Tag 184: Coimbra

von Franz Bujor
04.07.2014 23:42 Uhr

Der Weg von Mealhada führte uns direkt wieder an die Schnellstraße und machte auch keine Anstalten, diese wieder zu verlassen. Es dauerte ungefähr drei Minuten, dann war es mit unserer täglich frischen, positiven Einstellung zu Portugal wieder vorbei. Wieder einmal fragten wir uns, ob die Erfindung der Autos nicht doch zu den negativsten gehört, die der Mensch je gemacht hatte, von der Mikrowelle vielleicht einmal abgesehen. Natürlich ist es praktisch, wie schnell wir mit den motorisierten Gefährten jeden Punkt auf der Welt erreichen können. Doch der Preis den wir dafür zahlen ist der, dass wir an fast keinem Ort mehr sein wollen, weil man vor dem Autolärm kaum mehr fliehen kann. Auch der ganze Nahrungswahnsinn, das Verfrachten von rohen Tomaten einmal um die ganze Welt und zurück, nur weil die Arbeitskräfte woanders leichter auszubeuten sind, ist nur möglich, weil wir die Autos erfunden haben. Der ganze Arbeitsstress, die Leistungsgesellschaft, die Abgase, der überdimensionierte Straßenbau, der fast jedes Naturreservat in Europa in kleine Stücke zerhackt, all dies sind die Folgen der so einfachen und praktischen Erfindung des Autos. E

ine Frau auf einem Elektroroller fuhr an uns vorbei, ohne dass wir sie auch nur im Mindesten hören können. Kurz darauf folgte ein alter Mann auf einem normalen Roller, der mehr Lärm verursachte als die LKWs. Dabei war der Mann deutlich langsamer unterwegs als die Frau vor ihm. Das führte uns zu einer weiteren Frage: Wenn wir doch die Möglichkeit haben, Maschinen zu bauen, die fast vollständig geräuschlos sind, warum benutzen wir sie dann nicht? Warum bauen wir weiterhin Roller, Motorräder und Autos die so laut sind, dass man sich neben ihnen nicht mehr unterhalten kann? Und wenn wir doch einen Flüsterasphalt erfunden haben, der jedes Geräusch schluckt, so dass wir uns direkt neben einer Autobahn befinden können, ohne es zu merken, warum bauen wir unsere Straßen dann trotzdem noch immer mit etwas anderem? Klar kann man nicht von einem Tag auf den nächsten alle Straßen rausreißen und durch leise Alternativen ersetzen und das fordert ja auch keiner. Aber neugebaute Straßen oder solche, bei denen der Asphalt eh erneuert werden müsste, sollten dabei keinerlei Problem darstellen. Klar könnte man als Gegenargument bringen, das Autos, die keinen Lärm verursachen wesentlich gefährlicher sind, weil man sie nicht hört. Aber ist nicht der Lärm an sich auch schon ein Gesundheitsrisiko? Und führt nicht gerade der permanente Lautstärkepegel dazu, dass wir abstumpfen, unachtsam werden und deswegen nicht mehr merken, wenn wir vor ein Auto rennen? Schlangen beispielsweise schlängeln sich auch nicht mit einem lauten Brummen oder Knattern durch den Urwald. Dennoch werden deutlich weniger Indianerkinder von Schlangen getötet als Zivilisationskinder von Autos.

Um unsere Ohren und Nerven zu schonen, nahmen wir die Sache wieder einmal selbst in die Hand und verließen den Jakobsweg, um entlang der Bahngleise nach Coimbra zu gehen. Zunächst mussten wir dafür über kleinere Nebenstraßen, die noch immer hässlich, aber nicht mehr ganz so befahren waren. Dann kamen wir in einen Wald, den wir auf einem Schotterweg durchquerten. Der Weg wurde schmaler und wandelte sich irgendwann in einen holprigen Trampelpfad, bevor er schließlich wieder zu einer breiten Schotterstraße wurde. Am Ende standen wir dann vor einer Böschung, die zu einer Autobahnauffahrt hinaufführte. Uns blieb also nichts anderes übrig, als unsere Wagen die Böschung hinauf und dann über die Leitplanke zu tragen.

Von hier aus ging es durch kleine Vorstädte und große Industriegebiete nach Coimbra. Beate und Carlos hatten uns von dieser Stadt bereits am Vorabend vorgeschwärmt. Sie sei eine der schönsten in Portugal und auf jeden Fall einen Besuch wert. Vor allem sei dort immer etwas los und man könne überall die Jugend in den Bars treffen. Letzteres stimmte tatsächlich, zumindest im Moment, denn in Coimbra wurde gerade das jährliche Stadtfest abgehalten. Das bedeutete jedoch auch, dass sämtliche Straßen wieder mit Musik aus blechernen Lautsprechern beschallt wurde, so dass man auch in der Innenstadt keinen ruhigen Fleck mehr finden konnte. Doch die angepriesene Schönheit suchten wir vergeblich. Schaut euch am besten einfach die Fotos an, die sagen mehr als viele Worte und ich will nicht jeden Bericht damit füllen, wie heruntergekommen die Städte hier sind. Die Innenstadt von Coimbra hat sogar wirklich zwei Straßen, die aussehen wie die einer beliebigen Altstadt irgendwo auf der Welt. Der Rest erinnert eher an die Armenviertel von Buenos Aires oder Guatemala City. Direkt unten am Fluss gibt es jedoch ein sehr schönes altes Hotel in einem mittelalterlichen Gebäude, dessen Einrichtung und Stil an das Leben vor vierhundert Jahren erinnert. Es ist ein kleiner Familienbetrieb und heißt Hotel Avenida. Hier dürfen wir heute die Nacht verbringen.

Auf unserem Weg durch die Stadt wurden wir plötzlich von einem Mann überfallen, der auf einer Bar angesprungen kam und hüpfend, jubelnd und armwedelnd auf uns zu rannte. Eher er wusste wie ihm geschah, hatte Heiko den Mann bereits an der Backe kleben. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich den aufgedrehten Wirbelwind erkannte. Es war Pedro, der Pilger den wir zusammen mit dem deutschen Versicherungsmakler kurz vor der portugiesischen Grenze getroffen hatten. Es war in dem Ort mit dem etwas eingeschlafenen Showkampf gewesen, wo wir die Nacht in der freundlichen Pilgerherberge verbringen durften. Wir hatten Pedro damals als netten und freundlichen sowie nüchternen Zeitgenossen kennengelernt, der sich im Laufe des Tages durch seinen ständig steigenden Alkoholpegel immer unsympathischer gemacht hatte.

Heute war er bereits stockbesoffen, als er uns aufspürte.

„Oh mein Gott! Ihr seit es wirklich! Das gibt’s ja nicht! Ich freue mich abartig euch zu sehen!“ rief er immer und immer wieder. „Hört her Leute! Diese Männer hier sind meine Freunde! Sie sind unglaublich! Sie sind den ganzen Weg von Deutschland hier her gelaufen! Ich kann gar nicht fassen, dass sie da sind! Katie, du musst herkommen! Ich muss dir meine Freunde vorstellen! Du wirst sie lieben!“

Er verschwand in der Bar und kam kurz darauf mit einer Kanadierin zurück auf die Straße. Sie war Mitte dreißig, hatte einige graue Strähnen in den Haaren und wirkte sichtlich genervt von ihrem portugiesischen Freund. Später erzählte sie uns, dass sie ihn vor drei Tagen auf dem Weg kennengelernt hatte und seit dem nicht mehr los wurde. Er war ein super netter Kerl, der versuchte jedem immer und überall zu helfen, wenn es nur irgendwie möglich war. Doch wenn er etwas getrunken hatte, was meist ab 10:00 in der Früh der Fall war, dann wurde er so anstrengend, dass man es kaum aushalten konnte.

„Wisst ihr noch Leute!“ setzte er zu einer neuen Erzählschleife an, „Ihr habt damals im Haus meiner Freunde geschlafen! Katie, ich habe ihnen damals einen Schlafplatz besorgt. Ich hab sie zu meinem Freund gebracht und hab gesagt: ‚Junge, du musst diese Männer bei dir Wohnen lassen! Die sind großartig und dass sind meine Freunde! Und wenn es nicht geht, dann zahle ich die Nacht für sie! Sie reisen nämlich ohne Geld!’ Und dann hat er gesagt: ‚Klar, Pedro! Kein Thema! Das geht schon klar!’ hat er gesagt und ich hab gesagt; ‚Cool Mann! Das ist echt cool von dir, das sind nämlich meine Freunde und die sind echt cool!’ hab ich gesagt.“

Unsere Erinnerungen an den Tag vor drei Wochen weichen von Pedros Variante ein wenig ab. Er hatte uns tatsächlich zu der Herberge geführt und der Besitzer hatte ihn auch gekannt. Ob sie wirklich Freunde waren kann ich nicht beurteilen, doch ich hatte damals das Gefühl, dass ich dem Mann schnell erklären musste, was wir machten, bevor mir Pedro mit irgendwas dazwischen funkte und dadurch die Tour vermasselte. Tatsächlich ließ uns der Herbergsleiter kostenlos übernachten, ohne dass Pedro auch nur einen Satz dazu gesagt hatte. Doch wenn es sich für ihn so anfühlte, als hätte er uns an diesem Tag ‚den Arsch gerettet’ dann sprach ja auch nichts dagegen, ihn in dem Glauben zu lassen.

„Oh mein Gott und jetzt seit ihr plötzlich hier!“ setzte er seine Begeisterungsrede fort, „Fuck Mann, ich kann’s gar nicht fassen! Ich seh’ euch plötzlich auf der Straße und hab die ganze Zeit vorher gedacht, was ihr wohl so macht und wies euch geht und dann seh ich euch plötzlich und denk mir: ‚Fuck Mann! Da sind die Jungs aus Spanien!’ und ich freu mich wie der Teufel und renn auf die Straße und rufe: ‚Fuck Mann! Da seit ihr ja! Ich kanns nicht glauben, dass ihr hier seit!’ und ich renn auf euch zu und freu mich mega, weil ich die ganze Zeit gedacht hab, ‚Fuck hoffentlich siehst du die Jungs mal irgendwann wieder!’ und dann geht ihr plötzlich an dieser Bar vorbei und ich denke mir ‚Fuck Mann! Das sind doch die beiden Jungs...“

Es ging noch eine ganze Weile so weiter, bis er schließlich dazu überging von Katie vorzuschwärmen und zu erzählen, was für gute Freunde die beiden waren. Katie kommentierte das ganze mit einem genervten Augenrollen. Auch wir waren uns nicht ganz sicher, ob wir uns über die Begegnung freuen sollten oder nicht. Ihn in einer 150.000 Einwohnerstadt erneut zu treffen war etwas zu unwahrscheinlich, als dass es nur ein reiner Zufall sein konnte. Es hatte also sicher irgendeinen Grund. Zumindest für Pedro war es das Highlight des Tages. Und auch Katie freute sich riesig darüber, einmal jemand anderen kennenzulernen, als ihren plappernden Trunkenbold.

„Also!“ sagte Pedro schließlich, „Lasst uns zum Rathaus gehen! Die Menschen da sind meine Freunde! Ich hab gestern geholfen, hier die ganze Straße zu schmücken und ich liebe die Leute da! Fuck Mann! Das sind echt gute Leute! Da ist heute ne Party und wenn ich sage, dass ihr meine Freunde seit, dann bekommt ihr was zu Essen und könnt mitfeiern und außerdem sind professionelle Künstler dabei und das sind echt gute Leute! Fuck Mann, die sind echt cool! Und dann könnt ihr da etwas essen und wenn ihr noch nen Schlafplatz braucht dann finde ich da auch noch was für euch! Ich kenn echt viele Leute in der Stadt! Die geben euch auf jeden Fall nen Platz! Fuck Mann, ich kanns gar nicht fassen, dass ihr hier seit! Plötzlich steht ihr einfach vor der Tür und ich denk mir ‚Fuck Mann! Das sind doch die Jungs’ und dann lauf ich raus und rufe ‚Fuck Mann! Ihr seit doch die Jungs!’ Unglaublich Mann! Ehrlich Mann, ich freu mich wirklich euch zu sehen! Kein Scherz, ehrlich Mann, Fuck!“

Im Rathaus saßen einige Leute in einem Stuhlkreis neben einem halbgegessenen Buffet aus Wein, Wasser, Limonade und kleinen Küchlein mit Fleischfüllung. Pedro pries uns in etwa der gleichen Art an, wie er uns auch selbst begrüßt hatte und wir setzten uns zu den anderen. Dabei kamen wir ins Gespräch mit zwei Sozialarbeiterinnen der Stadt. Die erste erzählte uns von dem Projekt mit den Häkeldeckchen, die man in die Straßen gehängt hatte. Es sah ein bisschen so aus, wie die Regenschirme in Agueda, nur dass es hier gehäkelte Decken und keine Schirme waren. Die Aktion war ein Projekt der Sozialpädagogikstudenten. Sie waren zu den alten Menschen in der Stadt gegangen, die keinerlei Aufgabe im Leben mehr hatten und ihren Alltag damit verbrachten, aus dem Fenster oder in den Fernseher zu starren oder von einer Bar zur nächsten zu hinken. Die Idee des Projektes war es, diesen alten Menschen wieder eine Aufgabe zu geben. Daher überredeten die Studenten sie dazu, die Deckchen zu häkeln, die dann in den Straßen vor den Türen der Alten aufgehängt wurden.

Das zweite Projekt verstanden wir zunächst überhaupt nicht. Um diesen Zustand zu verändern, wurden wir eingeladen, es uns aus der Nähe anzuschauen. Zu diesem Zweck verließen wir das Rathaus und standen dann zwanzig Minuten vor der Tür, weil sich niemand entscheiden konnte, was nun als nächstes passieren sollte.

Ein Feuerwehrauto stand vor dem Rathaus und wartete darauf, dass die Stadtangestellten die Leitern zurückbrachten, die sie zum Aufhängen der Häkeldecken verwendet hatten. Irgendwie schien das jedoch alle zu überfordern, denn zunächst passierte nichts und später wanderten wir mit den Leitern durch die ganze Innenstadt. Die Wartezeit nutzten wir um mit Katie ins Gespräch zu kommen. Sie hatte insgesamt einen Monat in Europa. Die erste Zeit war sie in Frankreich gewesen, später war sie dann nach Lissabon geflogen um von dort aus den Jakobsweg zu gehen. Ihre Eindrücke von Portugal deckten sich mit unseren fast zu 100%. Sie vermisste Natur, Stille, schöne Städte und gutes Essen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, eine Novelle auf ihrer Reise zu schreiben, doch dazu war sie bislang noch nicht gekommen. Es ging ihr also wie uns, die wir es auch nicht schafften, an unseren Artikeln über Sonnencreme, Energiesparlampen, etc. weiterzuarbeiten. In Kanada war es ihre Arbeit Bücher so umzuschreiben, dass sie für Kinder verständlich und gut nachvollziehbar wurden. Mit Hilfe dieser Bücher brachte sie den Kindern dann den Sprachfluss der Literatur bei und unterrichtete sie so im Sprechen, Lesen und Schreiben, dass sie ein Gefühl für Wortklang, Sprachfluss und Poetik bekamen.

Pedro verbrachte die Wartezeit damit, Sangria von einer Plastikflasche in eine andere zufüllen, wobei er die Hälfte über die Straße vergoss. Im Laufe des Abends schaffte er es dann, die andere Hälfte von der Flasche in seinen Hals zu schütten.

Der professionelle Künstler und die Sozialarbeiterin führten unseren lustigen Zug mit Leitern, Müllbeuteln und Weinflaschen durch die Innenstadt an. Schließlich erreichten wir ein heruntergekommenes Armenviertel, das zu großen Teilen bereits vor über 10 Jahren abgerissen wurde. Damals wurden die Menschen enteignet, weil man hier eine neue Straßenbahnlinie bauen wollte. Doch das Geld hatte nur für den Abriss und nicht für den Bau der Bahn gereicht und so lag das Land noch immer als Ruinenstädte da. Seither war das Viertel zu einem Treffpunkt für Obdachlose geworden und genau darauf bezog sich das Projekt unserer Sozialarbeiterin. Sie hatte es satt gehabt, dass man die Obdachlosen nur mit Essen und Decken versorgte, nicht aber mit einem Lebenssinn. Also hatte sie begonnen in den Ruinen ein Kunstprojekt für und mit den Obdachlosen aufzubauen. Ein Abgesperrtes Grundstück, das zu drei Seiten mit halb eingestürzten Mauern begrenzt wurde, war der Schauplatz des Projektes. Hier hatte sie begonnen einen kleinen Garten anzulegen und der Künstler hatte ein großes Mosaik an einer der Wände angebracht. Es war noch immer in Arbeit und überall lagen die Fliesenscherben herum. Sehr zum Leidwesen des kleinen Hundewelpen, der auf dem Projektgrundstück lebte und dessen Pfoten sich mit den scharfkantigen Fliesenscherben nicht anfreunden wollten. Das Material für die Mosaike hatten sie aus den umliegenden, toten Fabriken zusammengetragen, die ebenfalls Heimat für viele Obdachlose waren. „Es ist ein bisschen, als hätten sie eine Beziehung miteinander“, sagte die Pädagogin, „Die alten kaputten Fabriken und die ehemaligen Arbeiter, die nun arbeits- und obdachlos sind und noch immer darin leben.“ Viele der alten verlassenen Gebäude, die wir in Portugal gesehen hatten waren die Heimat von Obdachlosen. Die Pädagogin erzählte uns von einem Haus, dass sie einmal besucht hatte. Es hatte einst einer reichen Familie gehört, die jedoch irgendwann verarmt war. Sie hatten ihr Haus einfach so wie es war zurückgelassen und waren ausgewandert. Nun lebten obdachlose Jugendliche darin. Vieles von dem, was sie in den Häusern gefunden hatten, hatten sie mitgenommen und zu Geld gemacht, doch die Ölgemälde, ihrer Vorbewohner hingen noch immer an den Wänden. Wahrscheinlich hatten sie dessen Wert nicht erkannt oder es gefiel ihnen einfach, dass sie dort hingen. Als wir sie fragten, wie viele Obdachlose es in Portugal gäbe, antwortete sie: „Rund 5000 Stück! In Coimbra sind es um die 250!“ Ihre Mimik verriet, dass sie selbst wirklich glaubte, was sie da sagte, doch wir hatten allein auf unserem Weg mehr gesehen. 5000 Obdachlose waren für Coimbra mehr als vorsichtig geschätzt. Für Portugal war es einfach nur naiv.

Das Projekt kam in der Nachbarschaft sehr gut an und wurde mit vielen Sachspenden unterstützt. Die Obdachlosen selbst sahen es eher gemischt. Einige freuten sich riesig darüber, eine Aufgabe zu haben und ohne Stress und Druck etwas beitragen zu können. Andere sahen es eher als einen Ort zum Abhängen und Saufen an.

Auf uns machte das Projekt einen eher traurigen Eindruck. Es war genau das, was es symbolisierte. In einer vollkommen maroden Ruine versuchte man mit etwas Farbe und einigen Fliesenscherben wieder neues Leben ins Spiel zu bringen, ohne dabei aber zu erkennen, dass das ganze Haus komplett einsturzgefährdet war. Die Pädagogin erzählte uns, dass die Straßenbahnpläne noch immer aktuell waren. Es konnte also sein, dass die Mauer, mit dem Mosaik bereits im nächsten Jahr zu Gunsten der Bahnlinie komplett eingerissen wurde. Vielleicht auch erst in zwei oder drei Jahren. Vielleicht nie! Und doch blieb es eine Flickschusterei an einem maroden System. Es war die Arbeit von Pädagogen, die nicht einmal wussten, mit wie vielen Obdachlosen sie es überhaupt zu tun hatten. Es war der Versuch, ihnen ein Angebot zu machen, ohne zuvor gefragt zu haben, was sie überhaupt benötigten. Wir mussten an unsere eigene Zeit als Obdachlose in Nürnberg zurückdenken. Damals hatten wir einen Mann gefragt, der unter der Brücke am Kino wohnte, was es von den Sozialarbeitern hielt, die sich um ihn kümmerten. Er hatte gelacht und gemeint: „Das sind nette Leute! Sie tun mir oft Leid, weil sie dieses Helfersyndrom haben und immer das Gefühl brauchen, dass sie irgendetwas Gutes tun können. Ich hab nicht viel zu tun den ganzen Tag, also helfe ich ihnen gerne und geb ihnen das Gefühl, das sie brauchen!“

Ein bisschen ähnlich kam es uns hier auch vor. Es war ein großartiges Projekt, und die Frau, die es ins Leben gerufen hatte, hatte sich wirklich viele Gedanken darüber gemacht. Sie wollte wirklich etwas bewegen. Doch sie kämpfte gegen Windmühlen und wusste das auch.

Nachdem Pedro auch die zweite Flasche Wein geleert hatte, war es so Nerv tötend, dass wir es kaum mehr mit ihm aushielten. Es war schon eine lange Zeit her, seit wir direkten Kontakt zu sturzbetrunkenen Personen hatten und jetzt wussten wir auch wieder warum.

Wir verabschiedeten uns von ihm, der Pädagogin, dem Künstler und dem Hund und machten eine weitere Runde durch die Stadt. Pedros Versuch uns bei unserer Nahrungssuche zu unterstützen hatte vor allem dazu geführt, dass wir außer den kleinen Küchlein noch immer nichts gegessen hatten. Gemeinsam mit Katie fragten wir uns durch die Märkte und Cafés und konnten so eine Pizza und einige Brötchen auftreiben. Den Kuchen schenkten wir Katie. Vor unserem Hotel verabschiedeten wir uns von der Kanadierin und wünschten ihr viel Glück bei ihrer Mission, Pedro zu sagen, dass sie ab Morgen alleine weitergehen würde.

Spruch des Tages: Fuck Mann! Das ist ja unglaublich!

 

Höhenmeter: 150 m

Tagesetappe 25 km

Gesamtstrecke: 3653,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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