über stand ein kleiner, vorlauter Hund auf dem Dach seines Hauses und kläffte. Er kläffte jedes vorbeifahrende Auto an, jeden Spaziergänger, jeden Fahrradfahrer, jeden Vogel und jede Katze. Und wenn gerade niemand zum anbellen vorbei kam, dann gab es zum glück noch einen Nachbarshund, der ebenfalls kläffte und mit dem konnte unsere kleine Nervensäge dann in einen tüchtigen Wettstreit gehen. Falls das auch langweilig wurde, gab es noch immer den Mond zum anbellen und zu guter Letzt gab es noch uns. Wir bestanden aus Sicht des Hundes zwar nur aus einer kleinen grünen Kuppel, die gut fünfzig Meter entfernt versteckt zwischen den Bäumen stand, doch es gab offensichtlich keinen Grund, warum man nicht auch diese anbellen sollte. Auf eine gewisse Art waren wir sogar beeindruckt vom unerschöpflichen Durchhaltevermögen der kleinen Töle. Auf der anderen Seite waren wir aber auch kurz davor, ihm den Hals umzudrehen. Als ich vom Berichtschreiben an einer Mauer auf der anderen Wegseite zurückkehrte, war Heiko gerade kurz vorm Explodieren.

„Hol gleich mal unser großes Messer aus dem Rucksack! Ich schlitze diesen kleinen Bastard jetzt auf!“ brummte er grimmig.

„Wie bitte?“ jetzt im Ernst?“ fragte ich und war mir wirklich nicht ganz sicher, ob er es ernst meinte oder nicht.

„Klar meine ich das ernst! Und dann machen wir ein Feuer und grillen das Mistviech! Dann haben wir wenigstens endlich wieder etwas anständiges zum Essen. Und außerdem haben wir dann unsere Ruhe!“ Jetzt musste er lachen und fügte dann wieder ernsthafter hinzu: „Haben wir nicht irgendetwas, das wir nach ihm werfen können? Einen Schuh oder so etwas?“

„Schuhe haben wir nicht so viele, aber wir haben noch die eine Flasche mit dem ekelhaft gechlorten Leitungswasser. Die könnte man werfen!“ entgegnete ich.

„Alles klar! Her damit ich geh jetzt raus!“ mit diesen Worten zog Heiko seine Schuhe an und verschwand in der Nacht. Kurz darauf hörte ich einen dumpfen Knall und ein lautel Platschgeräusch.

„Oh!“ klang Heikos Stimme von draußen, „es könnte sein, dass die Flasche schon vorher geplatzt ist!“

„Was?“ fragte ich, „Willst du gerade sagen, dass du die Flasche kaputt gemacht hast, bevor du sie nach dem Hund werfen konntest?“

„Naja, ich glaube ich war kurzzeitig ein bisschen aggressiver als ich dachte!“ gab er zurück. Pech für die Flasche und glück für den Hund, der von all dem so gut wie nichts mitbekommen hatte. Er kläffte genauso munter weiter wie zuvor und hörte damit auch nicht auf. Langsam konnte auch ich nachvollziehen, wieso die Menschen ihre Hunde hier schlugen. Denn mein Genervtheits-Ich malte ich ebenfalls recht wilde Gewaltfantasien aus, mit denen ich den Hund zum Schweigen bringen würde. Doch was uns an der ganzen Geschichte am meisten kirre machte war, dass es außer uns hier niemanden zu stören schien. Es war einer der wenigen Plätze seit über einer Woche, an denen es vom permanenten Autobahnrauschen abgesehen verhältnismäßig ruhig war. Und dann schrie dieser Köter die ganze Zeit durch, wie eine Kettensäge. Hatten sich die Anwohner wirklich so sehr daran gewöhnt, dass sich niemand beschwerte oder sich die Mühe machte, ihn zum Schweigen zu bringen? Der Hund musste ja einen Grund haben, warum er sich so grausam verhielt, also musste es auch einen Weg geben, ihn davon abzubringen. Wäre die gleiche Szene in Deutschland passiert, hätte es wahrscheinlich keine halbe Stunde gedauert, bis ein genervter Nachbar dem Hundebesitzer die Hölle heiß gemacht hätte. Und wenn das nicht geholfen hätte, dann hätte er ihn sicherlich verklagt. Oft waren wir in Deutschland frustriert darüber, wie viel sich die Menschen gefallen ließen, ohne das sie sich für ihre eigenen Rechte einsetzten. Doch verglichen mit den Menschen hier waren wir wahre Rebellen. Es schien wirklich, als hätte hier jeder resigniert. Auch heute unterm Wandern fiel uns das noch einmal besonders deutlich auf. Als wir mit den Obdachlosen gelebt haben, war eines der Hauptargumente, das die Menschen auf der Straße von Passanten zu hören bekamen, dass niemand ohne Obdach leben müsse. Wer auf der Straße lebt, der hat sich sein Schicksal selbst ausgesucht. Oft war diese Aussage als ein Vorwurf gemeint, doch die Passanten hatten damit vollkommen Recht. Jeder Obdachlose hatte sich für ein Leben auf der Straße entschieden, denn es gab auch unzählige andere Möglichkeiten. Das gleiche galt jedoch auch für jeden anderen Menschen. Niemand hier in Portugal wurde dazu gezwungen, so zu leben, wie er lebte und doch klagten die Menschen ununterbrochen über ihre schlechte, wirtschaftliche Situation.

Wieso entschied man sich dafür, sein Haus an einer großen, starkbefahrenen Schnellstraße zu bauen? Wieso ließ man es verfallen und verkommen aussehen, obwohl nur etwas neue Farbe notwendig war? Wieso verbrachte man sein Leben zu großen Teilen in Bars in denen es nur ungesundes Essen gab, das nicht einmal schmeckte? Oft kam es uns so vor, als würden die Menschen hier nicht einmal mehr wirklich leben, sondern viel eher die Zeit absitzen und auf ihren eigenen Tod warten. Es gab so viele Routinen und Angewohnheiten hier, die absolut zu nichts führten, als zum Totschlagen von Zeit. Auch wir spürten, dass uns die Menschen hier ununterbrochen Zeit stahlen. Jeder Satz, den man innerhalb von 3 Sekunden hätte sagen können, wurde auf eine gute Minute aufgebauscht. Oft wurde man von A nach B und wieder zurück geschickt, ohne dabei auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Alles in allem war der Kontakt mit den Einheimischen in den meisten Fällen so anstrengend, dass wir uns kaum mehr dazu aufraffen konnten. Jede Frage nach dem Weg wurde zur Tortur und am Ende war ich meist so genervt, dass ich einfach mitten im Gespräch ging. Doch das fiese war, dass man auch nicht wirklich sauer auf die Menschen sein konnte. Sie raubten einem zwar den letzten Nerv, meinten es aber ja nie böse. Sie wollten einem ja helfen! Sie waren ja sogar freundlich und nett dabei. Aber das machte es leider nicht besser. Eine Frau, die in einem Gespräch in einem kleinen Raum jedes Wort schreit, kann noch so liebenswert sein, dass Gespräch wird dadurch einfach nicht angenehm. Und ein Mann, der alles was er sagt, vier oder fünf Mal wiederholt, kann noch so freundlich und hilfsbereit sein, man wünscht sich dennoch, so schnell wie möglich von ihm wegzukommen. Irgendwo war es beides. Auf der einen Seite musste man sagen, dass die Menschen wirklich nichts dafür konnten und auf der anderen Seite waren sie es natürlich, die ihr Leben bestimmten.

Für uns galt selbstverständlich das Gleiche. Niemand hatte uns gezwungen nach Portugal zu wandern. Es war unsere freie Entscheidung gewesen und wir können das Land jederzeit wieder verlassen. Trotzdem hängen wir hier gerade irgendwie fest und wissen nicht genau, was wir mit der Situation anfangen sollen. Auf der einen Seite schlägt es uns wirklich auf die Stimmung und auf der anderen Seite ist es auch wahnsinnig spannend, eine Seite von Europa kennenzulernen, die wir uns nie hatten vorstellen können. In den Straßen gibt es immer wieder kleine Häuser mit offenen Türen, hinter denen ganze Gefolgschaften an Leuten sitzen, die nähen, färben, oder andere Dinge produzieren. Solche Arbeitsbedingungen hätten wir definitiv einem dritte-Welt-Land zugeordnet, nicht aber einem Land im Südwesten von Europa.

Doch das war uns hier von allem am Meisten stresst sind nicht die Menschen. Es ist der Umstand, dass es hier nur so wenig Ruhe und Schönheit gibt. Natur scheint in Portugal vollständig abgeschafft worden zu sein. Es gibt Gärten, Städte, Mauern und Felder. Alles ist eingeteilt uns parzelliert. Dazwischen gibt es ab und an kleine Grünflächen voller Müll, sowie Schutt- und Schlammflächen, die nicht mehr genutzt werden. Weit mehr als ein Drittel der Gebäude steht leer und viele sind bereits halb verfallen. Dabei muss man allerding sagen, dass die verfallenen meist sogar die bewohnten sind, während die leerstehenden oft noch recht gut aussehen. Neben dem Müll, der seinen Geruch über die Straßen verteilt gibt es viele stinkende Fabriken. Vor allem nach Fischabfällen stinkt es häufig. Und wenn man wirklich mal in einer Gegend mit wenig Zivilisation ist, dann wehen einem die Pestizidfahnen entgegen.

Das ganze mag sich vielleicht etwas schwarzgezeichnet anhören, aber es ist das Bild, in dem sich Portugal uns gerade präsentiert. Jeden Morgen stehen wir mit neuer Hoffnung auf, in der Überzeugung, dass es heute besser wird, und wir doch noch ein anderes, ein schönes Portugal kennenlernen dürfen. Doch jedes Mal werden wir wieder endtäuscht. So auch heute.

Nach den anstrengenden letzten Nächten schliefen wir heute einmal ordentlich aus. Um 8:30Uhr klingelte der Wecker das erste Mal. Draußen regnete es in Strömen und da wir eh nicht weit gehen wollten, brachten wir ihn zum Schweigen. In der Nacht hatte ich von dem Essen aus der Bäckerei wieder Durchfall bekommen und auch Heikos Magen rumorte wie eine Waschmaschine im Schleudergang. Die Erholung tat uns also nicht schlecht. Um 10:30Uhr konnten wir dann jedoch nicht mehr liegen und packten das Zelt zusammen. Es war klatschnass und auch jetzt regnete es noch immer.

Das beste was einem am Morgen passieren kann, ist dass man gleich als erstes einen Platten hat. Diesen hatte sich Heiko mittels eines Dornen auf unserer schönen Wiese eingefangen. Von jetzt an ging der Tag dann ähnlich weiter. Der Jakobsweg führte uns durch die gleiche unschöne Gegend wie an den Vortagen und passte dabei genau auf, jede Innenstadt auf dem Weg zu vermeiden. Das war eine Sache, die wir überhaupt nicht nachvollziehen konnten und die mich schon wieder zur Weißglut brachte. Wenn wir schon den ganzen Tag an Schnellstraßen und hässlichen Baracken vorbeilaufen mussten, warum konnten wir dafür dann nicht wenigsten auch an den nützlichen Dingen der Zivilisation vorbeigeführt werden. So gab es aber wieder keine Hotels, keine Herbergen und keine Einkaufsmöglichkeiten. Es war, als wollte jemand, dass wir nur noch die Schattenseiten der Zivilisation zu spüren bekamen. Auch sonst vermissten wir in Portugal viele Infrastrukturen, die uns das Leben sonst deutlich erleichtert hatten. Es gab weder Altenheime, noch trafen wir auf Pfarrer. Wir fanden auch keine Festsäle, Herbergen oder sonstige Möglichkeiten zum Schlafen. Und das schlimmste war, dass es nicht einmal Möglichkeiten zum Zelten gab. Keine Wiesen, keine Spielplätze, keine Picknickplätze, keine Parks, keine Bolzplätze und eine Campingplätze. Wenn es einmal eine kleine Wiese gab, dann lag sie entweder mitten in einem Stadtzentrum oder direkt an einer vielbefahrenen Straße. Nicht einmal schöne Plätze für ein Picknick konnten wir mehr finden. Es war zum verrückt werden.

Nachdem uns der Jakobsweg über eine fiese Huckelpiste wieder auf die Schnellstraße geführt hatte, entdeckten wir endlich ein Hotel. Das war unsere Chance! Leider sah der Hotelmanager das anders und schickte uns weg. Drei Kilometer weiter gäbe es eine Feuerwehrstation, da könnten wir auf jeden Fall übernachten.

Auf dem Weg bis dorthin fanden wir einen kleinen ebenen Platz am Ende einer Nebenstraße, der als Notfallzeltplatz funktionieren könnte. Der einzige Haken war, dass er komplett aus Sand und Steinen bestand und dass er kein bisschen Windgeschützt lag. Dafür hatte man eine gute Aussicht bis aufs Meer. In der Nähe gab es eine kleine Bar, in der wir das Internet benutzen dürften. Doch auch die Barbesitzer empfahlen uns, zu den Feuerwehrleuten zu gehen um dort zu übernachten. Es sei nur 10 Minuten entfernt und das Internet konnten wir auch später noch von ihnen haben.

10 Minuten klang, als wäre es einen Blick wehrt. Vielleicht war diese Feuerwache ja ruhiger als die letzte. Dummerweise war ‚10 Minuten’ absolut untertrieben gewesen. Mit dem Auto hätte man es in dieser Zeit schaffen können, doch zu Fuß war es eine gute Dreiviertelstunde. Als wir schließlich ankamen, trauten wir unseren Ohren nicht. Der Chef der Feuerwehrwache sagte nein! Normalerweise sei es zwar üblich, dass die Wachen Pilger auf ihrem Weg aufnehmen, doch er halte von dieser Regelung nichts und hatte daher keine Lust darauf. Auch die Kirch wollte uns nichts anbieten. So blieb uns nichts anderes übrig, als die Dreiviertelstunde wieder zurück zu unserem Schlammplatz zu gehen. Ihr könnt euch vorstellen, wie erfreut wir darüber waren. Das ist es, was ich meinte, als ich schrieb, dass uns die Menschen hier Zeit kosten.

Spruch des Tages: Alles hat einen tieferen Sinn, auch wenn man ihn nicht immer erkennen kann.

 

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe 21 km

Gesamtstrecke: 3545,47 km

 

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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