Tag 183: Die geliebte Schnellstraße

von Franz Bujor
03.07.2014 22:58 Uhr

Noch ein kurzer Nachtrag zum Thema Rotes Kreuz. Dass die Dusche eher einem Schlachtfeld glich hatte ich ja bereits geschildert, doch nachdem ich mich selbst einmal darunter gestellt habe, muss ich diesen Teil wohl doch noch einmal genauer beschreiben. Heiko hatte vor mir das Gröbste schon aufgeräumt und so konnte ich die Kabine zumindest ohne größere Stolperfallen betreten. Innen lag eine Rutsch-Schutz-Unterlage, die so voller Schimmel war, dass man sich kaum traute, sie zu berühren. Ich hatte sogar ein bisschen angst, die Mikroorganismen würden mit mir davon laufen, wenn ich mich auf ihren Teppich stellte. Es hätte sicher ein komisches Bild abgegeben, wenn ich auf einem grüngrauen Badeunterleger nackt und mit geschlossenen Augen durch die Rot-Kreuz-Station geglitten wäre, während ich gerade dabei war mir die Haare einzuseifen. Dabei musste ich mir vorstellen, wie es wohl für die Mitarbeiter des Sanitätsdienstes sein musste, nichts anderes als eine solche Dusche zur Verfügung zu haben. Ich stellte mir vor, wie sie von einem Einsatz zurückkamen, die Hände voller Blut, das aus dem Bein eines Unfallopfers gesprudelt ist. Die Hose voll mit Urin und Erbrochenem, weil der gerettete Patient seine Körperflüssigkeiten nicht mehr hatte bei sich behalten können. Und dann kam man hier her, warf einen Blick in die Dusche und dachte: „Verdammt, ich bin wirklich vollgesifft, aber diese Dusche ist noch weitaus schlimmer! Da warte ich lieber, bis ich nach Hause komme!“

Doch auch sonst waren die Rettungssanitäter nicht die reinlichsten Mitbürger, die wir je erlebt hatten. Ihr Aufenthaltsraum sah nicht viel besser aus als die Dusche und das Schild mit der Aufschrift: „Händewaschen nach dem Toilettengang!“ wurde prinzipiell übersehen. Als Verunfallter war es also auch nicht viel angenehmer. Wahrscheinlich dachten sich die meisten Opfer: „Oh mein Gott, ich verblute! Wenn nicht sofort jemand kommt, dann werde ich wahrscheinlich sterben, aber wenn jemand den Krankenwagen ruft, dann sterbe ich ganz sicher! Was soll ich nur machen? Ich glaube ich stoppe meine Blutung einfach selbst, bevor es jemand merkt.“

Der Platz, den wir in der Station bekommen hatten, war eigentlich für Obdachlose gedacht gewesen. Heute war außer uns niemand hier, aber hin und wieder kam wohl der eine oder andere vorbei. Dies war offenbar der Grund, warum die Sanitäter auch uns für Obdachlose hielten, obwohl sie uns mit unserer ganzen Ausrüstung gesehen haben. Es war beeindruckend zu sehen, wie abfällig und herablassend sie uns behandelten, wenn sie uns einmal begegneten. Das kam nicht allzu oft vor, da wir uns in unser kleines Zimmer zurückgezogen hatten, doch wenn wir ihnen auf dem Gang doch einmal begegneten, dann zeigten sie unverhohlene Abscheu. Uns war es relativ wurscht, weil wir eh nicht in der Stimmung für lange Gespräche waren, aber es sagte sehr viel über ihre Einstellung zu den Obdachlosen aus. Was uns ebenfalls beeindruckte war, wie viel unter den Sanitätern geraucht und Kaffee getrunken wurde. Der Automat vor unserer Tür lief etwa alle fünf Minuten und im gleichen Tackt wurden die Kippen angesteckt. Gerade von einem Berufsbild, das täglich mit den Folgen von verschlossenen Arterien und verkalkten Gefäßen konfrontiert wird, hätte man eigentlich vermuten können, dass es davon eher Abstand nimmt. Aber der Zusammenhang zwischen den Lebensweisen und unserem Gesundheitszustand scheint im Allgemeinen eher unbekannt zu sein.

Über heute gibt es nur wenig zu berichten. Die Strecke war wie immer und auch sonst ist nichts Außergewöhnliches passiert. Wenn man einmal davon absieht, dass wir in ganz Agueda keinen einzigen Gemüsehändler finden konnten und dadurch ohne ein Frühstück starten mussten. Der Jakobsweg nach Fátima war so schlecht beschrieben wie gestern und immer wieder endete er in einer Schnitzeljagd. Ungünstiger Weise führte er uns dabei ständig wieder an die Nationalstraße, wo wir uns neben den LKWs und dem vielen Verkehr recht verloren vorkamen. Wann immer wir einen Anwohner nach dem Weg fragten, lotste uns dieser auch sofort auf die Schnellstraße zurück. Es war ein bisschen, als würden die Menschen ihre Route National lieben wie einen Ehepartner, dem sie ewige Treue geschworen hatten. Wir trauten uns schon gar nicht mehr nach dem Weg zu fragen, weil wir die Antwort eh kannten.

Die einzige Person, die uns wirklich etwas weiterhelfen konnte, war eine rumänische Straßennutte, die an einer Schnellstraßenauffahrt auf einen Freier wartete. Sie weiß uns zumindest in die richtige Richtung, wenngleich sie ansonsten nicht besonders Freundlich war. Sie wirkte für ihren Job ungewöhnlich verklemmt und hatte eine Ausstrahlung, die jeden Menschen aus ihrer Umgebung vertreiben musste. Besonders Geschäftsförderlich konnte das nicht sein, aber wahrscheinlich war genau das auch ihr Ziel. Sie wirkte nicht so, als hätte sie sich ihren Beruf ausgesucht sondern eher, als wäre sie Teil einer organisierten Gruppe, an die sie fast alle Einkünfte abtreten musste. Später erfuhren wir von einem Einheimischen, dass sich hier in der Gegend wirklich ein rumänischer Prostitutionsring breit gemacht hatte.

Nach einigen weiteren Kilometern kamen wir wieder auf die Schnellstraße und nachdem uns diese ausreichend auf die Nerven gegangen war, beschlossen wir, uns anhand unserer Karte auf eigene Faust durchzuschlagen. Spannenderweise stießen wir dabei nach einigen Kilometern erneut auf blaue Pfeile, die eine ganz andere Route bezeichneten. Später am Abend erfuhren wir, dass die Einheimischen wirklich immer nur an der Schnellstraße entlangwanderten um nach Fátima zu gelangen. Der andere Weg über die Nebenstraßen war nur für Touristen.

In Mealhada fanden wir zum ersten Mal seit Tagen wieder eine richtige Pilgerherberge, in der man uns sogar freundlich empfing und gerne aufnahm. Außer uns wohnte noch ein Pärchen aus Trier in der Herberge, das bereits einige Jakobswege bezwungen hatte. Beate hatte außerdem eine Wanderung von mehr als 100 Tagen von Trier bis nach Rom gemeistert und konnte uns daher einige Tipps für unseren zukünftigen Streckenverlauf geben. Gemeinsam saßen wir zu viert vor unserer großen Karte und spielten die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie es für uns nach Fátima weitergehen konnte. Langsam kristallisiert sich daraus wieder eine neue Idee und wenn alles klappt, dann haben wir schon bald einen konkreten Plan von hier bis nach Norditalien.

Am Abend luden und Carlos und Beate zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Es gab Suppe, Salat und Lachs mit Kartoffeln. Es war das erste Essen seit Tagen, das wir in einem Restaurant bekamen und das uns nicht nur wirklich gut schmeckte, sondern auch ein gutes Gefühl im Bauch hinterließ.

Kurz vor dem Schlafengehen machten wir dann noch eine besondere Entdeckung. Im Hof vor unserer Herberge parkte ein Auto von Google-Street-View. Zum ersten Mal konnten wir uns dieses Gefährt also einmal aus der Nähe anschauen.

Spruch des Tages: Nicht schon wieder diese Schnellstraße.

 

Höhenmeter: 170 m

Tagesetappe 27 km

Gesamtstrecke: 3601,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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