Tag 195: Heute ist der Wurm drin

von Franz Bujor
15.07.2014 23:03 Uhr

Wenn ein Tag bereits damit beginnt, dass man sich in der Nacht die Schulter so verdreht hat, dass man kaum aufstehen kann, dann ist das immer kein gutes Zeichen. Genau das ist Heiko heute passiert und es hätte uns eigentlich die erste Warnung sein sollen. Beim Einräumen der Wagen kam dann gleich die nächste Ohrfeige mit dem Zaunpfahl. Der Reifen, den wir gestern bereits zwei Mal geflickt hatten, war schon wieder platt. Fazit: Wir waren genervt, bevor wir auch nur gestartet sind.

Der restliche Tag verlief nicht viel besser. Unser Kartenmaterial war so schlecht wie nie zuvor und der einzige Weg aus der Stadt führte über die Bundesstraße. Die Hitze machte uns allmählich kirre. Es fühlte sich so an, als würde unser Gehirn zu einem gleichmäßigen Brei verkocht, der wahrscheinlich einen guten Brotaufstrich abgegeben hätte. Ich schreibe das jetzt so flapsig, aber heute Vormittag war uns gar nicht zum Lachen. Vor allem die vielen Platten machten uns sorgen. Unsere Schläuche bestanden bereits zu einem größeren Teil aus Flicken als aus ihrem ursprünglichen Material und auch das Flickzeug ging uns langsam zur Neige. Und dann mussten wir den selben Reifen gleich drei Mal an nur einem Tag reparieren. Das konnte doch nicht normal sein.

Auf dem Weg entlang der Schnellstraße reflektierten wir, ob vielleicht mehr dahinter stand. Wie jede Situation war auch diese ein Spiegel der Seele, also konnte man auch etwas daraus lernen. Heiko war aufgefallen, dass ich in letzter Zeit wieder unaufmerksamer geworden war und oftmals kleine, lästige Fehler machte, die eigentlich nicht sein mussten. Ich selbst hatte das auch schon gemerkt und wusste genau was er meinte, doch in diesem Moment hatte mein Ego nicht die geringste Lust darauf ein derartiges Feedback anzunehmen. Es maulte eine ganze Weile vor sich hin, bis es endlich nachgab und es meinem Entwicklungs-Ich die Chance einräumte, einen Blick nach innen zu werfen. Tatsächlich fiel mir auf, dass ich mich in letzter Zeit wieder irgendwie gestresst fühlte. Es gab so viele spannende Themen über die ich schreiben wollte und gleichzeitig mussten Mails an die Sponsoren geschrieben werden. Auch mit meiner Familie und meinen Freunden wollte ich gerne Kontakt halten und dazu kam noch die Problematik, hier irgendwie gutes Essen aufzutreiben. Alles kostete irgendwie eine Menge Zeit und die Tage vergingen, ohne dass ich es schaffte, meine To-Do’s abzuarbeiten. Ich hatte das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wuchs und dass, obwohl mich niemand zu irgendetwas drängte und Zeit eigentlich das geringste Problem sein musste.

„Ich glaube, du bist noch immer bei dem guten alten Problem der Strukturiertheit!“ sagte Heiko, „Du setzt dir keine Prioritäten, sondern willst alles gleichzeitig machen. Du nimmst die viel zu viel vor, und dann verzettelst du dich in Details und bist frustriert wenn du nicht vorankommst. Dazu kommt, dass du dir auch immer wieder Zeit stehlen lässt. Versuche einmal mehr den überblick zu behalten, wo du Zeit für dinge investierst, die dir gerade etwas bringen und wo du sie einfach verplemperst. Ich glaube, du durchläufst im Moment immer wieder die gleiche Gefühlskette, die du durchbrechen musst, damit du weiter kommst. Du fühlst dich innerlich gestresst, weil du alles auf einmal erledigen willst. Dann kommt eine schwierige Situation und weil du nicht offen und entspannt bist, rennst du einfach hinein. Du schaffst es nicht, sie mit Abstand und mit Ruhe zu betrachten und erst einmal wahrzunehmen, was es überhaupt für Möglichkeiten gibt. Dadurch verrennst du dich dann in eine Richtung und machst dabei lauter unnötige Fehler, die dir noch mehr Zeit kosten und die du nicht gemacht hättest, wenn du dich entspannt hättest. Dadurch wirst du noch hektischer und vor allem noch unaufmerksamer und das Gefühl des Zeitdrucks wird immer stärker. Du wirst schließlich wütend auf die Situation und auf dich selbst und machst dadurch alles noch schlimmer. So kommst du immer tiefer in die Spirale, bis du schließlich resignierst. Dann lässt du los, bist traurig oder deprimiert und dann siehst du eine Lösung, die du gleich am Anfang hättest auch schon sehen können. Und dann ärgerst du dich noch mehr über die vergeudete Zeit, die du versuchst wieder einzuholen, in dem du noch mehr gleichzeitig machen willst. Dann beginnt alles wieder von vorne.“

Es dauerte eine Weile, bis mein eingeschnapptes Ego wieder Ruhe gab und ich erkennen konnte, dass ich diese Gefühlskette wirklich sehr gut kannte.

Auf dem weiteren Weg kamen wir an eine Abzweigung. Links war die Nationalstraße und rechts ein Fernwanderweg, der eine kleine Seitenstraße hineinführte. Wir rätselten eine Weile, welchen Weg wir nehmen sollten, entschieden uns dann aber schließlich doch für die Nationalstraße. Das Problem bei dem anderen Weg war, dass wir nicht wussten, ob er irgendwann wieder zu einem kakteenverseuchten Trampelpfad wurde, den wir kaum überwinden konnten.

Doch die Entscheidung rächte sich schon bald. Die Nationalstraße führte einen steilen Berg hinauf, dann wieder hinunter und dann einen noch größeren wieder hinauf. Oben waren wir vollkommen erschossen und hechelten wie Windhunde nach einem Rennen. Auf der Spitze des Berges lag Abrantes, die Stadt, die wir uns als Ziel herausgesucht hatten und die uns den Tag endgültig vermiesen sollte. Heiko hatte sich bei dem steilen Aufstieg den Rücken verdreht und wahrscheinlich einen Nerv eingeklemmt. Er konnte sich kaum noch bewegen, so stark tat ihm der Rücken weh.

Mir hingegen sollte diese Stadt noch einmal genau die Gefühlskette spiegeln, die Heiko mir zuvor aufgezeigt hatte.

Es war kurz nach 13:00 Uhr und damit standen die Chancen gut, dass ich heute einiges von meiner To-Do-Liste abarbeiten konnte. Ich ging also bereits mit dem Gedanken in die Stadt, was ich heute alles erledigen wollte, wenn ich nur schnell einen Schlafplatz fand. Doch ab genau diesem Moment ging alles schief, was nur schiefgehen konnte. Die Stadt war absolut tot! Das große 3-Sterne-Hotel auf dem Gipfel des Berges hatte bereits seit langer Zeit geschlossen und in der einzigen Pension, die es hier noch zu geben schien, waren angeblich alle Zimmer ausgebucht. Die Rezeptionistin war mir erst sehr freundlich begegnet, während die Chefin kurz darauf nur laut herumfluchte und irgendetwas erzählte, das ich nicht verstand. Dann verließ sie das Hotel. Die Angestellte, erzählte daraufhin irgendetwas von einem Künstlerfest in der Stadt, welches der Grund dafür war, dass hier zur Zeit die Hölle los war. Das Hotel selbst wirkte jedoch ausgestorben und auch der Rest der Stadt machte nicht den Anschein, als wäre hier besonders viel los. Als einzige Alternative nannte sie mir eine Jugendherberge, die sich unterhalb der Hauptstraße befinden sollte. Dies war der Zeitpunkt an dem ich mich blindlinks verrannte, anstatt zu überlegen und die Optionen durchzugehen. Ich lief in Richtung Herberge, stellte fest, dass es zu weit war und lief wieder zurück um Heiko Bericht zu erstatten. Ein Parkarbeiter der an unserem Treffpunkt herumstand erzählte mir, dass es in der Innenstadt noch weitere kleine Hotels gab. Die Feuerwehrstation befand sich hingegen auf der anderen Seite der Stadt, am Fuß des Berges. Wir entschieden uns daher, auf die Hotels zu vertrauen und nicht noch bis zur Feuerwehr zu laufen. Hätten wir gewusst, dass die Frau aus dem Hotel Recht gehabt hätte und hier wirklich alles ausgebucht war, dann hätten wir uns natürlich anders entschieden. So aber gingen wir weiter in Richtung Zentrum um dort unser Glück zu versuchen. Auf dem Weg dorthin platzte nun Heikos rechter Reifen. Das war nun also der vierte Plattfuß in zwei Tagen. Es war zum Wände hochlaufen. Während Heiko seinen Reifen flickte lief ich in der Stadt umher und holte mir eine Absage nach der nächsten ab. Dabei vergaß ich vollkommen, dass wir ja nicht nur einen Schlafplatz, sondern auch etwas zu Essen und außerdem neues Flickzeig brauchten. Ich achtete jedoch weder auf Restaurants noch auf Supermärkte oder Fahrradläden. Da war sie die blinde Verbissenheit, die mich immer tiefer in meinen Strudel brachte. Ich ärgerte mich darüber, dass hier nichts vorranging, ärgerte mich über die Menschen und über das verdammte Portugal, dass so vollkommen ausgestorben und verlassen war und trotzdem keinen Platz für uns hatte. Als ich zu Heiko zurückkehrte, war ich genervt und frustriert. Ihm ging es jedoch keinen Deut besser, denn beim Reifen-Reparieren hatte er sich den Rücken noch einmal verdreht und nun konnte er sich wirklich nicht mehr bewegen. Er war genauso genervt wie ich und dementsprechend düster war die Gesamtstimmung. Dazu kam, dass uns allmählich die Optionen ausgingen. In der Stadt hatten wir alles Abgeklappert, was ging und die nächste große Stadt lag mehr als 20 Kilometer entfernt. Die letzte Option war die Jugendherberge, doch auch die war voll. Deprimiert trotteten wir aus der Stadt. Inzwischen war es bereits kurz vor 18:00 Uhr. Der ganze Nachmittag war also verloren und wir hatten weder etwas zu essen, noch einen Schlafplatz noch Ersatzreifen und neue Sonnencreme hatten wir auch nicht. Das Zeug war ohne jede Frage schädlich, doch ohne die Creme bei der Hitze herumzulaufen würde dazu führen, dass uns die Haut abfiel. Dennoch verließen wir die Stadt und überquerten den Rio Tejo. Auf der anderen Seite gab es ein kleines Dorf mit zwei weiteren Hotels. Das Erste war angeblich ebenfalls vollkommen ausgebucht. Der Hotelbesitzer meinte sogar, dass ich es beim zweiten nicht einmal mehr versuchen solle, weil das eh keinen Zweck habe. Ich war so verzweifelt und sauer auf die Situation, dass ich sogar den Tränen nahe war.

Als ich die zweite Pension fand, war ich bereits in der Resignationsphase. Niedergeschlagen stützte ich mich auf den Tresen und wartete, bis der Hotelbesitzer kam. Als er endlich auftauchte, war ich so konfus, dass ich zunächst einmal komplett wirres Zeug redete und es mir damit um ein Haar verbockt hätte. Doch ich merkte es zum Glück schnell genug, bevor ich mich um Kopf und Kragen redete. Und ich hatte Glück! Der Mann sagte zu. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Der Hotelchef führte mich herum und zeigte mir unser Zimmer und das Badezimmer. Wie viele andere Portugiesen hatte er im Englischen ein Problem mit dem „th“. Deutsche können es oft auch nicht aussprechen und bei uns klingt es immer wie ein „ss“. Bei den Portugiesen klingt es jedoch wie ein „d“, was jedes Mal zu lustigen Verwirrungen führt, wenn man ein Zimmer mit den Worten „Here is the bedroom!“ präsentiert wird, und dann nur ein Klo und eine Dusche sieht.

Als ich Heiko die gute Nachricht überbrachte, konnte er kaum aufstehen, so sehr schmerzte sein Rücken.

Der Rundgang durch die Stadt wirkte ein bisschen wie in dem Film Day after Tomorrow. Nur natürlich viel wärmer. Es ist wirklich der Wahnsinn, wie tot dieses Land ist. Im ganzen Ort gelang es uns nicht, auch nur ein einziges Restaurant zu finden. Nur einige Cafés. Die Restaurants, die es gab und die nicht völlig geschlossen hatten, hatten zumindest ihren Küchenbetrieb dicht gemacht und verkauften nun nur noch Getränke. Wir mussten uns also mit ein paar Brötchen und einer Tüte Obst zufrieden geben. Sonnencrem und Fahrradflicken bekamen wir keine. Hoffentlich ändert sich das Morgen noch. Jetzt jedenfalls werden wir uns nach dem Tag ordentlich entspannen und Heikos Rücken wieder einrichten.

Spruch des Tages: Manchmal ist einfach der Wurm drin

Höhenmeter: 250 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 3851,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare