Tag 181: Das erste halbe Jahr

von Franz Bujor
01.07.2014 21:31 Uhr

Heute sind wir nun auf den Tag genau ein halbes Jahr unterwegs. Vor exakt 6 Monaten haben wir die letzten Sachen in Postbauer-Heng zusammengepackt und sind zu unserer großen Reise aufgebrochen. Manchmal können wir es kaum glauben, dass es bereits so lange her ist und manchmal fühlt es sich sogar viel länger an. In den vergangen Monaten haben wir viel erlebt und viel gelernt. Jetzt sind wir gespannt, was das zweite halbe Jahr so bringt.

Pünktlich, kurz vor Ablauf der ersten 6 Monate haben wir gestern Abend zum ersten Mal unseren Benzinkocher eingeweiht. Beim ersten Versuch hätten wir ihn beinahe komplett abgefackelt, weil wir noch nicht wussten, wie man ihn sachgerecht zum Laufen bringt. In sofern war es nicht verkehrt, dass wir uns zum Testen ausgerechnet das Außengelände der Feuerwehrstation ausgesucht hatten. Hilfe wäre also nicht weit weg gewesen. Aber nach dem wir die erste Stichflamme hatten ausgehen lassen, war der zweite Versuch erfolgreich. Unser Titantopf ist jetzt zwar komplett schwarz, aber dafür hatten wir zum ersten Mal seit langem ein gutes Abendessen. In einer kleinen Tienda haben wir Bockwürstchen, Senf und wirklich gutes Brot geschenkt bekommen. Von einem Schlachter gab es anschließend auch noch eine ordentliche Portion geräucherte Würste, die farblich eher an Blutwurst erinnerten. Diese erwiesen sich jedoch als absolut ungenießbar. Sie rochen nach Verwesung und Schweinekot, wodurch wir bereits würgen mussten, ohne sie auch nur probiert zu haben. Trotzdem versuchte jeder von uns einen kleinen Bissen, den er in Unmengen von Senf ertränkte um den Geschmack so gut es ging zu übertünchen. Es war zwecklos. So leid es uns auch für das arme Tier war, dass seinen Körper für diese Schmach hergegeben hatte, es war uns unmöglich, das Zeug zu essen. Gemeinsam mit den undefinierbaren Klümpchen aus Fischbrei, die wir von einer Snackbar geschenkt bekommen hatten, übergaben wir alles einem offenen Müllcontainer, in der Hoffnung, dass sich in der Nacht vielleicht noch eine Katze oder eine Ratte daran erfreuen würde. Doch auch die hatten wahrscheinlich ihren Stolz.

Wir selbst beschränkten uns also auf die warmen Bockwürste und das Brot und waren damit vollkommen zufrieden.

Heute in der Früh wurden wir von einer Schulklasse geweckt, die das alte Feuerwehrmuseum besichtigte. Anders als an den letzten Tagen war der Himmel heute grau und trübe und bereits jetzt fielen die ersten Tropfen. Es war nicht besonders gemütlich, dafür aber kühl genug um angenehm wandern zu können. Unser Jakobsführer hatte uns für heute eine schöne Etappe versprochen, die durch idyllische Eukalyptuswäldchen führen sollte. Die Wirklichkeit sah leider etwas anders aus. Genaugenommen sah sie genauso aus wie immer: Straßen, kleine Städte und Ortschaften, Müll, Felder, Ruinen und tote Baustellen. Hin und wieder gab es ein paar Bäume, aber die konnten kaum als Wald durchgehen. Dafür hörte plötzlich die Wegmarkierung im nichts auf und wir standen planlos vor einer großen Straße. Eine alte Frau, die wir nach dem Weg fragten antwortete: „geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus! Dann kommt ihr an einen Kreisel und dann weiter geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus, geradeaus!“

Wir folgten ihrer Beschreibung und verliefen uns sofort. Denn mit „geradeaus“ hatte sie nicht gemeint, dass wir geradeaus über die Hauptstraße gehen und der kleinen Nebenstraße folgen sollten, sondern dass wir auf der Schnellstraße nach links abbiegen müssen. Wo genau sie diese Botschaft in ihrer Beschreibung versteckt hatte, war mir ein Rätsel. Die nächsten, die wir nach dem Weg fragten, beschrieben uns immer nur die Schnellstraße. Von Alternativwegen, die nicht bedeuteten, dass man ohne Gehweg und Seitenstreifen neben LKWs und Sportwagen herwandern musste, hatten sie nicht die geringste Ahnung. So blieb uns also nichts anderes Übrig, als uns zu fügen und der Schnellstraße zu folgen. Nach gut eineinhalb Kilometern verließen wir sie auf gut Glück und stießen dabei sofort wieder auf den Jakobsweg. Es musste also auch zuvor bereits eine Alternative gegeben haben.

In einer kleinen Bar an der Straßenecke wurden wir zum Mittagessen eingeladen. Es gab ein Sandwich und für jeden eine Portion Pommes. Weil es in der Bar mit Fernseher und gleichzeitig laufendem Radio zu laut war, setzten wir uns mit dem Essen nach draußen unter ein kleines Vordach.

„Hey! Seit ihr aus Deutschland?“ fragte eine Stimme von der anderen Straßenseite.

„Ja!“ sagte ich und wir begrüßten den Fremden.

„Ich habe euch gerade reden hören, war mir aber nicht ganz sicher! Geht ihr auch nach Santiago?“

Wir verneinten und erzählten ihm von unserer Reise. Der Fremde stellte sich als Mike vor. Er war in Lissabon gestartet und wanderte bis nach Santiago. Pilger hatte er bislang nur wenige getroffen und so freute er sich riesig, dass er jemanden zum Reden gefunden hatte. Wir plauderten eine ganze Weile und erzählten verschiedene Anekdoten von der Reise und aus unseren Leben. Da es wieder zu regnen begonnen hatte und kurz darauf sogar wieder einmal wie aus Regentonnen schüttete, waren wir recht froh, einen trockenen Platz und dazu auch noch eine lustige Unterhaltung gefunden zu haben.

Wir hatten einiges zu erzählen und es waren viele lustige und skurrile Storys darunter. Doch eine Geschichte von Mike toppte einfach alles: „Ich war damals auf Mallorca und hatte am Abend schon einiges mit ein paar Kumpels gebechert. Auf jeden Fall gehe ich in der Nacht zurück zu meinem Hotel und werde von einer Frau angesprochen. Eine Megagranate sag ich euch! Wahnsinnsfigur, tolle Brüste, ein hübsches Gesicht und echt schöne Haare. Und dann fragt sie mich, ob ich nicht Lust hätte, noch mit zu ihr zu gehen. Mir war schon klar, dass sie eine Nutte war, aber sie wollte kein Geld und meinte, dass es ihr einfach um ein bisschen Spaß und einen guten Abend gehe. ‚Jackpot!’ hab ich mir gedacht, ‚da sagst du nicht nein!’ Am Anfang war auch alles echt klasse, aber dann kam der Knaller! Ihr glaubt mir das eh nicht, aber als sie sich auszieht, sehe ich plötzlich, dass die Sache einen echten Haken hat, wenn ihr versteht was ich meine!“

Heiko prustete los: „Du meinst, sie hatte einen Zipfel?“

„Ja,“ bestätigte Mike, „sie war ein Kerl! Also zumindest untenherum! Ihre Titten waren schon echt und auch wirklich der Knaller!“

Jetzt lachten wir so laut, dass sich der alte Herr, der mit Regenschirm und Krückstock über die Straße humpelte, verwirrt zu uns umdrehte.

„Was ist dann passiert?“ wollte Heiko wissen, als er sich wieder gefangen hatte.

„Naja, ich war schon wirklich horny und hatte mich ja auf ne wirklich heiße Nummer gefreut, also dachte ich mir, von hinten wird’s schon gehen...“

„Nicht wirklich, oder!“ fragten wir ungläubig und hatten schon wieder Tränen in den Augen vor Lachen.

„Doch, doch aber das war noch nicht alles! Ein gutes halbes Jahr später sitze ich im Taxi nach hause und plötzlich erzählt mir der Taxifahrer genau meine Geschichte und lacht sich schlapp! Also die entschärfte Version, ohne das heikle Finale. Ich denk mir ‚das gibt’s doch gar nicht, wie kann denn dieser Mann mir meine Geschichte erzählen. Ich spreche ihn also darauf an und jetzt kommt raus, dass der Taxifahrer auch in der freiwilligen Feuerwehr ist, die vom Vater eines Kumpels von mir geleitet wird. Und der hat die Geschichte dann als Story des Tages schön unter allen Kollegen zum Besten gegeben.“

Als es wieder trocken war verabschiedeten wir uns von Mike und machten uns wieder auf den Weg. Dabei entdeckten wir eine Frau mit einem Kinderwagen, die eineinhalb Kilometer zurück bei der Gruppe Menschen gestanden hatte, die wir nach dem Weg gefragt haben. Jetzt ging sie an der Schnellstraße entlang zurück und schob dabei ihren Kinderwagen vor sich her. Es stimmte also, die Menschen kannten hier wirklich keine Alternativwege oder wollten sie zumindest nicht gehen. Sie empfanden die Schnellstraße mit dem Schwerlastverkehr nicht als unangenehm und nutzten sie auch selbst zum Spazierengehen. Wobei man sagen muss, dass Spaziergänger hier wirklich selten sind. Eigentlich fährt jeder überall mit dem Auto hin, auch wenn es dabei nur um eine Strecke von wenigen Metern geht. Fußwege sind daher Mangelware und fehlen oft selbst innerhalb der Ortschaften.

Auf unser idyllisches Waldstück warteten wir noch immer. Dafür überquerten wir einige Bahngleise, die aussahen, als wäre hier vor hundert Jahren das letzte Mal ein Zug entlang gefahren. Doch gerade als wir auf die andere Seite wollten, hörten wir ein lautes, warnendes Hupen und schon rauschte ein Zug an uns vorüber.

Als der versprochene Wald schließlich vor uns auftauchte, waren wir bereits fast am Ziel. Es war ein Eukalyptuswald, der in geraden Linien angeordnet war. Ein üblicher Plantagenwald eben, der nicht besonders idyllisch war, aber es war immerhin schon mal ein Wald. Uns fiel jedoch auf, dass fast alle Pflanzen, die wir am Wegesrand sehen konnten sogenannte Neophyten waren, also Pflanzen, die eigentlich überhaupt nicht hier her gehörten. Ein Einheimischer hatte uns vor einigen Tagen einmal erzählt, dass er sich überhaupt nicht mehr erinnern konnte, welche Pflanzen hier einmal heimisch gewesen waren.

In Albergaria da Velha trafen wir auf den zweiten Pilger des Tages. Diesmal war es eine Frau aus Australien, die ebenfalls alleine reiste und noch bedeutend einsamer war als Mike. Um die Zeit totzuschlagen war sie heute bereits beim Friseur gewesen und hatte sich ihre Finger- und Zehennägel machen lassen. Jetzt war sie auf dem Weg in eine Bar um sich dort zu betrinken und um zu vergessen, wie verloren sie sich hier fühlte.

Albergaria da Velha war die erste portugiesische Stadt, in der wir einen Schlafplatz von der Kirche bekamen. Als ich die Kirche betrat, wurde dort gerade alles für eine Beerdigung vorbereitet. Es war mir etwas unangenehm, um den Sarg herumlaufen zu müssen, um zum Pfarrer zu gelangen. Ich wollte die Kirche daher bereits wieder unverrichteter Dinge verlassen, doch genau in diesem Moment, winkte mir eine ältere Dame, die der Beerdigung beiwohnte und bedeutete mir, dass ich mich nicht so einen Kopf machen solle. „Geh einfach nach vorne und such den Pfarrer, das ist doch wohl kein Act!“ war die Aussage ihres Blickes und ihres Handzeichens. „Wenn das so ist!“ dachte ich mir, „dann kann ich auch weitergehen.“

Der Pfarrer war nicht da, dafür traf ich jedoch auf einen jungen Mann, der ebenfalls wegen der Beerdigung hier war und auf einen älteren Herren, bei dem es sich um den Diakon zu handeln schien. Der junge übersetze für den alten und dieser führte mich in ein Nebengebäude, wo wir für die Nacht bleiben dürfen. Auf dem Weg erzählte mir der junge Mann, dass viele Portugiesen aufgrund der Wirtschaftskrise das Land verlassen hatten. Dies war einer der Hauptgründe für die vielen leerstehenden Häuser. Viele wanderten nach Deutschland, England oder in die Schweiz aus. Diejenigen die in Portugal blieben, zogen fast alle nach Porto oder Lissabon. Die kleinen Städte waren, wie wir bereits vermutet hatten, absolut tot oder am aussterben. Später fragten wir uns, wohin das wohl weiter führen würde, wenn sowohl Spanien als auch Portugal bereits so kaputt waren, dass die Menschen emigrierten. Dazu kamen Italien und Griechenland, die ebenfalls pleite waren. Wie wollte Europa damit seine Zukunft gestalten?

Auf der Suche nach einem Abendessen fanden wir eine Bar, in der wir ein traditionelles, portugiesisches Gericht bekamen. So jedenfalls wurde es uns angekündigt. Es bestand aus einer Vorsuppe, einem Berg Pommes und einem großen gebratenen Schweinesteak. Hätte man irgendwo auf der Welt, außerhalb von Portugal, ein Restaurant eröffnet und dieses Essen mit dem Titel: „Traditionelle portugiesische Küche“ verkauft, wäre man dafür wahrscheinlich noch am Tag der Eröffnung von den ersten fünf Gästen gelyncht worden. Doch es stimmte: Es war ganz offensichtlich die traditionelle Küche dieses Landes. Es schmeckte sogar recht gut, lag uns dafür aber so schwer im Magen, dass wir noch immer kaum gehen können. Wenn die Menschen hier nur so etwas essen, dann erklärt das auf jeden Fall, warum Portugal das Land mit den meisten Apotheken und den meisten Kranken in Europa ist.

Auf dem Weg in das Restaurant wurden wir jedoch von einer Frau aufgehalten, die uns vor Freude fast überrannt hätte. Einen Moment lang wussten wir nicht recht, wie wir mit der Situation umgehen sollten, dann erkannten wir die junge Dame. Es war Kuhnigunde, die wir bereits in Ponte de Lima in der Pilgerherberge kennengelernt hatten. Damals hatte sie mühevoll eine SMS an einen Portugiesen geschrieben. Jetzt saß sie gemeinsam mit eben diesem Portugiesen in jener Bar, in die auch wir uns setzen wollten. Sie hatte Santiago erreicht und war dann mit dem Bus hier her zurückgefahren um ihren neuen Freund zu besuchen. Für die nächsten zwei Wochen wollte sie hier bleiben. Warum sie das wollte konnten wir allerdings nicht ganz nachvollziehen, denn dieser Ort bot tatsächlich absolut nichts. Wir waren gerade einmal zwei Stunden hier und es trieb uns eigentlich schon wieder weiter. Aber jedem das seine.

Spruch des Tages: Träume als würdest du ewig leben, lebe als würdest du noch heute sterben! (Spruch auf einem T-Shirt im Schaufenster)

Höhenmeter: 150 m

Tagesetappe 21 km

Gesamtstrecke: 3583,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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