Tag 182: Die Stadt der Künste

von Franz Bujor
02.07.2014 21:46 Uhr

In Albergaria a Velha war gerade Markttag. In Frankreich waren dies immer unsere Lieblingstage, weil es dann so viele unterschiedliche Leckereien auf einem Haufen gab, dass wir fast nicht mehr fertig wurden. Hier war es nicht ganz so spannend, weil es auch auf dem Markt nichts anderes gab, als in den Läden, doch wir konnten zumindest einiges an Salat, Möhren und Obst ergattern. Damit war der gesunde Teil unseres vormittäglichen Speiseplans schon einmal abgedeckt. Vor einem Supermarkt machten wir eine Pause und bereiteten unseren Salat zu, wodurch wir für die übrigen Anwesenden wieder einmal zu einer Art Touristenattraktion wurden. Manchmal reißt man sich mit der Kontaktjonglage beide Arme aus, ohne dass man auch nur wahrgenommen wird und manchmal macht man sich einen Salat und schon bleiben die Leute stehen und staunen.

Die Wanderung selbst war wiederum ein bisschen angenehmer als an den Vortagen, auch wenn wir noch immer keinen einzigen ruhigen Ort betraten. Landschaftlich kamen weitere Bäume und hin und wieder sogar kleine Wälder hinzu. Sonst änderte sich jedoch wenig. Dafür wurden die Wegweiser spärlicher und das, obwohl wir diesem sagenumwobenen Fátima immer näher kamen. Von hier aus dürften es nun keine 200km mehr sein. Gestern haben wir eine Frau getroffen, die die Pilgerreise nach Fátima in nur drei oder vier Tagen zurückgelegt hatte. Offenbar war dies hier eine Art Tradition. Nach Fátima pilgerte man nicht gemächlich wie nach Santiago, man wanderte den ganzen Tag durch und machte nur zum Schlafen eine Pause. Ihr Sohn ergänzte daraufhin, dass seine Mutter ja nur die Michmädchenvariante gemacht hätte. Die richtige Tradition bestand darin, in eins durch nach Fátima zu wandern. Das heißt man wandert Tag und Nacht ohne eine einzige Pause und ohne eine Sekunde Schlaf. Ob das so sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln, denn es wird bei den meisten Menschen dazu führen, dass sie ein halbes Jahr Erholung brauchen, nachdem sie diese Mördertour hinter sich gebracht haben. Warum müssen solche Pilgertraditionen eigentlich immer mit Leid, Schmerz und Selbstzerstörung einhergehen? Warum darf man heilige Städte nicht einfach mal singend und tanzend und voller Freude erreichen?

Nach singen und tanzen war uns zugegebenermaßen aber auch nicht. Dazu war es zu warm und zu laut.

Plötzlich tauchte vor uns eine Straßenbarriere auf, die uns den Weg versperrte. Ein Blick zurück zeigte, dass wir uns nicht geirrt hatten, der Jakobsweg führte tatsächlich in diese Richtung. Verwirrt schauten wir uns um und entdeckten einen Mann in seinem Garten. Er erklärte uns, dass die Brücke eingestürzt sei und dass wir deshalb den Umweg über die Schnellstraße nehmen mussten. Heiko war gnatschig. Warum konnte man solche Informationen nicht einfach mal an den Stellen anbringen, wo sie einem etwas nutzten? Um auf die Schnellstraße zu gelangen mussten wir nun mehr als einen Kilometer zurück gehen und das auch noch permanent bergauf. Ein kleines Hinweisschild mit „Brücke kaputt! Umleitung links!“ hätte genügt um uns das zu ersparen. Später stellten wir fest, dass die Umleitung für die Pilger die aus der anderen Richtung kamen, deutlich ausgeschildert war. Nur für die Fátimapilger hatte man sich die Mühe nicht gemacht.

Warum Santiago hier so hoch gehalten wurde, während das Heiligtum im eigenen Land niemanden zu interessieren schien, war und noch immer ein Rätsel. In unserem Wanderführer war die Brücke übrigens als gut erhaltene, mittelalterliche Brücke beschrieben worden. Das war wohl nicht mehr ganz aktuell, denn mit der letzten großen Flut aus den Bergen hatte das Wasser den gut erhaltenen mittelalterlichen Brückenpfeiler komplett weggerissen und jetzt klaffte ein gut erhaltenes mittelalterliches Loch in der Brücke.

Vor einer kleinen Kirche machten wir eine kurze Obst- und Schlafpause. Es war windig und kühl, doch der Platz war der schönste, den wir weit und breit finden konnten.

Kurz darauf wurden wir in einer kleinen Ortschaft von einem korpulenten, freundlichen Mann angesprochen. Er grüßte uns auf Deutsch und erzählte uns, dass er einige Zeit in der Nähe von Düsseldorf gearbeitet hatte. Wann immer er jemanden Deutsch sprechen hörte, musste er an die alten Zeiten zurückdenken und freute sich riesig. Später war es dann nach Großbritannien gezogen, wo er viele Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte. Er vermisste die Zeit, wenngleich er die Briten aufgrund der starken Ausländerfeindlichkeit als ‚schlimmstes Volk der Welt’ bezeichnete. Schließlich war seine Mutter schwer krank geworden und so war er nach hause zurückgekehrt. Schweren Herzens, denn wohl fühlte er sich hier nicht. „Heute ist mein 41. Geburtstag!“ sagte er mit einem leichten Hauch von Trauer in der Stimme. Von dem Treffen mit uns einmal abgesehen erwartete er keine großen Überraschungen von diesem Tag. Später würde er sich gemeinsam mit seinem Vater ein paar Bier gönnen, ansonsten war alles wie immer.

Auch der Vater gesellte sich nun zu uns. Er hatte wesentlich mehr Zeit in Deutschland verbracht als sein Sohn, war aber schon vor 40 Jahren wieder nach Portugal zurückgekehrt. Er konnte noch immer Sprechen, wenn auch sehr gebrochen und er verstand auch das meiste von dem, was wir ihm erzählten. Das Geburtstagskind hatte uns auch noch einige spannende Dinge zu berichten. Vor 30 Jahren hatte er hier auf dieser Straße noch mit seinen Freunden Fußball gespielt. Heute war das undenkbar. Ununterbrochen rasten die Autos vorbei und allein das Unterhalten am Straßenrand war schon fast zu gefährlich. Damals seien die wenigen Autos nur langsam gefahren. Man hatte sogar genug Zeit gehabt, den Ball einzusammeln, wenn man eines an der Straßenecke hatte auftauchen sehen. Warum der Verkehr so zugenommen hatte, obwohl heute viel weniger Menschen hier lebten als früher, wusste er auch nicht. Doch er bestätigte unsere Wahrnehmung vom Prestigewahn der Einheimischen. „’Wenn der Nachbar ein gutes Auto hat, dann brauche ich auf jeden Fall ein besseres!’ so denken die Leute hier. Es zählt nur das Image! Es ist wirklich der Wahnsinn, aber die Leute kaufen sich wirklich lieber einen dicken Wagen, als dass sie sich ihr Überleben sichern. Wenn es bedeutet, dass sie drei Jahre lang nur von trockenen Kartoffeln leben müssen, wenn sie sich die dicke Karre leisten, dann ist das eben so.“

Wir hatten uns schon oft gefragt, wie es zusammenpasst, dass all die teuren Autos in den komplett verfallenen Einfahrten vor den schäbigen Häusern stehen.

Im Weitergehen bot sich uns ein einzigartiges Wetterschauspiel, wie wir es noch nie gesehen hatten. Vor uns war der gesamte Himmel pechschwarz. Blitze zucken in alle Richtungen und in der Ferne konnte man die dicken Regenfäden sehen, die auf die Erde niederprasselten. Über uns jedoch war der Himmel nur leicht bewölkt und die Wind trieb das Gewitter langsam von uns weg. Dummerweise lag die Stadt, in die wir wollten genau unter dem schwärzesten Punkt des Unwetters. Wir mussten also mitten ins Auge des Gewittersturms hineinlaufen. Doch mit jedem Schritt, den wir auf das unheilvolle Schwarz zugingen, entfernte es sich weiter von uns. Als wir die Stadt erreichten, war der ganze Spuk vorüber, ohne dass wir auch nur einen Tropfen abbekommen hatten.

Auf dem Weg ins Zentrum kamen wir an einer alten Weinfabrikhalle vorbei, die zu einer Kunst- und Veranstaltungshalle umfunktioniert wurde. Einige Künstler und einige Mitarbeiter der Stadt waren gerade dabei, eine neue Ausstellung aufzubauen und da wir nun gerade da waren, wurden wir auch einmal herumgeführt. Es waren einige coole und einige recht ulkige Ausstellungsstücke dabei. Im Ersten Raum standen ein alter Webstuhl sowie ein Boot und eine Reihe von Fahrrädern. Die Fahrräder waren komplett eingehäkelt worden und die Künstlerin war gerade dabei, dem Boot das selbe Schicksal zukommen zu lassen. Es sah recht witzig aus und hatte wahrscheinlich auch einen tieferen Sinn. Im nächsten Raum hingen verschiedene Gemälde einer jungen Frau, die ebenfalls anwesend war. Sie war eine wirklich gute Malerin und ihre Werke waren bedeutend weniger düster als die Gemälde in Sao João da Madeira. Als ich eine flapsige Bemerkung darüber machte, sah unsere städtische Führerin das Kommentar sogar fast als eine Beleidigung an und versicherte mir, dass die Bilder sehr wohl düster wirkten, wenn nur das Licht richtig darauf fiele. Doch es sei wie gesagt alles noch in der Vorbereitung. Dass ich meine Aussage eigentlich als Kompliment gemeint hatte, verstand sie nicht. Später fragten wir uns erneut, warum es so verpönt war, etwas schönes zu malen, was man sich gerne anschaute. Man konnte das schon machen, aber dann war man als Künstler meist untendurch.

Noch einen Raum weiter gab es eine Fotoausstellung. Bei den Fotografien hingen auch einige Makroaufnahmen von Insekten, auf denen die Augen der kleinen Tiere in gigantischen Größen abgebildet wurden. Es waren faszinierende Aufnahmen, die uns daran erinnerten, dass wir auch längst viel mehr mit Makrofotografie experimentieren wollten. Wenn man nur die Zeit für all dies hätte.

Die junge Dame von der Stadt und eine ihrer Kolleginnen begleiteten uns ins Zentrum, um uns hier ihre Regenschirmstraße zu präsentieren. Wir erfuhren, dass die ganze Stadt zu einem einzigen Kunstprojekt gemacht wurde. Die Hauswände wurden bemalt, die Straßen geschmückt, die Bänke wurden neu bestrichen und viele der alten verfallenen Ruinen wurden hübsch bunt kaschiert. Die Stadt hatte keine Kosten und Mühen gescheut um sich selbst in die Kunsthauptstadt Portugals zu verwandeln. Wahrscheinlich war dies die einzige Hoffnung die sie hatte, um doch noch Touristen anzuziehen und sich damit selbst vor dem Aussterben zu retten. Es war ein netter versuch, der in einigen Bereichen wirklich gut funktionierte. Doch die bunten Farben täuschten nur teilweise über die darunterliegende Hässlichkeit der Stadt hinweg. Es war ein bisschen so, als hätte man eine schimmelige Wand mit frischer, weißer Farbe gestrichen. Es sah schon gut aus, aber wenn man genau hinsah, dann platzte die Farbe an vielen Stellen wieder weg und darunter wurde die blaugraue, pelzige Masse der Verwesung sichtbar. Kunst war schon eine kuriose Sache. Auf der einen Seite war es faszinierend, was die Künstler leisteten. Da war beispielsweise ein Mann, der eine riesige Hauswand mit einem Gemälde besprühte. Er stand nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt und konnte daher nur einen winzigen Ausschnitt erkennen. Für ihn musste alles nur ein zusammenhangsloses Gebilde aus unterschiedlichen Farben sein. Erst aus einer Entfernung von mehreren Metern setzten sich diese Farben zu einem fantasievollen Bild zusammen. Wie konnte er so ein Gemälde erschaffen, wenn er es selbst nicht einmal sehen konnte? Er musste es irgendwie im Gefühl haben.

Oder auch die Häkelkünstlerin, die Stunden damit verbrachte, die Fahrräder einzuhäkeln und so ein abstraktes Kunstwerk daraus zu machen. Doch auf der anderen Seite stellten wir uns auch die Frage, wohin das alles führte. Wäre es nicht viel sinnvoller coole Mützen und Pullover zu häkeln, mit denen man auch etwas anfangen konnte? Ich weiß, das ist eine ziemliche Banausenfrage, aber ich finde, man muss sie schon einmal stellen dürfen. Die Kunst in dem Museum von Madeira sollte in erster Linie verstören und verschrecken und sie sollte auf das Leid aufmerksam machen, das der Mensch auf der Welt verursacht. Die Kunst hier sollte in erster Linie kaschieren und verstecken und sollte von dem Leid ablenken, dass sich der Mensch in seiner eigenen Umgebung verursacht. War beides aber nicht irgendwo auch das gleiche?

Unsere Touristenführerin wies uns den Weg zu einem Hotel. Das Hotel wollte uns nicht aufnehmen und verwies und an ein anderes Hotel. In diesem Hotel versprach man uns etwas zu essen, die Zimmer wären jedoch bereits allesamt belegt. Aus diesem Grund schickte man uns zur Feuerwehr. Die Rezeption der Feuerwehrmänner verwies mich an einige Männer auf der Rückseite des Gebäudes und diese verwiesen mich an ein Büro in der ersten Etage. Dort sagte man mir dann, dass die Feuerwehr grundsätzlich niemanden mehr aufnehme, dass wir aber zum Roten Kreuz gehen könnten. Das Rote Kreuz befand sich seinerseits wiederum ganz am Anfang der Stadt, dort wo wir vor gut einer Stunde schon einmal vorbeigeschlappt sind.

Im Roten Kreuz wurden wir dann aber doch endlich aufgenommen. Wir bekamen einen kleinen Raum, der komplett aus Spanplatten bestand und oberhalb der Garage mit den Einsatzfahrzeugen lag. Die Wände sind so dünn wie Papier und jede Bewegung mit dem großen Zeh bringt den ganzen Raum zum Wackeln. Abgesehen davon ist es aber eine prima Unterkunft. Ok, die Dusche ist gleichzeitig der Abstellraum und auf der Toilette gibt es kein Klopapier, aber sonst kann man wirklich nicht meckern. Gut, man muss vielleicht auch noch über das Einsatzpersonal hinwegsehen, das von Gästen aus irgendeinem Grund mega angenervt ist und uns sofort aus dem Gemeinschaftsraum vertrieb als wir uns dort zum Arbeiten niederlassen wollten. Und der Zigarettengestank vor unserem Zimmer stört auch ein kleines bisschen. Aber wenn man wirklich einmal über all diese Kleinigkeiten hinwegsieht, dann kann man sich hier wirklich wohl fühlen. Zumindest waren die beiden Mitarbeiter, die uns hereingelassen haben äußerst nett und bemüht. Ihnen war es auch sichtlich peinlich, dass sie uns nichts Schöneres anbieten konnten. Doch was uns wirklich beunruhigt ist gar nicht unser eigenes Quartier. Es ist viel mehr der Zustand des Roten Kreuzes an sich. Soweit wir erkennen konnten ist das Rote Kreuz die einzige Rettungsorganisation in der Stadt und sie wirkt heruntergekommener als alles andere hier. Was wirklich etwas heißen will. Viren und Bakterien können wirklich nicht für Krankheiten verantwortlich sein, denn andernfalls würde jeder Mensch, der sich hier retten lässt definitiv sterben. Wenn also das Rote Kreuz so heruntergekommen ist und auch die Feuerwehr nicht besonders vertrauenserweckend wirkt, dann kann man wirklich nur hoffen, dass in diesem Land niemals etwas passiert.

Am Abend wanderten wir dann noch einmal in die Innenstadt zurück um dort unser Abendessen abzuholen. Es war noch immer etwas schwer verdaulich, aber bedeutend besser als das vom Vortag. Ich habe sogar schon fast wieder etwas Hunger...

Spruch des Tages: Das kannste schon so machen aber dann ist es halt kacke!

 

Höhenmeter: 160 m

Tagesetappe 18 km

Gesamtstrecke: 3601,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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